Читать книгу Die andere Leichtigkeit des Seins - Ernst Peter Fischer - Страница 9
Das erste Jahrzehnt (1947–1956)
ОглавлениеNachkriegszeit
Aus meinem Leben
In meiner konkreten ersten Erinnerung unternehme ich einen Wettlauf mit meiner Mutter. Sie lacht dabei fröhlich und ermutigt mich, wie so oft. Es ist Sonntag, es geht bergauf, und wir spurten gemeinsam mit meinem älteren Bruder durch einen Wald, um zu dem Parkplatz zu kommen, an dem unser Auto – ein beigefarbener Zweitakter der Marke Goliath – steht. Zu meiner Überraschung habe ich bei dem Rennen keine Chance. Meine Mutter kommt vor mir an dem Wagen an, in dem mein Vater auf uns wartet. Er ist stark behindert und ständig auf Unterstützung angewiesen. Wir müssen ihm zu dritt helfen, wenn er das Auto verlassen will, um ein wenig spazieren zu gehen. Leider richten an diesem Tag – wie so oft – viele Gaffer ihren Blick auf ihn und seine Mühen. Mein Vater will aber nicht angestarrt werden. Er verliert die Lust und will nur noch abfahren. Dabei wollte ich ihm doch zeigen, wie schnell ich inzwischen laufen konnte.
Meine zweite Einzelerinnerung lässt sich zeitlich genauer festlegen. Es ist wieder ein Sonntag. Meine Mutter geht mit ihren beiden Söhnen durch merkwürdig leere Straßen. Es ist still, aber es bleibt nicht lange so. Plötzlich vernehmen wir von überall her Lärm und Jubel, wenn auch nur kurz. Die Menschen feiern fröhlich einen Sieg. Deutschland ist Fußballweltmeister geworden. „Wir haben 3:2 gegen die Ungarn gewonnen“, wie mein Vater uns zuruft, ohne ganz zufrieden zu sein. Er streitet sich bei aller Begeisterung mit einem Onkel um einen Spieler, der nicht dabei war. Es geht um Bernie Klodt vom FC Schalke 04. Er musste Helmut Rahn weichen, dem Torschützen des Siegtores. Dieser Erfolg lässt zwar jede Diskussion überflüssig erscheinen, doch mein Vater will sich nicht damit abfinden. Er liebt doch den FC Schalke 04, und außerdem konnte Klodt besser mit dem Ball am Fuß dribbeln, wie mein Vater meinte und ausdrückte und so den Kinderohren ein schönes Wort schenkte.
Mein Vater
Mit dem Tag des Triumphes im (jetzt leider abgerissenen) Berner Wankdorf-Stadion rückte der Fußball für lange Zeit in den Mittelpunkt meines Lebens, wobei es besser heißen sollte, dass mein Vater den Fußball dorthin rückte. Er gehörte zwar selbst nie einer Mannschaft an, überlebte aber mit dem Geld, das er schwierig genug auf Sportplätzen mit einem Bauchladen voller Zigaretten und Zigarren verdiente. Mit seinen Waren kämpfte er sich durch die Reihen der Zuschauer, die oft erregt und vielfach fluchend den Verlauf von Fußballspielen verfolgten. In dieser bei aller Anspannung meist stimmungsvollen Umgebung fühlte sich mein Vater trotz seiner körperlichen Einschränkungen und Mühen zu Hause, und hierher wollte er seine Söhne mitnehmen.
Freiwillig gewählt hatte er diese als „selbstständig“ titulierte Arbeit und diesen Weg über die Straßen und Plätze nicht. Mein Vater – er hieß Alfred und gehörte zum Jahrgang 1903 – hatte ursprünglich Schriftsetzer gelernt, dann aber bei einem Eisenbahnunfall den rechten – seinen starken – Arm verloren. Er war noch keine 30 Jahre alt, als er mit nur einer Hand und leeren Händen dastand, denn das soziale Netz, in das mein Vater hätte fallen können, war damals noch nicht geknüpft. Betteln wollte er nicht, und so blieb ihm nicht viel anderes übrig, als sich einen Bauchladen umzuschnallen.
Ein Junge aus Barmen
Die Stadt, in der sich dies abspielte und in der auch ich geboren worden bin, heißt in den Büchern und auf den Landkarten Wuppertal. Auf die Frage, wo er wohne, hätte mein Vater aber mit „Barmen“ geantwortet, wenn er nicht noch genauer den Stadtteil „Wichlinghausen“ genannt hätte, in dem wir zu Hause waren. Mit der Auskunft „Barmen“ bekannte er sich zu dem bis 1929 selbstständigen östlichen Teil der Stadt und distanzierte sich zugleich von dessen westlichem Gegenstück, Elberfeld.
In dem Weltbild meines durch und durch sozialdemokratisch eingestellten Vaters blieb die Trennung zwischen dem näher am protestantischen Westfalen liegenden Barmen (mit seinen zahlreichen Armen) und dem direkter zum katholischen Rheinland sich hinziehenden Elberfeld (mit seinem vielen Geld) bestehen, auch wenn eine Verwaltungsreform dies ignorierte, und es kostete stets große Mühe, ihn zu einem Ausflug etwa in den Zoo zu überreden, der ganz weit im Westen von Wuppertal lag (und liegt).
Vielleicht erinnern sich einige noch daran: Wuppertal war einmal mit einer Fußballmannschaft in der Bundesliga vertreten, aber dieser Wuppertaler SV spielte in Elberfeld. Das interessierte meinen Vater überhaupt nicht – und mich dann auch kaum. Wir liefen lieber auf den Sportplätzen in Barmen herum – am liebsten auf dem Mallack, wo der lokale Lieblingsverein meines Vaters, „Schwarz Weiß“, spielte. Hier meldete er bald auch seine Söhne an, damit sie das Kicken lernen konnten – mit anfänglich umjubeltem, dann aber immer mehr nachlassendem Erfolg und zuletzt ganz ohne ihn.
Als ich noch siegreich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre voller Stolz das Trikot seines Clubs trug, war mein Vater zu einem richtigen Kaufmann aufgestiegen. Er verdiente seinen und unseren Lebensunterhalt mit einem Kiosk, den er sich noch als Junggeselle aus seinen Bauchladengeschäften abgespart hatte. Dieser Schritt war ihm gerade rechtzeitig gelungen, bevor ihn weiteres Unheil traf, und erneut ziemlich schlimm. Eines Tages stürzte er von einer Leiter und kam dabei so unglücklich auf einem Betonboden auf, dass beide Kniescheiben zerschmettert wurden. Ich kenne meinen Vater nur in diesem Zustand – als einen Mann mit zwei steifen Beinen und ohne rechten Arm.
Wer die endlose Mühe verstehen will, die solch ein Leben mit sich bringt, braucht sich nur die Frage zu stellen, wie man mit diesen Behinderungen zum Beispiel zur Toilette geht, wie man sich anzieht, wie man in ein Auto steigt oder wieder herauskommt. Meine Kindertage bestanden zu einem großen Teil darin, meinem Vater bei alltäglichen Verrichtungen aller Art zu helfen, die den meisten Mitmenschen keine Mühe machen und an die sie keinen Gedanken verschwenden. Zusätzlich musste jemand wie ich all die anderen Aufgaben im Haushalt übernehmen – etwa die Kohlen oder die Badewanne aus dem Keller holen –, die damals im Allgemeinen Vätern vorbehalten waren.
Dreimal Glück
Neben dem vielen Pech hatte mein Vater aber auch Glück, und zwar dreimal. Für sein erstes Glück war die Stadt Wuppertal verantwortlich, die eine Bushaltestelle genau dorthin – an den Wichlinghauser Markt in Barmen – verlegte, wo sich der Kiosk meines Vaters befand, in dem es auch Zeitungen zu kaufen gab. Jetzt ging das Geschäft zwar schon in aller Frühe los, aber es gab dadurch regelmäßig Umsatz, und das zählte.
Für das zweite Glück sorgte die Lottogesellschaft, die nach Läden suchte, denen sie die Annahme von Lottoscheinen anvertrauen konnte, und sie wählte den meines Vaters. Jetzt lief das Geschäft nicht nur morgens gut, wenn die Menschen mit dem Bus zur Arbeit fuhren, jetzt lief das Geschäft den ganzen Freitag gut, wenn „Annahmeschluss“ war, wie das Zauberwort lautete, das die Kunden mit ihren Scheinen scharenweise herbeiführte. Es gab so viel zu tun, dass mein Vater die Arbeit nicht mehr allein meistern konnte. Er hatte längst einige Angestellte, die ihm zur Hand gingen. Vor allen Dingen hatte er aber meine Mutter.
