Читать книгу Die andere Leichtigkeit des Seins - Ernst Peter Fischer - Страница 7
ОглавлениеDas Geschenk eines zweiten Lebens
„Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren“, heißt es in einem schönen Lied aus den 1920er Jahren, das ich seit kurzem anders singen darf und möchte, auch wenn es anatomisch nicht ganz korrekt ist. Mein Text lautet, „Ich hab’ mein Herz in Heidelberg bekommen“, aber nicht in einer sanften Sommernacht, sondern in einer kühlen Klinik, in die mich ein Notarztwagen gebracht hatte, nachdem sich an einem schönen Morgen im September 2011 meine Hauptschlagader als gründlich gerissen präsentierte und niemand mehr mit meinem Weiter- oder Überleben rechnete. Den traditionellen Wahrscheinlichkeitsvermutungen zum Trotz gelang es einem Operationsteam der Heidelberger Herzklinik in sicher mühevollen acht Stunden, meine Aorta und mehr zu ersetzen und mir so im Alter von fast 65 Jahren ein zweites Leben zu schenken, an dessen Beginn ich jetzt stehe und diese Worte schreibe. Mein neues Dasein bereitet mir auch Monate nach dem rettenden Eingriff noch seine liebe Mühe, es fordert zähe Geduld und verlangt ziemliche Disziplin und eine Menge Rücksicht auf viele körperliche Kleinigkeiten. Aber die damit verbundenen Einschränkungen verblassen rasch und locker neben der Chance, die ich tatsächlich durch eine mutige und geistesgegenwärtige Chirurgin, ihr wunderbar eingespieltes Team und äußerst hilfreiche Menschen auf der Intensivstation bekommen habe. Oftmals wundere ich mich voller Dankbarkeit in stillen Stunden über mein Glück und mir scheint manchmal, dass ich bis heute noch nicht fassen kann, was da mit mir passiert ist.
„Aller Anfang ist schwer“, wie ich in meinem ersten Leben auf der Schule lesen und lernen konnte, als es im Deutschunterricht auf dem Gymnasium um Goethes „Hermann und Dorothea“ ging, und diese Erfahrung bestimmt meinen neuen Alltag durchgehend. Es wird noch viele Anstrengungen kosten, wieder in das normale Leben zurück zu finden, das mir gut gefallen hat, bis die Aorta es nicht mehr aushielt. Ich werde lernen müssen, was es dem Wort nach heißt, ein Patient zu sein, nämlich Geduld zu zeigen. Trotz dieser Bedingung darf sich ein Mensch Ziele setzen und ich habe mir vorgenommen, eines von ihnen mit meinem 65. Geburtstag zu verknüpfen, wobei dieses Alter in meinem ersten Leben den klassischen Zeitpunkt des Renteneintritts markierte.
Während viele Menschen mit 65 Jahren aufhören und ihr Arbeiten einstellen, möchte ich in diesem Alter angemessen wieder damit anfangen, etwas zu tun und weiter zu schreiben, um das mir großzügig geschenkte zweite Leben mit seinen Möglichkeiten und Chancen zu nutzen. Darauf gilt es, sich vorzubereiten:
Ein Weg dazu scheint mir das Nachdenken über das erste Leben zu sein, das mir bislang gegönnt war. Ich möchte es auf den folgenden Seiten beschreiben, weil ich es zum einen gerne geführt habe und weil es zum zweiten dabei um eine Epoche geht, die in meinem Verständnis der Dinge ihre eigenwilligen und lohnenden Besonderheiten aufweist und mit ihnen etwas über die Bedeutung von Wissenschaft zu erkennen gibt.
Die Nachkriegswelt voller Wissenschaft
Es geht – zeitlich grob gesprochen – um die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, die politisch und historisch zwar vielfach dokumentiert worden sind – etwa in Hinblick auf die deutsche Teilung und ihre Überwindung oder mit der Betonung auf Bemühungen um eine europäische Einheit und ihrer dazugehörigen Währung. Allerdings konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die amtlichen Historiker fundamentale Strömungen in der Sphäre des Geistigen übersehen haben.
Sein und Bewusstsein
Die Debatte um die Frage, ob sich Überzeugungen und Erkenntnisse auf ökonomische Ergebnisse und das alltägliche Dasein auswirken, geht mindestens bis auf Karl Marx zurück, der sich in einer berühmten Formulierung – „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ – gegen einen derartigen Einfluss aussprach. John Maynard Keynes hingegen fand in seinen Schriften, dass Ideen sehr wohl in der Lage sind, ökonomische Entwicklungen und damit das Sein zu beeinflussen. Einem Historiker der Wissenschaft kommt kaum ein anderer Gedanke.
