Читать книгу 36 Jahre als Schiffskoch durch die Welt – Teil 1 - Ernst Richter - Страница 4
Ernst Richters Herkunft und Heimat
ОглавлениеDer Beginn
Ich wurde am 18.11.1939 in Hammerunterwiesenthal im Erzgebirge geboren. Als fünftes von sechs Kindern wuchs ich auf dem kleinen Bauernhof meiner Eltern in einfachen Verhältnissen auf und kam am 1. September 1945 zusammen mit 23 anderen ABC-Schützen in unsere kleine Dorfschule. Für meine Eltern war es in der Nachkriegszeit nicht immer leicht, uns mit Schuhwerk, Kleidung und Schulmaterial zu versorgen. Trotzdem wurden wir Geschwister immer sauber und gut gekleidet zur nahe gelegenen Schule geschickt. Die Zeit verging, und mit ihr vergingen die Jahre meiner Kindheit. Unsere Familie, zu der damals zehn Personen gehörten, hatte es oft schwer.
1953, mit noch nicht einmal 14 Jahren, wurde ich mit einem guten Schulabschluss entlassen. Mein Berufswunsch war das Fleischerhandwerk. Meine Eltern hatten keine Einwände und besorgten mir eine Lehrstelle im nahe gelegenen Oberwiesenthal beim Fleischermeister Georg Herrmann. Fürsorglich wurde ich von meinem Lehrmeister auf den Beruf des Fleischers vorbereitet und immer gut behandelt, wenn ich als Lehrling auch des Öfteren länger arbeiten musste. Alles in allem machte mir die Ausbildung zum Fleischer viel Spaß, und, wie sich später zeigen sollte, wurde dieser Lehrberuf nach Erlangung des Gesellenbriefes am 30.08.1956 mit der Gesamtnote „2“ auch der Grundstock meines späteren Berufslebens.
Um mich nach einer Stelle im „Westen“ umzusehen, ging ich damals einfach zur Gemeindeverwaltung, um eine Ausreisegenehmigung aus der DDR in die BRD zu bekommen, was zu jener Zeit kein Problem darstellte.
Heimat ade
Meine Eltern und Geschwister waren damals sehr traurig, als ich zusammen mit meinem Freund Konrad Drechsler kurz entschlossen in die BRD aufbrach, Ziel sollte Dachau in Oberbayern sein, hier wohnte ein Onkel von besagtem Konrad.
Unsere Zugreise ging dann über Cranzahl, Annaberg, Chemnitz, Plauen, Hof und München nach Dachau, wo wir von besagtem Onkel abgeholt wurden.
Zur damaligen Zeit war so eine Fahrt eine Reise in eine andere Welt, eine Welt, wie wir sie beide noch nie gesehen hatten. Schon am Grenzübergang in Hof wurden wir fröhlich begrüßt und auf bayrisch zur Weiterfahrt verabschiedet.
Es war wie in einem Film, und unsere Gedanken beschäftigten sich zielgerichtet auf die Zukunft, auf das, was uns erwartete. Was es war, wussten wir nicht. Aber es würde schon klappen, zurück ins Erzgebirge konnten wir ja immer noch, die Aufenthaltsgenehmigung war zwei Monate gültig.
Im Hause des Onkels meines Freundes wurden wir sehr gut aufgenommen und versorgt, unser Anliegen, gerne hier bleiben und arbeiten zu wollen, war nichts Ungewöhnliches für ihn, und er versprach zu helfen.
Zur damaligen Zeit war es keine Seltenheit, dass Ost-Bürger zu West-Bürgern auf Zeit wurden, meine persönliche Sorge aber blieb, ob es mit der Arbeit auch klappen und ich im gelernten Beruf würde arbeiten können. Meine Sorgen waren jedoch völlig unbegründet, denn schon in der Frühe des nächsten Tages gingen wir mit „Onkel Werner“ zum Arbeitsamt nach Dachau, um die nötigen Formalitäten für eine Arbeitsaufnahme im Westen zu erledigen. Guten Glaubens kehrten wir nachmittags wieder heim.
Das folgende Wochenende sind wir im Hause der Familie Werner Drechsler geblieben. Hier wurden wir sehr üppig versorgt. Die Gespräche drehten sich auch um die Stadt Dachau, wo sich während der NS-Zeit im bekannten KZ schreckliche Vorkommnisse abgespielt hatten. Die Einwohner von Dachau waren noch immer stark erschüttert von der Vergangenheit, obwohl wir jetzt schon 1956 schrieben und der Krieg seit 11 Jahren beendet war. Ich konnte mit meinen 16 Jahren die Trauer nachvollziehen, wenn die Sprache auf die Gräueltaten der SS kam. Am Sonntag besichtigten wir den damals gerade neu angelegten Friedhof für die KZ-Opfer.
In vielen Situationen ertappte ich mich immer wieder bei dem Gedanken um einen Arbeitsplatz hier im Westen. Ich stand nun mal alleine hier in der Fremde, wünschte, mich weiterbilden zu können, erfolgreich die erhoffte Arbeit zu meistern und vielleicht auch meine Eltern und Geschwister etwas zu unterstützen, denn in der DDR gab es, das wissen heute fast alle, zur damaligen Zeit sehr wenig und dann noch alles auf zugeteilten Lebensmittelkarten. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie man damals Millionen von Deutschen in dem sowjetischen Herrschaftsgebiet behandelt hat. Alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse mussten, bis auf kleine Mengen zum eigenen Verbrauch, an die russische Besatzung und in die Sowjetunion abgegeben werden.