Mit ihr hatte er sein drittes und größtes Glück gefunden, wobei ich mir nicht so recht vorstellen kann (und nie gefragt habe), wie die Verbindung begonnen hat. Mein Vater liebte meine Mutter, keine Frage, und er nannte sie zärtlich „mein Goldfasänchen“, aber er erzählte immer nur von Fußballspielen und Männerabenden, und der erste Merksatz, den er seinen Söhnen eintrichterte, lautete: „Mensch sei helle, bleib Junggeselle.“
Meine Mutter
Mein Vater war über 40 Jahre alt, als er meine Mutter heiratete. Sie hieß Else und war 1916 in Barmen geboren worden. Der Ernst in meinem Namen kommt von ihrem Vater her. Er hieß Ernst Lang, konnte – leider als letzter der Familie – gut singen und gehörte einem Männergesangsverein an, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in einer für ihn schwierigen Zeit eine Reise nach Berlin unternommen hatte. Ernst Lang war nämlich gerade Witwer geworden, und er musste sich dringend Gedanken machen, wie seine vier Töchter zu versorgen waren, die alle noch in seinem kleinen Häuschen lebten.
Das Problem wurde durch ein junges Mädchen aus Polen mit Namen Rosalie Jamrosche gelöst, die meine Großmutter geworden ist und deren Geburtstag im Dreikaiserjahr ich früh gelernt und immer behalten habe – den 28.8.1888. Das war keine zwei Wochen nach dem Tod von Kaiser Friederich, wie mir später im Geschichtsunterricht beigebracht wurde.
In dem polnischen Dorf, in dem meine Großmutter zur Welt gekommen ist, gab es nicht viel zu tun. Viele Einwohner gingen nach Berlin oder wurden in die große Stadt verfrachtet oder geschickt, um es freundlich auszudrücken. Zu ihnen gehörten auch Rosalie und ihre Schwestern, von denen eine gleich schwanger wurde, was eine nette Nebengeschichte für das nächste Kapitel ergibt. Meine Großmutter hielt sich bei Männern bedeckt und landete in dem, was sie ein „herrschaftliches Haus“ nannte. Hier putzte und kochte sie, bis der Männerchor aus Barmen kam und Ernst Lang sich singend in sie verliebte. Er nahm sie mit in seine Heimat, und sie schenkte ihm hier zwei weitere Kinder, einen Sohn und eine Tochter, meine Mutter.
Meine Großmutter ging mit den insgesamt sechs Kindern so um, wie man mit ihr umgegangen war, das heißt, sie schickte sie zur Arbeit, sobald das möglich wurde, und so landete meine Mutter im Vorzimmer eines Rechtsanwaltes und bediente dort eine Schreibmaschine. Sie tat dies offenbar so geschickt, dass der Jurist sie zu Hause besuchte, um ihren Eltern zu empfehlen, die begabte Tochter auf die höhere Schule zu schicken. Doch meine Großmutter musste mit Bedauern ablehnen – dazu reiche einfach das Einkommen nicht, das Schulgeld sei zu hoch und unerschwinglich. Meine Mutter hätte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre bei ihren Kindern ähnlich antworten müssen, wenn sich bis dahin nichts an dieser Zahlungsverpflichtung geändert und das Gymnasium nur nach Nehmen dieser Hürde offen gestanden hätte.
Doch so leicht meiner Mutter der Beruf fiel, so schwer tat sie sich bei der Suche nach einem Mann, was unter anderem mit ihrer – mir offenbar direkt vererbten – Abneigung gegenüber Uniformen zu tun hatte. Als sie ein Teenager war – in den Jahren der nationalsozialistischen Regierung –, schienen alle Männer nur militärisch verkleidet durch die Gegend zu laufen. Meine Mutter fand das nicht schick, sondern albern, und so dauerte es etwas, bis jemand in Zivil auf sie aufmerksam wurde und das Fräulein Else Lang erst umwarb und dann heiratete. Sie hatte schon ein wenig Angst bekommen, als Mauerblümchen zu vertrocknen.
Auf der Schule
Den ersten ihrer beiden Söhne – meinen Bruder – nannten meine Eltern Alfred. Er war dreizehn Monate älter als ich und kam ein Jahr vor mir auf die Volksschule, die in der Liegnitzer Straße in Barmen lag. Es war kein vornehmes Viertel. Wer hier lebte, dachte mehr an Brotverdienen als an Bildung. So gab es viele unruhige und unaufmerksame Schülerinnen und Schüler, und die Lehrerinnen und Lehrer waren eher mit disziplinarischen Übungen als mit Lernstoff beschäftigt. Mich regte das viele Strammstehen mit dem dauernden Abzählen auf, weshalb ich häufig in Raufereien verwickelt war, mit der Folge, dass mir täglich Backpfeifen verabreicht wurden.
Was mich unter anderem ärgerte, waren die eintönigen religiösen Unterweisungen, die jeden Morgen abgehalten wurden – statt dass man Rechnen übte, wie mein Vater schimpfte, der mir in diesem Zusammenhang das Wortspiel mit einer Scherzfrage beibrachte: „Was ist flüssiger als Wasser?“, wollte er von mir wissen, um zu antworten: „Dieser Religionsunterricht, er ist nämlich überflüssig.“ Er konnte nicht wissen, dass mir dieser Spruch so gut gefiel, dass ich ihn in der Schule mit den Lehrern ausprobierte – leider nicht zu meinem Vorteil, wie ich dann physisch zu spüren bekam.
Unabhängig davon hatte mein Vater seinen Kindern unverhohlen deutlich gemacht, wie wenig ihm das Christliche bedeutete – meine Mutter hielt sich bei seinen entsprechenden Predigten zurück. „Glauben heißt nichts wissen“, dozierte Alfred senior, bis es mir aus den Ohren heraus kam, aber ich verstand seine Wut. Da saß er mit steifen Knien und einem Armstumpf, der sich bei jedem Wetterwechsel schmerzhaft bemerkbar machte, und wurde mehr und mehr verbittert, weil ihm so viele Dinge verwehrt blieben. Und dann tauchte eines Tages noch ein Vikar bei uns auf, der ihm seelsorgerischen Trost versprach und sich zu sagen erdreistete, dass Gott meinen Vater besonders lieb habe, denn warum sonst hätte er ihm so viele Zeichen gegeben. Ich habe das mit eigenen Ohren anhören müssen und die Blumenvase fliegen gesehen, die mein Vater mit seinem gesunden Arm gegriffen hatte und nach dem unglücklichen Gottesmann schleuderte.
Eine Kiste Zigarren
Jeden Morgen Gotteslob in der Volksschule, jede Wahl durch eine christliche Partei gewonnen und jedes Mal mit höherem Vorsprung. Die frühen 1950er Jahre – meine ersten Schuljahre – hatten für meinen Vater wenig Erfreuliches zu bieten, trotz des Gewinns der Fußballweltmeisterschaft. Am Tag nach dem Sieg übten wir den ganzen Tag, das Wort „elf“ zu schreiben, und bald bekam ich auch mein erstes Buch – das „3:2“ von Fritz Walter. Es blieb lange Zeit das einzige in unserem Haushalt – abgesehen von einem Briefratgeber, dem man entnehmen konnte, wann man „Werte Dame“ oder „Liebe Frau“ zu schreiben hatte und ob man sich „hochachtungsvoll“ oder „mit besten Grüßen“ verabschiedete.
Die Langeweile auf der Volksschule wurde einmal unterbrochen, als ich eines Tages mitten aus dem Unterricht heraus zum Rektor gerufen wurde. Zwar grübelte ich auf dem Weg zu seinem Büro, was ich wohl angestellt haben könnte, um diese Vorladung zu verdienen, aber das war gar nicht nötig. Der Rektor wollte mich nicht beschimpfen. Er hatte vielmehr einen Wunsch, nämlich den, dass ich ihm Zigarren aus dem Laden meiner Eltern holen sollte – jetzt gleich. Ihn verlange danach.