Gemeint ist der stetig zunehmende Einfluss wissenschaftlich-technischer Entwicklungen auf das Leben der Menschen und die Aufgaben von Staaten. Inzwischen werden sie etwa unter den Stichworten Gentechnik, Atomkraft und Internet leidenschaftlich diskutiert und unterschiedlich akzeptiert. Niemand kann sich jedoch mehr den dazugehörigen Realitäten im Alltag entziehen.
Ein Tag im Leben
Wer sich verdeutlichen will, wie sehr sein Leben mit wissenschaftlich-technischen Entwicklungen geführt wird, braucht nur seinen Tagesablauf anzuschauen, der vielleicht mit einem Radiowecker beginnt, der zum Frühstück Kaffee aus einer Vakuumverpackung brüht und dazu pasteurisierte Milch aus dem Kühlschrank holt, der dabei schon telefoniert, seinen Laptop einschaltet, der bald mit dem Auto aus der mit Fernbedienung geöffneten Garage ins Büro fährt, zwischendurch sicher einige Medikamente einnimmt oder den Blutdruck misst und so weiter macht, bis es endlich beim abendlichen Fernsehen – in Farbe und mit einer Direktschaltung nach Washington – oder vor der Stereoanlage mit einer CD bei einem Mozart Klavierkonzert etwas ruhiger wird, bis das Telefon klingelt und die Kinder aus den USA anrufen, wo sie gerade mit dem Flugzeug gelandet sind.
Ich bin der Ansicht, dass Menschen meiner Generation in ihrem täglichen Treiben inzwischen mehr von wissenschaftlich-technischen Entwicklungen – zum Beispiel von mobilen Telefonen, Computern und Überwachungskameras – als von politisch-sozialen Reformen beeinflusst werden. In einer umfassenden Geschichte unserer Kultur muss nicht nur erwähnt werden, wie unglaublich rasch etwa die Zahl der Transistoren und Chips in der von uns erlebten und überschaubaren Zeit zugenommen hat –
Kleine Anfänge, große Mengen
Unser heutiges Leben ist ohne die Konstruktion undenkbar, die als Transistor bereits erwähnt ist (und weiter unten im Text genauer vorgestellt wird). Der erste Transistor konnte 1947 gebaut werden, und heute stellen elektronische Unternehmen Millionen von ihnen pro Minute her, so dass derzeit insgesamt 1020 Transistoren auf der Welt ihren Dienst tun, und zwar in 1012 Chips, wobei diese gigantische Zahl wenigstens einen bekannten Namen hat. 1012 meint nämlich eine Billion, und auf den Billionen Chips sind jeweils 100 Millionen Transitoren im Einsatz, um die elektronischen Geräte funktionieren zu lassen, die wir alle so lieben. Ein Geschichtsbuch, das den Transistor und seine Verbreitung nicht erwähnt, kann die Gegenwart, die wir erleben, ebenso wenig verständlich machen wie ein historischer Text, der das wissenschaftliche Treiben nicht erwähnt, das zum Beispiel einen Transistor hervorbringt.
–, sondern die gelehrten Autoren, die beschreiben wollen, „wie es eigentlich gewesen“ ist, auch aufzeigen sollten, was Menschen dazu bringt, sich so intensiv um solche Fortschritte zu bemühen. Sie tragen in meinen Augen mehr und intensiver zu der Geschichte des Westens bei, als die Historiker meinen.
Mit diesem Buch möchte ich den Versuch unternehmen, dem Einfluss der Wissenschaft und der Forscher, die sie praktizieren, auf die in unserem Kulturkreis erlebte Gegenwart mehr Aufmerksamkeit als bisher zukommen zu lassen. Dies soll in dem bescheidenen Rahmen der eigenen Biographie geschehen, in der an vielen kleinen Stellen zu spüren war, was in der großen Welt der Wissenschaft passierte. Mir hat dies meistens gefallen, und ich habe stets davon voller Begeisterung im Kreis von Freunden erzählt. In diesem Buch möchte ich eigentlich nichts anders tun, nur dass es ab und zu ganz privat wird – auch am Anfang.