Читать книгу Die andere Leichtigkeit des Seins - Ernst Peter Fischer - Страница 6
ОглавлениеEin Prolog
Ich weiß, früher oder später erfindet jeder Mensch die Geschichte, die er für sein Leben hält. Ein schöner Gedanke, der sich ausprobieren lässt.
Ein Vorsatz
Ich erzähle gern, und in diesem Buch vor allem aus meinem Leben. Es begann 1947, im selben Jahr, in dem der Transistor erfunden wurde. Jeder Versuch, die Gegenwart im frühen 21. Jahrhundert und den Weg zu ihr darzustellen, muss in meinen Augen scheitern und als irrelevant gelten, der nicht wenigstens zweimal auf Transistoren eingeht. Ein erstes Mal, um zu erläutern, warum sich Menschen überhaupt um elektronische Bauteile dieser Art bemüht haben. Ein zweites Mal, um die immense Zahl der Transistoren bewusst zu machen, die heute zu Trillionen produziert werden. Sie tun ihren Dienst in Milliarden Geräten, auf die viele Menschen nicht mehr verzichten wollen und einige nicht mehr verzichten können.
Unsere erlebte Gegenwart steckt nicht nur auf diese transistorische, sondern noch auf vielfältige andere Weise voller Konsequenzen aus Erkenntnissen über die Natur, die wir den dazugehörigen Wissenschaften – etwa der Chemie und der Physik – verdanken. Es wundert mich immer wieder, wie gerne und großzügig Geschichtsbücher und soziologische und politische Analysen über diesen Tatbestand hinwegsehen, obwohl er den Geisteswissenschaften gar nicht verborgen geblieben ist.
In meinem Geburtsjahr hat zum Beispiel Ernst Robert Curtius sein Buch über „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ mit dem Hinweis begonnen, dass das Voranschreiten der Naturforschung in jüngster Zeit massiv „die Formen des Daseins verändert“ hat. Das dabei gewonnene Wissen eröffnet den Menschen „neue Möglichkeiten, deren Tragweite nicht zu ermessen ist“, wie Curtius weiter ausführt und wie es unverändert in der 11. Auflage aus dem Jahre 1993 zu lesen ist, ohne dass Historiker darauf angemessen reagiert hätten. Sie haben zwar fleißig politische und militärische Entwicklungen verfolgt, sich bislang aber nicht oder nur sehr zögerlich die Mühe gemacht, den Einfluss der Wissenschaften und ihrer fortschreitenden Erkenntnisse auf das Werden des Gegenwärtigen darzustellen.
Dadurch verhindern sie die Verbreitung der Einsicht, die Bildungsministerin Annette Schavan im September 2011 im Berliner Wissenschaftsforum ausgesprochen hat, als sie sagte, „Nichts verändert die Gesellschaft so sehr wie die Erkenntnisse von Wissenschaften und Forschung“. Frau Schavan fügte noch hinzu, dass sich dies zu ihrem Bedauern nicht gerade herumgesprochen und beispielsweise kaum Einfluss auf das Angebot hat, das uns in den Hauptnachrichten des Fernsehens zugemutet wird.
Hier steckt offensichtlich eine wunderbare Aufgabe für Historiker, wenn sie verstehen und erläutern wollen, wie sich „unsere heutigen Lebensweisen durchgesetzt haben“, so heißt es bei Michel Serres, der im letzten Jahrhundert wenigstens erste „Elemente einer Geschichte der Wissenschaften“ vorgelegt hat. Der französische Philosoph zeigt sich in seinem Buch – wie auch der Autor dieser Zeilen – davon überzeugt, dass das genannte Ziel ohne eine Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Entwicklung und den dabei entstehenden Techniken nicht gelingen kann. Der eingangs vorgestellte Transistor ist ein zentrales Beispiel hierfür. Natürlich lässt sich die hiermit gestellte Aufgabe keinesfalls nebenbei lösen, aber bekanntlich beginnt selbst die längste und komplizierteste Reise mit einem ersten Schritt, und um den soll es hier gehen.
In diesem autobiografischen Buch wird das eigene Leben unter diesem Aspekt betrachtet und von seinen Wendungen erzählt. Es ist ein persönlich gefärbter Blick auf die Rolle der Wissenschaft in unserem gegenwärtigen Alltag.
Ich möchte aus meinem Leben und von den es begleitenden Wissenschaften erzählen. Beides mache ich nämlich leidenschaftlich gerne.