Die Geschichte wäre trotz der ungewöhnlichen Form und Zeit des Einkaufs nicht erwähnenswert, wenn nicht noch etwas dazukommen wäre. Dieses Extra hat damit zu tun, dass der Rektor eine Kiste Zigarren namens „Handelsgold“ haben wollte, und ausgerechnet die fehlte in unserem Laden, wie mein Vater mir zu seinem Bedauern erklärte, nachdem er sich von dem Schrecken erholt hatte, der durch mein Auftauchen während der Schulzeit ausgelöst worden war.
Was tun? Mein Vater zögerte keine Sekunde. Er hatte eine leere Kiste, auf der „Handelsgold“ stand, füllte sie mit Zigarren aus einer vollen Schachtel, auf der „Weißer Rabe“ zu lesen war, und schickte mich zur Schule zurück. „Das merkt der Rektor nicht“, erklärte er mir. „Die meisten Leute können beim Probieren überhaupt keine Sorten unterscheiden“, fügte er hinzu, „ihr Geschmack ist nicht so fein, alles Angeberei, wenn sie so tun, als ob.“
Zwar war mir nicht besonders wohl zumute, als ich die Kiste „Handelsgold“ dem Rektor übergab, und meine Bauchschmerzen nahmen nicht ab, als er sich gleich eine Zigarre ansteckte und den Qualm genüsslich an die Decke blies. Doch tatsächlich – er reagierte genau so, wie es mein Vater vorhergesagt hatte. „Ah, die gute Handelsgold“, lobte er, was er da rauchte, „da merkt man sofort die Qualität.“ Wenn heute jemand in einem Lokal von einem Kellner einen Schluck Wein mit der Bitte kredenzt bekommt, ihn zu probieren, und dann mit Kennerblick und allem möglichen Getue ein wenig schmatzend und mit den Augen rollend sein Einverständnis signalisiert, dann fällt mir bei vielen Leuten sofort der paffende Rektor mit seiner unverwechselbaren Handelsgold ein, und ich werde ganz vergnüglich.
Kinder und Krankheiten
Eines Tages blieb der Platz in der Schulbank neben mir leer. Er blieb für den Rest der Schulzeit leer, denn mein Freund, der dort gesessen hatte, war tot. Er war – plötzlich und unerwartet – an einem geplatzten Blinddarm gestorben, wie man der Klasse damals mitteilte, ohne dass diese Information uns etwas sagte oder bedeutete.
Bald darauf – kurz nach Weihnachten – bekam ich Schmerzen an der Stelle meines Körpers, die meine Eltern als rechtes Schlüsselbein bezeichneten, und niemand wusste Rat. Ich weinte so viel, dass mein Vater mich zu unserem Hausarzt brachte, in dessen Wartezimmer ich lange herumsitzen musste, bis ich an die Reihe kam. Dies gab mir Gelegenheit, den Satz auswendig zu lernen, der dort an der Wand zu lesen stand:
„Gott ist der Arzt, ich bin sein Knecht,
so er es will, heil’ ich Dich recht.“
Leider schien es, dass Gott nicht wollte, denn dem Doktor fiel nichts ein, und die Schmerzen blieben. Allmählich breitete sich Unruhe aus. Mein Leiden sprach sich bei den Nachbarn herum, und die Nachricht kam auch bis zu unserem Metzgermeister mit Namen Hallenscheidt (bei dem ich freitags die Lottoscheine abholte). Er wollte und konnte helfen, denn sein Sohn war Arzt in Freiburg und über die Feiertage nach Wuppertal gekommen.
Dr. Hallenscheidt konnte nicht vor dem Silvestermorgen, dann aber kam er und entschied nach kurzer Prüfung, dass der Schmerz über komplizierte Umwege durch eine Blinddarmreizung zustande komme. Aus der Dauer meines Zustandes schloss er auf höchste Eile. Er rief den Notarztwagen, der mich – mit lautem Tatütata – sofort in ein Krankenhaus brachte, wo ich knapp vor dem Jahreswechsel operiert wurde. Nicht nur dies sei äußerst knapp gewesen, wie der Chirurg meinte, den ich erst am Tag meiner Entlassung sah und der mir dabei eine kleine Lektion erteilte. Als ich nämlich etwas voreilig fragte (weil sich meine Eltern darüber unterhalten hatten), was wir für seine Hilfe bezahlen müssten, meinte er lächelnd, „Den Eingriff habe ich Dir zuliebe umsonst gemacht; ich werde nur dafür bezahlt, dass ich weiß, wo ich schneiden muss.“ Wie viel es dafür geben sollte, erwähnte er aber trotzdem nicht.
Übrigens, Gott hatte doch noch ein Einsehen, denn der zuerst konsultierte Arzt konnte den kleinen, leidenden Patienten nicht aus seinem Kopf bekommen, und plötzlich verstand er, was mit ihm sein könnte. Kurz nachdem die Ambulanz mit mir abgefahren war, rief unser Hausarzt bei meinen Eltern an, um dringend eine Prüfung des Blinddarms vornehmen zu lassen. So vertrauten wir ihm wieder, was vor allem heißt, dass meine Eltern genau hinhörten, als er etwas später anfing, vor den Gefahren der Kinderlähmung (Polio) zu warnen, die sich damals wieder zeigte.
Heute gehört die von Viren bedingte Infektionskrankheit, bei der zahlreiche zur Muskelsteuerung dienende Nervenzellen des Rückenmarks befallen werden, der Vergangenheit an. Aber die dazu nötigen Impfstoffe konnten erst in den frühen 1960er Jahren entwickelt werden. (Ich erinnere mich noch gut an die Schlangen, in denen wir damals anstanden, um das Stückchen Zucker zu bekommen, mit dem der segensreiche Stoff verabreicht wurde).
Meine Eltern dachten nicht an künftige Schluckimpfungen, sondern an den großen Ausbruch der Kinderlähmung, der Deutschland 1932 – also zu ihren Lebzeiten – heimgesucht hatte, und sie reagierten zum ersten Mal mit einem Verbot. Mir war nicht mehr erlaubt, mit dem Sohn des Bäckers zu spielen, dessen Laden dem Geschäft meiner Eltern gegenüber lag. Nach Auskunft von Passanten krabbelten ab und zu Lebewesen durch das Schaufenster, die nicht nur dort nicht hingehörten. Das beeinträchtigte zwar nicht unbedingt den Verkauf – die Menschen waren in den Nachkriegsjahren Schlimmeres gewöhnt –, bedeutete aber striktes Besuchsverbot für mich.
Da hatte ich wieder Glück, denn der Sohn des Bäckers bekam die Kinderlähmung tatsächlich und konnte sich nur noch auf Krücken bewegen. Wir sind Freunde geblieben, aber das gemeinsame Spielen machte mehr Mühe. Wenn ich draußen herumrennen wollte, kam er nicht mit. Er rächte sich dafür bei Ringkämpfen auf seinem Bett. Mit seinen starken Armen konnte ich nicht konkurrieren.
Vertraute Menschen
Der Wichlinghauser Markt, an dem meine Eltern ihren Laden führten – und in dessen Nachbarschaft sie anfangs wohnten und ich aufgewachsen bin –, stellte eine in sich geschlossene und autark scheinende Welt dar. Man konnte alles bekommen, was man für den Lebensalltag brauchte. Da waren unter anderem eine Metzgerei, ein Obst- und Gemüsehändler, eine Apotheke, eine Kneipe, ein Frisör und – tatsächlich damals schon – ein italienischer Eissalon mit dem freundlichen Herrn Zampolli, der das beste Zitroneneis der Welt anbot. Natürlich gab es eine Tankstelle, eine Bank, einen Schuhladen und ein Schmuckgeschäft. Ich habe sie alle noch vor Augen und sehe mich, wenn ich dort Lottoscheine abhole oder Zigaretten hinbringe. Die Besitzer kauften rundum gegenseitig bei sich ein, und man bestaunte untereinander besondere Neuigkeiten. Ich erinnere mich noch, als die ersten Hosen oder Jacken mit Reißverschlüssen auf den Markt kamen, wie da gelobt oder geschimpft wurde, je nachdem, ob es der Mechanismus tat oder klemmte. Dann stand der Tankwart in unserem Laden und versuchte, seine Jacke zu öffnen, oder meine Mutter ärgerte sich in der Bank darüber, dass ihr Pullover nicht schließen wollte.
Die Menschen um diesen Markt herum waren so miteinander vertraut, dass sie auch den Tod öffentlich behandelten. Ich habe in diesem jungen Alter mehr – aufgebahrte – Tote gesehen als in den vielen Jahren, die danach kamen. Damals war der Tod öffentlich und die Sexualität privat; heute ist es umgekehrt, und es gibt Leute, die halten diesen Wechsel in die Pornographie für einen Fortschritt der Kultur. Sie möchte ich auf keinen Fall nackt sehen.
Die Tochter meiner Mutter
Wie gesagt, meine Mutter hat zwei Söhne zur Welt gebracht, wobei ich der jüngere war. Nun hatte sie sich nach dem erstgeborenen Stammhalter eine Tochter gewünscht, und ich habe manchmal den Eindruck, ich bin das auch geworden. Sie hat mich jedenfalls dazu in dem Sinne gemacht, dass ich alle Aufgaben bekam, die man sonst – damals jedenfalls – Mädchen auftrug. Während mein Bruder nicht für den Abwasch in Frage kam und auch nicht zum Einkaufen geschickt wurde, rief sie mich dauernd zu diesen Pflichten. Ich musste natürlich auch die Briketts aus dem Keller holen, mit denen damals noch geheizt wurde, und diese Liste ließe sich fortsetzen. Dass jemand diese Aufgaben in der Familie übernehmen musste, war klar. Mein Vater kam dafür nicht in Frage, und meine Mutter hatte genug mit dem Laden zu tun, den sie immer mehr alleine führen musste. Wie mein Bruder sich darum gedrückt hat, habe ich nie herausbekommen. Mich ärgerte nur manchmal die Art, mit der meine Mutter ihre Bitte um Hilfe einleitete: „Wollest Du nicht mit dem Sohn vom Obsthändler spielen?“, „Wolltest Du nicht gerade zum Milchladen?“, „Wolltest Du nicht sowieso in die Stadt gehen?“ So oder so ähnlich fragte sie, wenn Besorgungen zu erledigen waren. Ich merkte die Absicht und war verstimmt, aber nicht lange. Dann wollte ich, was sie wollte. Das konnte ich auf jeden Fall jetzt schneller als sie, und so freute sie sich und ich mich dann auch.
Von anderen Dingen und der Wissenschaft
Jedes Leben spielt sich im Rahmen der Möglichkeiten ab, die mit einem Menschen entstehen und sich mit ihm verändern. Auch von ihnen soll erzählt werden. Was jetzt aus meinen Kindertagen verhandelt wird, ist natürlich lange Zeit hindurch kaum an mein Ohr und erst recht nicht in mein Bewußtsein gedrungen – also etwa die Montage der ersten Großrechner, die Konzeption von speicherbaren Programmen, die Erfindung des Transistors oder das Aufkommen einer neuen Lebenswissenschaft namens Molekularbiologie. Alles Entwicklungen, die im Verlauf des Weltkrieges bis 1945 ihre ersten noch vagen Formen angenommen hatten und nach dessen Ende in Schwung kamen, um den Rahmen neu zu prägen, in dem Menschen ihr Leben entwerfen können. Mir erscheint es lohnend, sich über die großen Dinge klar zu werden, die aufkamen und sich entfalteten, während man selbst heran und in die Welt hinein wuchs.
Damit sollen an dieser Stelle nicht die politischen oder die gesellschaftlichen Ereignisse gemeint sein, über die durchschnittliche Geschichtsbücher durchschnittlich viel berichten und die an durchschnittlichen Schulen durchschnittlich gründlich vermittelt werden, auf das wir alle einigermaßen gut über unsere Geschichte informiert seien – etwa über den Marshall-Plan, der ab 1947 den Wiederaufbau West-Europas ermöglichte, über die Währungsreform der Westzonen in Deutschland von 1948, über die Gründung der NATO und das Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 mit der fast gleichzeitig stattfindenden Gründung der inzwischen abhanden gekommenen Deutschen Demokratischen Republik.
Hier soll mehr über Ereignisse und Vorkommnisse berichtet werden, die nicht unbedingt in den Geschichtsbüchern stehen, die aber unser modernes Gewordensein mehr beeinflusst haben, als die Historiker normalerweise zur Kenntnis nehmen oder sich träumen lassen. Natürlich darf an dieser Stelle nicht der Hinweis auf die Bücher von Thomas Nipperdey fehlen, der etwa in seiner Darstellung der „Deutschen Geschichte 1866–1918“ (München 1990) mit dem Untertitel „Arbeitswelt und Bürgergeist“ besondere Abschnitte über „Das Bildungswesen“ und „Die Wissenschaften“ anführt. Dieses gewichtige Werk ist mir allein deshalb nicht entgangen, weil auf seinem Schutzumschlag die Wuppertaler Schwebebahn zu sehen ist, wie sie Adolf Erbslöh 1912 gemalt hat (wobei mir dieser Künstler wiederum deshalb gut vertraut ist, weil mein Schulweg durch die Erbslöhstrasse führte).
Aber Nipperdey bleibt eher eine Ausnahme. Nach ihm sind erneut dicke Bände zur deutschen oder europäischen Geschichte erschienen, bei denen man zum Beispiel Hinweise auf die Chemie und ihren Beitrag zu Technik und Industrie vergeblich sucht. Selbst die Versorgung der Menschen mit Energie und die Erzeugung von Strom scheint den Historikern und anderen Gesellschaftsforschern belanglos zu sein. Sie erwähnen die dazugehörigen Entwicklungen mit keinem Wort – mit der Folge, dass wir jetzt alle überrascht und unvorbereitet vor der Tatsache stehen, dass das Betreiben von Kraftwerken bedrohliche Auswirkungen in Form eines Klimawandels mit sich bringt, auf die es zu reagieren gilt.
Offenbar merken viele Historiker nicht oder wollen nicht zur Kenntnis nehmen, was der französische Philosoph Michel Serres 1994 in seinem Vorwort zu den schon erwähnten „Elementen einer Geschichte der Wissenschaften“ so beschrieben hat: „Weder die Wechselfälle der politischen oder militärischen Verhältnisse noch die Ökonomie können – für sich genommen – hinreichend erklären, wie sich unsere heutigen Lebensweisen durchgesetzt haben; dazu bedarf es einer „Geschichte der Wissenschaften und Techniken“ – oder mindestens eines Interesse der professionellen Historiker an den entsprechenden Verläufen. Wer die Geschichte ohne die der Wissenschaften erzählt, kommt nie in der Welt an, in der wir leben. Er bleibt der Gegenwart fremd und entfremdet die Menschen von ihr.
Dies lässt sich kinderleicht an dem Maß erkennen, mit dem die anzuführenden Entwicklungen unsere Gegenwart prägen – eine Gegenwart mit ständig leistungsfähiger werdenden Computern, mit unabsehbar an Raffinement gewinnenden elektronischen Medien und Kommunikationsgeräten, mit einer weit auszugreifen beginnenden Biomedizin, die mit Stammzellen und Genomdaten operiert, und vielen anderen Entwicklungen der technisch-wissenschaftlichen Art.
Solche Dinge fallen nicht vom Himmel. Solche Dinge fallen Menschen ein, und vielleicht lohnt es sich, dem Geschehen dabei ein wenig zuzuschauen und mit ihm und seinen Mitspielern vertraut zu werden. Es schafft den Rahmen unserer Möglichkeiten, in dem wir werden, was wir sind.
Der Transistor
Beginnen wir kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als der aus Ungarn stammende Mathematiker John von Neumann (1903-1957), der zuvor eine Spieltheorie zum besseren Verständnis ökonomischer Prozesse formuliert hat, das Prinzip eines programmierbaren universellen Rechners vorstellt, was man auch als Geburtsstunde des modernen Computers bezeichnen kann. Von Neumann lebte damals in den USA, in dem Land, in dem zur gleichen Zeit ein Monstrum namens ENIAC aufgestellt wurde – eine elektronische Rechenanlage, wie der nicht abgekürzte Name zu erkennen gibt, der „Electronic Numerical Integrator and Calculator“ lautet. ENIAC war mit 18.000 Elektronenröhren ausgestattet, die gesamte Konstruktion wog rund 30 Tonnen und nahm eine Standfläche von 140 m² ein. Die Maschine hätte also nicht annähernd in die Wohnung von 85 m² gepasst, in der ich aufgewachsen bin. ENIAC war 1000mal schneller als alle anderen Rechenmaschinen ihrer Zeit – auch im Vergleich zu dem berühmten Prototyp Z3 des Ingenieurs Konrad Zuse –, aber die stolzen 5000 Additionen und 300 Multiplikationen, die ENIAC pro Sekunde zustande brachte, lassen uns heute nicht einmal mehr milde lächeln, sondern nur noch traurig und mitleidvoll blicken, was natürlich unfair und unangemessen ist.
Wer ENIAC so spöttisch betrachtet, sollte sich fragen, was die rasante Entwicklung der Rechen- und Speicherkapazitäten bei gleichzeitiger erstaunlicher Miniaturisierung bis in unsere Tage hinein möglich gemacht hat. Wieso kann der kleine Laptop auf meinem schmalen Schreibtisch heute so unendlich viel mehr als das Riesending ENIAC damals in seinem großen Haus?
Eine Antwort liegt darin, dass die Aufgabe der sowohl voluminösen als auch reparaturanfälligen Elektronenröhren in den Rechenmaschinen durch Transistoren abgelöst werden konnte. Wer dieses Wort hört, nickt verständnisvoll, denn als in den späten 1950er Jahren die ersten Radioapparate auf den Markt kamen, die statt der schwerfälligen Röhren die soliden und leichten Transistoren benutzten, wurde das Wort eines Bauteils für das Ganze genommen, wie ich mich erinnere.
Was haben wir den Sohn des Gemüsehändlers bestaunt, der am Wichlinghauser Markt als erster ein Transistorradio sein eigen nannte und mit diesem Gerät – dem Transistor – nun besser und störungsfreier Musik empfangen konnte als die Söhne des Tabakhändlers gegenüber.
Transistoren haben die Nachkriegsgeschichte der Menschen durchgehend und stark beeinflusst, auch wenn viele Intellektuelle dies nicht bemerken. Erfunden worden ist dieses Wunderding im Dezember 1947, und zwar in den Bell Laboratorien in New York. Hier versuchten drei später mit dem Nobelpreis für ihr Fach ausgezeichnete Physiker – William Shockley, John Bardeen und Walter Brattain – systematisch zu erforschen, was in den Jahren des Zweiten Weltkriegs eher nebenbei beobachtet worden war, nämlich die Eigenschaften von Kristallen, die man Halbleiter nannte. Was in der Geschichte der Physik erst nur Langeweile hervorgerufen hatte – was sollte man auch mit Elementen wie Silizium und Germanium anfangen, die manchmal elektrischen Strom leiteten und manchmal nicht? –, war im Rahmen von Arbeiten zur Radartechnik in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Hier benötigte man möglichst empfindliche Empfänger (Detektoren) für schwache Signale, und jemand erinnerte sich daran, dass Halbleiter genau dazu dienen konnten. Die Verwandlung vom Isolator zum Leiter setzt nämlich bei einigen Kristallen dieser Qualität höchst plötzlich ein, also schon bei geringsten Änderungen der äußeren Bedingungen, die man ja gerade erkunden wollte.
Nach ersten tastenden Bemühungen vor 1945 nahmen die – vom amerikanischen Militär finanzierten – Bell Laboratorien die Aufgabe systematisch in Angriff, und als das Jahr 1947 endete und 1948 begann, gab es den ersten Transistor, wobei die Bezeichnung ein englisches Kunstwort darstellt, das sich aus zwei Teilen zusammensetzt, aus Transfer (Übertragung) und Resistance (Widerstand). So ein „Übertragungswiderstand“ konnte – bei geeigneter Bauweise – Strom abblocken oder verstärken. Er lieferte nicht nur das, was eine alte Elektronenröhre konnte. Der neue Transistor tat dies besser und zuverlässiger, und er war darüber hinaus sehr viel kleiner und billiger herzustellen.
Was wollte man mehr? Mit diesen Qualitäten dauerte es nicht lange, bis der Siegeszug der Transistoren einsetzte, die es bereits 1951 in Hörgeräten gab und mit denen seit 1958 die integrierten Schaltkreise gezimmert werden, die wir als Mikrochips kennen und nutzen. Im Jahre 2002 wurden rund eine Trillion Transistoren produziert, was man zwar als tausend Billiarden, also millionen Billionen oder milliarden Milliarden umbenennen kann, was aber trotzdem – mit seinem Kometenschweif von Nullen – unbegreiflich groß bleibt und denjenigen zu einer überraschenden Einsicht führt, der ausrechnet, wie viele Transistoren man pro Sekunden herstellen muss, um diese immense Menge zu erreichen.
Übrigens – wer im Detail verstehen will, wie Halbleiter zu Transistoren zusammengesetzt werden, ist gut beraten, sich ganz allgemein die Frage zu stellen, wie die Physik die Leitfähigkeit oder das Gegenteil (die Isolierfähigkeit) von Metallen und anderen Materialien versteht.
Mehr zum Transistor
Ein Transistor funktioniert als elektronisches Bauelement, das einen Schaltvorgang erlaubt, der nicht von Hand, sondern mit elektrischer Hilfe durchgeführt wird. Er besteht zum Beispiel aus drei Schichten, in denen Halbleiter zusammentreffen, die unterschiedlich dotiert sind, wie man sagt. Dotieren heißt, dass einem Halbleiter wie Silizium ein anderes Element – etwa Phosphor – beigegeben wird. Da Siliziumatome mit vier Außenelektronen eines weniger haben als Phosphor, kann das fünfte Phosporelektron sich gut bewegen. Man spricht bei dieser Kombination wegen der negativen Ladung von Elektronen von einem „n-dotierten“ Halbleiter und unterscheidet sie von ihren „p-dotierten“ Gegenstücken, bei denen dem Silizium ein Element mit drei Außenelektronen – zum Beispiel Aluminium – beigemischt worden ist. Hierdurch entstehen Löcher, die anders als die Elektronen wie eine positive (daher das p) Ladung agieren und beweglich sind. Wenn jetzt n-dotiertes Silizium erst mit dem p-dotierten Halbleiter und dann erneut mit einer n-dotierten Schicht zusammengebracht wird und so ein „npn-Bausatz“ entsteht, hält man das analoge Stück in Händen, das als Triode in den frühen Elektronenröhren seinen Dienst tat, indem sie den fließenden Strom nach Wunsch steuern – anhalten oder verstärken – konnte. Die Halbleiterkombination – der npn-Transistor – ist nur wesentlich zuverlässiger und kann extrem viel kleiner gehalten werden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man noch, dazu genüge es, die Atome regelmäßig als Gitter anzuordnen und es einigen ihrer Elektronen zu erlauben, sich innerhalb dieses Strukturrahmens frei – als eine Art Elektronenwolke – zu bewegen.
Dieses hübsche Bild taugt leider nicht viel. Wie die Geschichte der Physik zeigt, kann nur derjenige sinnvolle Auskünfte über die Leitmechanismen von festen Körpern – Kristallen aus Halbleitern zum Beispiel – geben, der sich auf die grundlegende Theorie der Physik namens Quantenmechanik einlässt. Mit deren Hilfe gelingt es, ein Konzept mit dem anschaulichen Namen „Leitungsband“ erst zu ersinnen und dann zu präzisieren. In solchen Leitungsbändern können Elektronen mit geeigneter Energie einen Festkörper durcheilen und dabei zu dem Strom werden, auf den es ankommt.
Die eben skizzierte Idee der Dotierung von Halbleitern, ohne die es keine Transistoren geben kann, kann nur jemand haben, der die moderne Physik beherrscht und versteht, wie sie die elektrische Leitfähigkeit von Stoffen wie Metallen erklärt. Dies gelingt in einem sogenannten „Bändermodell“. Unter einem Bändermodell versteht man die Idee, dass Elektronen in Festkörpern (Kristallen) sogenannten Bändern zugeordnet werden können, und zwar abhängig von ihrer Energie. Dabei lässt sich ein Band mit hoher von einem Band mit geringer Energie unterscheiden. Die beiden heißen in der Fachwelt Leitungsband bzw. Valenzband, wobei der erste Name leichter verständlich ist. Wenn sich nämlich Elektronen im Leitungsband befinden, können sie sich bewegen, und somit leitet der Festkörper Strom, sonst nicht. Zwischen den Bändern können Elektronen nicht existieren.
Ein Metall (wie Kupfer) ist nun dadurch charakterisiert, dass Elektronen leicht aus dem Valenzband, das ihrem gebundenen Grundzustand entspricht, in das Leitungsband springen können, das ihrem beweglichen angeregten Zustand entspricht. Bei einem Isolator (wie Glas) ist die Lücke zu groß, um unter normalen Umständen überwunden zu werden. So halten sich die Elektronen überwiegend im Valenzband auf. Zwischen diesen beiden genannten Festkörperarten stehen die sogenannten Halbleiter, deren Name korrekt ausdrückt, was sie können, nämlich manchmal einen Strom leiten und manchmal nicht. Bei ihnen hängt die Lücke – die Größe des Quantensprungs – zwischen Leitungs- und Valenzband stark von äußeren Bedingungen (etwa der Temperatur) ab, was zunächst eher störend wirkte, bis man bemerkte, dass diese Flexibilität im Gegenteil einen Glücksfall darstellte, der bald genutzt werden konnte – vor allem in den Transistoren.
Diese Skizzen sind nicht der Ort, das Entstehen und Verstehen solcher Leitungsbänder genauer zu erfassen, als es in dem obigen Kasten passiert ist. Hier soll und muss aber darauf hingewiesen werden, dass auch die drei Erfinder des Transistors sich bei ihren Bemühungen an der Quantenmechanik zu orientieren hatten. Ohne diese neuartige Wissenschaft ging gar nichts!
Im 18. Jahrhundert hatte noch jemand eine Dampfmaschine konstruieren und im 19. Jahrhundert noch jemand eine Eisenbahn bauen können, ohne die Gesetze der Thermodynamik zu kennen oder zur Verfügung zu haben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging dies nicht mehr.
Jetzt reichte es nicht, etwas zu wollen, jetzt musste man zunächst etwas wissen, um etwas grundlegend Neues bauen oder konstruieren zu können, wie die Erfindung des Transistors zeigt. Wer dieses erste kleine Beispiel in einen großen Trend umwandeln will, könnte sagen, dass sich hier die Transformation zu erkennen gibt, die heute als ausgemacht und zukunftsweisend gilt, nämlich die Wandlung einer Industrie- in eine Wissensgesellschaft.
Merkwürdigerweise kümmern sich die Soziologen und Historiker, die diese Trends beschreiben, nicht im Geringsten um die wissenschaftliche Basis des Geschehens, so dass sie in meinen Augen gar nicht oder nur oberflächlich wissen, wovon sie reden.
Die Entzauberung der Welt findet nicht statt
Zu den vielen Irrtümern, die sich in gelehrten Kreisen über die Naturwissenschaften halten, gehört die Idee, dass es dank ihrer Erklärungen – etwa von Bremsmechanismen in Eisenbahnen oder des Abhebens von Flugzeugen – zu einer Entzauberung der Welt kommt, wie es der berühmte Soziologe Max Weber zum ersten Mal 1917 ausgedrückt hat. Selbst wer nicht versteht, wie ein Transistor funktioniert, weiß doch, dass er dies nachlesen oder nachfragen kann. So denkt man jedenfalls, ohne zu merken, wie falsch dies ist.
Wer zum Beispiel konkret wissen will, wie ein Transistor seine Aufgabe erfüllt, wird zwar von einem Fachmann etwas von Halbleitern hören, die geeignet dotiert sein müssen, was alles noch einfach klingt und zumindest dem Experten vertraut ist. Wenn der aber weiter erzählt, kommt irgendwann der Hinweis, dass Kristalle aus Halbleitern deshalb zu Transistoren werden können, weil in ihnen für die Abwesenheit von Elektronen an bestimmten Stellen gesorgt werden kann.
Die Physiker sprechen von Löchern, die sich bewegen können, und an dieser Stelle wird es auch für den Fachmann undurchschaubar. Er kann immer noch berechnen, was in seinem Kristall passiert, aber das Loch kann nicht ein Nichts sein. Es muss ein Etwas sein, an dem die Physik noch herumrätselt, was zum einen schön für die Wissenschaftler ist, die nicht arbeitslos werden, was aber zum zweiten zeigt, wie sehr sich Weber mit seiner Entzauberung irrt.
Der wissenschaftliche Zugriff zu einem rätselhaften Phänomen lässt das Mysterium nicht verschwinden, er steigert vielmehr das Geheimnisvolle. Die Erklärung – etwa mit dem Löchern in den Halbleitern – ist wundersamer als das Phänomen. Wissenschaft entzaubert die Welt nicht. Sie verzaubert sie vielmehr durch ihre Erklärung. Und das kann Menschen nur gefallen.)
Wer in einer Wissensgesellschaft etwas erreichen will, muss nicht nur mit den Händen etwas leisten, er muss auch etwas wissen, und wer sich heute gebildet nennt, sollte nicht nur dies wissen, sondern auch davon eine Ahnung haben, was die Menschen wissen mussten, denen wir die Erfindungen verdanken, die zu unserem Leben und zu unserer Geschichte gehören. Gemeint ist zum Beispiel so etwas wie die Quantenmechanik, die nur scheinbar nichts mit unserem täglichen Leben zu tun hat, während sie uns tatsächlich dauernd bedient.
Sehr viele Arbeitsplätze hängen höchst konkret davon ab, dass diese Theorie der Physik funktioniert und entwickelt werden konnte. Wie wäre es, wenn Jobs im Management nur dann angetreten werden dürften, wenn jemand wenigstens ungefähr weiß, wie diese Theorie der Physik funktioniert und zustande gekommen ist? Angebote – im Sinne von Büchern – gibt es genug. In ihnen kann man auch lernen, dass es unsinnig ist, Quantensprünge zu versprechen. Sie sind das Kleinste, was die Natur anzubieten hat, und gehen meist in einen Grundzustand über, in dem dann nichts weiter passiert.
Eine Welt voller Informationen
„Der Krieg ist Vater aller Dinge“, soll der als merkwürdig dunkel bekannte Philosoph der Antike namens Heraklit gesagt haben, und die Nähe zum Zweiten Weltkrieg gibt uns die Gelegenheit, diese Behauptung empirisch zu prüfen. Bei den Transistoren haben wir dabei schon Glück gehabt, und beim nächsten Thema wird dies noch deutlicher. Es geht um eine neue Wissenschaft namens „Kybernetik“, die durch das Erscheinen eines Buches mit diesem Titel im Jahre 1948 begründet wurde.
Geschrieben hat das Buch der am berühmten Massachusetts Institute for Technology (MIT) in Boston tätige amerikanische Mathematiker Norbert Wiener, der in den frühen 1940er Jahren mit der Frage beschäftigt gewesen war, wie man eine Rakete sicher ihrem Ziel zuführen könne. Seine inzwischen eher als banal geltende, damals aber grundlegende Idee kennt man heute als „Rückkopplung“ oder mittlerweile auch bei uns mit dem englischen Originalwort „Feedback“. Damit ist gemeint, dass etwas, das mit einem Ziel unterwegs ist und betrieben wird, prüft oder prüfen lässt, ob und wie nahe es dem Ziel gekommen ist, um danach den weiteren Verlauf des Vorgehens einzustellen bzw. zu regeln. Das klassische Beispiel aus dem Haushalt ist der Thermostat, der zum Beispiel auf 20 Grad eingestellt ist und die Heizung ein- oder abschaltet, je nachdem, ob die Temperaturmessung einen tieferen oder einen höheren als den gewünschten Wert anzeigt.
Kybernetik – gebildet nach dem griechischen Wort für Steuermann – handelt von den Regelungsmechanismen sowohl in Organismen als auch in Maschinen. Durch deren Erkundung und Anwendung konnte ein neuer Begriff als ein unverbrauchter Gedanke sowohl in die Wissenschaft als auch in den Alltag gelangen, ohne den zu leben wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Gemeint ist die Idee der Information, mit der wir heute so umgehen, als ob es sie immer schon gegeben hätte.
Wir wissen längst, wie sie zu messen ist, wenn wir lässig die Megabits oder Gigabytes unserer Festplatten auf dem Laptop erwähnen oder unseren iPod auswählen. Wir verhalten uns bei der Information so, als ob wir von Äpfeln und Birnen sprächen, also von Dingen, die es einfach gibt und für die man nur einen Namen braucht. Vielleicht stimmt das ja auch, und möglicherweise werden wir viele Aspekte der Realität erst dann durchgreifend verstehen, wenn die grundlegende Wissenschaft von der äußeren Wirklichkeit, die Physik, die Information zu ihrer zentralen Variablen macht – woran sie inzwischen zwar arbeitet, worauf wir aber noch warten.
Erste Anfänge in dieser Richtung fallen in das Jahr 1948, als der ebenfalls an den Bell Laboratorien tätige Mathematiker Claude Shannon verstehen wollte, wie die Übertragung von Nachrichten erst besser erklärt und dann besser bewerkstelligt werden könne. Um definieren und messen zu können, was „besser“ heißt, schlug Shannon vor, alle Zeichen in binärer Form darzustellen – also als Folge von 0 und 1 – und die Information einer solchen Zahlengruppe durch die Menge der benötigten Stellen festzulegen. Er sprach von „binary digits“, was als Bit abgekürzt wurde und Einzug in den Alltag der Menschen und deren Sprache hielt.
Die Idee mit der binären – zweiwertigen – Darstellung ist uralter Stoff für Mathematiker und war immer schon für den Bau von Rechenmaschinen im Gespräch. Bereits im 17. Jahrhundert hat der große Leibniz über binäre Codes nachgedacht, was hier nicht näher ausgeführt werden kann und nur den Hinweis ermöglicht, dass Shannons Idee nicht vom Himmel gefallen ist, sondern der Wissenschaftsgeschichte entstammt, die – wie erneut und gerne betont wird – zur Kenntnis zu nehmen sich mindestens ebenso lohnt wie die Niederlagen Napoleons, die Schlesischen Kriege der Preußen gegen die Österreicher oder andere militärische Aktionen von sich stark fühlenden Fürsten und höheren Rängen.
Zu den Entwicklungen der Wissenschaft im Verlauf der 1950er Jahre gehört übrigens nicht nur die rasante Verbesserung von Rechenmaschinen gegenüber den Vorkriegsmodellen, sondern auch der Mut, das Können dieser Apparate mit den Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu vergleichen. Der britische Mathematiker Alan Turing fragte 1950, ob und wie man einen Menschen von einem Computer unterscheiden könne, wenn man beide Fragen stellt und die Antworten schriftlich („als Ausdruck auf einem Blatt Papier“) entgegennimmt. Wenn wir dabei beide verwechseln, dann müssen wir – so Turing – einräumen, dass Maschinen über Geist verfügen und folglich denken.
Was ist Leben?
Wenn sich etwas Grundlegendes und Maßgebliches in der Wissenschaft zeigt – wie etwa das Auftauchen der Information in den späten 1940er Jahren –, dann setzen viele Menschen und Gemeinschaften dies nicht nur in relevante und prägende Techniken um – Regelsysteme, Rechenanlagen, Kommunikationsgeräte, Computerprogramme und sehr vieles mehr. Oft ändert sich dann auch der Blick auf und in völlig andere Bereiche des Forschens und Erkundens, und diese Neuorientierung erfasste nach 1945 die Biologie, also die Wissenschaft vom Leben.
Nachdem die Botaniker und Zoologen und ihre Kollegen aus den Naturkundemuseen über Jahrhunderte hin fein und vorsichtig die Vielfalt des Lebens beschrieben, benannt und katalogisiert hatten, ohne auch nur das Geringste davon zu verstehen, tauchten in den 1930er Jahren die ersten Physiker und Chemiker auf, die genauer wissen wollten, welche Molekülsorten in Zellen gebraucht werden, wie diese Lebensbausteine aufgebaut sind und ob man erklären könne, was sie gleichzeitig stabil für das Individuum und dynamisch für die Evolution macht. Als neuen Namen für dieses Erkunden des Lebens wählten sie „Molekularbiologie“. Das war noch vor dem Zweiten Weltkrieg, der dann aber allen Bioschwung dämpfte. Das Militär war mehr an Maschinen als an Molekülen interessiert, und so lenkte man das Interesse der Menschen auf die benötigten Waffensysteme um.
Das heißt, eine genetische Forschung – also das wissenschaftliche Bemühen um das Erbmaterial, das man inzwischen Gene nannte – lief auf Sparflamme weiter. Dabei brachte sie bis 1945 mindestens zwei trag- und ausbaubare Ergebnisse zustande. Eines besagt, dass sich bei Genen immer ein Stoff finden lässt, den die Chemiker seit dem 19. Jahrhundert als Nukleinsäuren kennen, und zwar genauer die Sorte, die mit den drei Buchstaben DNA abgekürzt wird, hinter denen die englische Variante des komplizierten Ausdrucks Desoxyribonukleinsäure steckt. Bis heute ist daraus die berühmteste Abkürzung der Wissenschaft geworden, und zwar deshalb, weil 1953 – in dem Jahr, in dem Stalin starb und Elisabeth II. Königin von England wurde – erkannt wurde, wie herrlich gebaut diese DNA ist, nämlich als Doppelhelix mit einer langen Folge von Bausteinen in der Mitte, in der die genetische Information des Lebens steckt.
Damit ist das entscheidende Wort gefallen, ohne dass die moderne Biologie unverständlich bleibt. Sie hat es sich in derselben Zeit einverleibt, in der Wiener die Kybernetik der rückgekoppelten Maschinen entwarf und Shannon deren Kommunikation auslotete. Der Biologie gelingt dieser Schritt mit dem zweiten erweiterbaren Ergebnis, das oben angesprochen worden ist und mit dem wir das Büchlein eines Nobelpreisträgers für Physik meinen, der sich 1945 darin zu der Frage „Was ist Leben?“ äußerte.
Gemeint ist der aus Österreich stammende und damals im irischen Exil lebende Erwin Schrödinger, der die zentrale Aufgabe der Gene erkannte, Information zu enthalten und weiter zu geben, um den Ordnungszustand, den das Leben in einem Organismus erreicht hat, in der nächsten Generation wiederentstehen lassen zu können. Dieses bis heute immer wieder aufgelegte Büchlein wird zunächst nicht von vielen Biologen gelesen. Es erregt aber die Aufmerksamkeit derjenigen, die in den kommenden Jahren für den großen Triumph der jetzt exakt werdenden Molekularbiologie sorgen sollten – die bereits erwähnte Entdeckung der Doppelhelix aus der DNA.
Dieser Durchbruch basiert auf der merkwürdigen Kooperation des Briten Francis Crick und des Amerikaners James Watson, auf den wir uns hier konzentrieren. Seine Lektüre von „Was ist Leben?“ sagt ihm, dass er sich auf die Natur der Gene konzentrieren müsse, was genauer heißt, dass es die Struktur der DNA zu erkunden gilt. Das weiß Watson ganz sicher nach 1952, als die damals bereits alte Einsicht, die DNA gehöre zum Erbmaterial, durch die neue Erkenntnis erweitert wird, dass es mindestens eine Lebensform gibt, bei der ausschließlich DNA das Erbmaterial bildet.
Watson sucht – und findet – das Laboratorium, in dem erstens mit der DNA gearbeitet wird und zweitens Strukturbestimmungen möglich sind. Im Februar 1953 kennt man die Doppelhelix und ihren Trick. Sie speichert ihre Information als Kette von sogenannten „Basen“, die das Alphabet des Lebens ergeben, wie man bald sagt, weil sich jetzt das Biologische mit Informationen verstehen lässt – wie die Maschinen, die für Menschen rechnen und mit denen viele schreiben und im Internet surfen.
Es wird noch etwas dauern, bis die technische Entwicklung so weit ist. Es gilt zusätzlich, die Gefahr zu bedenken, die in dem Triumph der Information steckt, den sie gleichzeitig in Maschinen und in Menschen feiern kann. Die Gefahr liegt darin, andere Aspekte rasch und rücksichtslos von einem Feld in das andere zu übertragen. Sehr verbreitet ist zum Beispiel die Vorstellung, im Leben laufe, wenn es sich entwickelt und Formen annimmt, ein genetisches Programm ab. Schließlich müssen auch die Computer anständig programmiert werden, wenn sie funktionieren sollen. An dieser Stelle wird die Ansicht vertreten, dass es zwar überall Informationen gibt, dass sie aber nicht immer ein Programm ablaufen lassen. Im Leben jedenfalls ist es nicht so. Leben funktioniert nicht wie eine Maschine, es funktioniert eher wie ein Kunstwerk, das entworfen wird und das jeder selbst entwerfen kann – im Rahmen seiner Möglichkeiten.
Frühe Formen der Interdisziplinarität
Zu den heute aktuellen Schlagwörtern zählt der Begriff der Interdisziplinarität, die vielfach gefordert (wenn auch wenig gefördert) wird. Hinter diesem Ausdruck steht die Erkenntnis, dass sich viele Probleme nicht nach den Disziplinen der Wissenschaft richten, sondern sich vielmehr die Disziplinen der Wissenschaft nach den Fragestellungen richten müssen, die sich ergeben.
Was so modern und neu klingt, ist tatsächlich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erst erfunden und dann angewendet worden, und zwar ohne eine große Werbekampagne, wie es heute auch in der Forschung vielfach üblich wird. In dem schon erwähnten Buch „Was ist Leben?“ weist Schrödinger bereits 1945 auf den Gegensatz zwischen einzelnen Disziplinen der Wissenschaft und dem „Streben nach einem ganzheitlichen, alles umfassenden Wissen“ hin, das die Menschen seit frühesten Zeiten auszeichne. Er hält es für die Pflicht der Forscher, immer wieder den Versuch zu unternehmen, „unser gesamtes Wissensgut zu einer Ganzheit zu verbinden“. Da er ihn selbst unternimmt, weiß er auch, welches Risiko ihn erwartet, wenn er mit „Wissen aus zweiter Hand“ umgeht. Das Risiko besteht darin, „sich lächerlich zu machen“. Doch dies gilt es auszuhalten. Diesen Mut verlangt Schrödinger von seinen Kollegen, die heute damit immer selbstbewusster auftreten.
Dabei hätte man gleich in den folgenden Jahren lernen können, wozu Interdisziplinarität in der Lage ist. Die Struktur der DNA, die Ikone der Doppelhelix, verdankt sich allein solch einer Kombination aus Beiträgen von Physikern, klassischen Chemikern, Biochemikern, Kristallographen, Bakteriologen und anderen. Wenn Watson und Crick der Vorwurf gemacht wird, sie hätten nur zusammengeklaubt, was andere hervorgebracht hätten, dann darf man antworten, dass das Geheimnis der Interdisziplinarität nicht darin besteht, alle Experimente selbst zu machen und alle Fakten selbst zu sammeln. Das Geheimnis besteht vielmehr darin, den Mut und die Geduld zu haben, auf die Daten und Ergebnisse zu warten, die dem Problem angemessen sind, um sie dann in einem Lösungsvorschlag vorzustellen. Dabei kann man sich blamieren, wie Watson und Crick vor ihrem Triumph höchst bitter erfahren mussten. Dabei kann man aber auch das große Los ziehen, wie sie es zuletzt erleben durften. Denn während die anderen weiter Einzelwissen anhäuften, wussten sie, wann es genügend Tatsachen gab, mit denen das Denken beginnen und neue Wege finden konnte.
Das 1950er Syndrom
Offenbar war und ging eine Menge los, als die Menschen den Zweiten Weltkrieg überstanden hatten, und zwar nicht nur in der Wissenschaft, wie oben angedeutet, sondern in der zivilisierten Welt überhaupt, wie die Historiker inzwischen konstatieren. Sie reden seit kurzem von den „langen fünfziger Jahren“ und meinen damit die Zeit zwischen 1949 und 1966, in der sich die Lebensweise Europas tief greifend änderte. „Niemals zuvor waren so viele Menschen innerhalb einer einzigen Generation so schnell so wohlhabend geworden, niemals zuvor hatten sich die Handlungsspielräume breiter Bevölkerungsschichten gleichsam über Nacht so stark erweitert wie in dem genannten Zeitraum“.
So hat der Umwelthistoriker Christian Pfister die 1950er Jahre einmal knapp beschrieben, in denen sich „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ breitmachte, wie es der Soziologe Burkart Lutz in einem 1984 erschienenen Buch genannt hat.
„Das 1950er Syndrom“ meint den in dieser Phase unserer Geschichte einsetzenden und bis heute ungebrochen anhaltenden Schub an Energieverbrauch, der zwar zum einen bald dafür sorgt, dass Westeuropa als Konsumgesellschaft mit den USA gleichzieht, der aber zum anderen auch durch die Akkumulation von Schadstoffen der Problematik den Boden bereitet, die wir heute endlich zu erfassen beginnen. Die lange Zeit als langweilig klassifizierten und als brav abgestempelten 1950er Jahre stellen wohl in aller Deutlichkeit das dar, was man als Epochenschwelle bezeichnen kann. Sie bilden eine scharfe Zäsur in Hinblick auf den Umgang der Menschen mit ihrer Natur, die sie bald „Umwelt“ nennen und die sie immer besser und durchgreifender zu nutzen lernen. Ich bin sicher, dass weder meine Eltern noch meine Lehrer diese Sichtweise verstanden hätten, wenn man sie ihnen damals näher gebracht hätte, um ihr Verhalten zu ändern. Sie hatten auch anderes zu tun, als an die Nachwelt zu denken. Sie kamen kaum mit der Gegenwart zurecht.
Keine Experimente
Im Verlauf der 1950er Jahre triumphierte und dominierte in der Politik die Christlich Demokratische Union, die 1957 unter der Führung von Bundeskanzler Konrad Adenauer sogar die absolute Mehrheit erhielt – sehr zum Ärger meiner Eltern, die treue Sozialdemokraten waren und geblieben sind (und dadurch auch meine frühen Sympathien beeinflussten). Der große Triumph Adenauers in den Wahlen von 1957, von dem der erste Nachtrag handelt, hat sicher mit seinen außenpolitischen Erfolgen – etwa der Aussöhnung mit Frankreich – und dem starken Aufblühen der Wirtschaft – dem legendären Wirtschaftswunder – zu tun. Die meisten Bürgerinnen und Bürger wollten, dass die CDU weiter regiere, und deren Führungsmannschaft kreierte den idealen Slogan für diesen Zweck: „Keine Experimente!“, so plakatierte Adenauers Partei und gewann haushoch.
Es ist schon komisch, wenn man bedenkt, wie ungeheuer realitätsfern dies in Wirklichkeit war. Denn was die Deutschen unter Führung der CDU einleiteten, war genau das Gegenteil, nämlich das größte Experiment ihrer Geschichte, dessen Ausgang noch offen ist.
Dies konnte damals natürlich niemand so wissen. Aber man kann daraus lernen, wie sehr es sich lohnt, aktuelle Gewissheiten zu prüfen. Welche von den derzeit als unfehlbar verkündeten Parolen könnte nicht so stimmig sein, wie es scheint? Wie falsch ist das, was Menschen in diesen Tagen vorgesetzt bekommen und goutieren und allein deshalb nicht bezweifeln, weil es ihnen gerade in den Kram passt?
Die künstliche Intelligenz
Ein weiteres großes Experiment der hier dargestellten Zeit erlaubt es, auf den eingangs erfundenen Transistor zurückzugreifen und so den Kreis des Kapitels zu schließen.
Als den oben genannten Erfindern im Jahre 1956 der Nobelpreis für Physik verliehen wurde, prägte die Gilde der Wissenschaftler, die sich den langsam leistungsfähig werdenden Rechenautomaten zuwandte und mit ihnen mehr als nur riesige Zahlen verarbeiten wollte, für ihr Arbeitsfeld den Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ („artificial intelligence“), der sofort akzeptiert und verbreitet wurde. Die Vertreter der KI, wie man bald nur noch zu sagen brauchte, waren sicher, jede Eigenschaft des Lernens und Denkens mit ihren Apparaten simulieren und auf diese Weise die menschliche Intelligenz bald hinter sich lassen zu können.
Natürlich ist eine Menge auf dem Sektor gelungen, aber so weit, wie eben angedeutet, ist es nicht gekommen. Die Versprechen der KI sind geblieben, was sie waren, nämlich Versprechen. Und inzwischen meinen viele Experten sogar, dafür den Grund zu kennen: Menschen wissen mehr, als sie berechnen können. Neben der Rationalität steht ihnen noch das Gefühl zur Verfügung, das es wieder zu entdecken gilt, und mir scheint, viele Zeitgenossen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem Weg dazu. Es ist längst selbstverständlich geworden, dass Manager aus dem Bauch heraus ihre Entscheidungen treffen – selbst über hohe Investitionssummen. Sie scheinen damit klüger zu handeln und häufig recht zu behalten. Vielleicht können viele Menschen es auf ihren Gebieten ihnen gleichtun. Es fehlt vielleicht nur der Mut, sich dazu zu bekennen, ohne die jeweiligen rationalen Argumente zu vernachlässigen. Wer weiß, was kommt?