Gerade deshalb gingen mir bei meinem damaligen ersten Gehversuch in der BRD der Mund und die Augen gar nicht mehr zu, ich konnte schwer begreifen, in welchem Wohlstand die Menschen 1956 in Westdeutschland schon wieder lebten.
Es wird ernst
Ein paar Tage plänkelten so dahin, dann kam die Nachricht, dass ich eine Arbeitsstelle als Fleischer in Puchheim, einem Ort bei München, annehmen könne, für Unterkunft und Verpflegung sei gesorgt.
– Kirche in Puchheim –
Die Freude, eine Arbeitsstelle gefunden zu haben, war unbeschreiblich, aber im Hinterkopf war mir wohl bewusst, dass damit ein ganz neuer Abschnitt meines Lebens beginnen würde, ganz ohne Eltern und Geschwister, Verwandte und Bekannte. Ich musste mein Leben jetzt wirklich in die eigene Hand nehmen und versuchen, alles alleine zu meistern.
Mit den besten Wünschen wurde ich von Konrad und seinen Eltern zwei Tage später verabschiedet, mit einigen Sachen und einer Fahrkarte nach Puchheim in der Hand. Mit einem ganz normalen Personenzug fuhr ich von Dachau über München-Hauptbahnhof nach Puchheim in Oberbayern.
Dort am Bahnhof angekommen, fragte ich nach der Adresse der Metzgerei und stellte fest, dass ich fast vor der Tür meiner künftigen Arbeitsstelle stand. Es war die damalige Bahnhofsgaststätte mit eigener Metzgerei. Ich war sehr erfreut über die herzliche Aufnahme nach meiner Ankunft, denn ich wurde mit meinen 16 ½ Jahren dort aufgenommen, als wenn ich zur Familie gehören würde. Mir wurde sofort mein Zimmer zugewiesen, wo ich zusammen mit einem älteren Gesellen wohnen konnte.
Dieses ist die Bahnhofsgaststätte in Puchheim, zu der auch eine Metzgerei gehörte. Allerdings war das Gebäude in den späten 1950er Jahren schon restauriert. Das Zimmer, in dem ich damals wohnte (mit Blick auf den kleinen Bahnhof), ist aber gut wieder zu erkennen.
Alles, was anschließend auf mich zukam, empfand ich als sehr angenehm und zuvorkommend, ich wurde meinem Metzgermeister vorgestellt. Alle Familienmitglieder und das Personal saßen zusammen am Tisch in der großen Küche der Bahnhofsgaststätte. Ich meine mich erinnern zu können, dass es eine Art bayerische Schlachtschüssel mit Sauerkraut, Leberknödeln, Leber und Blutwurst gab, dazu schmackhaftes Weißbrot und einen halben Liter dunkles Starkbier. Es war schon am ersten Tag ein großes Erlebnis. An diesem ersten Tag brauchte ich noch nicht gleich zu arbeiten, obwohl ich es gerne gemacht hätte, denn neugierig war ich schon.
Am nächsten morgen wurde ich um Punkt 6 Uhr geweckt und bin mit dem Gesellen um 6:30 Uhr in das saubere Schlachthaus gegangen. Unter Anleitung vom 1. Gesellen wurden mir Auslösearbeiten aufgetragen, die im Grunde nichts Außergewöhnliches für mich waren, aber jede Gegend hat eben doch so ihre Besonderheiten, die mir aber immer freundlich erklärt wurden. Vom Schlachten selber bis hin zur Verwurstung gab es Unterschiede. Ich empfand gerade diese Unterschiede als Herausforderung dazuzulernen, um mein gesamtes Grundwissen zu vervollständigen.
Vom heutigen Wohlstand waren wir noch weit entfernt, wie dieses Bild aus Pucheim zeigt
Es machte mir deshalb nichts aus, immer wieder vom Gesellen oder Meister neue Arbeitsweisen vermittelt zu bekommen. Von den neuen Herausforderungen habe ich mich mit meinem jungen Willen nicht unterkriegen lassen, auch die Bewältigung schwerer Tage von 16 und mehr Arbeitsstunden im Schlachthaus haben mich nicht entmutigen können. Sie wurden ohnehin ausgeglichen von sehr schönen Tagen, an denen ich mit Familienmitgliedern meines Arbeitgebers zusammen sein durfte, bei gutem Essen und Trinken.
Nach einigen Wochen gab es dann auch den ersten Lohn: 100 DM für einen Monat, die freie Station mit Essen, Trinken und Unterkunft musste man ja auch berücksichtigen. Mit diesem Geld konnte man sich zu der Zeit schon mal ein paar Sachen kaufen. Das, was ich nicht vergessen habe, war der Inhalt für ein Päckchen mit Kakao, Schmalz und Schokolade für meine Familie im Erzgebirge, denn ich wusste ja, dass es diese Naturalien dort nicht zu kaufen gab.
Oft genug träumte ich davon, dass es sicher eines Tages in meiner Heimat auch zufriedenstellendere Verhältnisse geben würde, aber, wie wir alle wissen, diese Träume erfüllten sich jahrzehntelang nicht, und das Schlimmste war, obwohl es mir hier im Westen immer besser ging, bestand für meine Lieben in der Heimat keine Hoffnung.
Mein anfängliches Heimweh trat ein wenig in den Hintergrund, als ich eines Tages von einem Gesellen zum Oktoberfest eingeladen wurde. Das ganze Drum und Dran mit der Fahrt dorthin und dem bunten Lichterglanz ließen mich die Welt doch eigentlich in Ordnung erscheinen; wer aus Hammerunterwiesenthal war schon mal auf dem Oktoberfest in München gewesen? Sicherlich keiner!
Ansichtskarten, Briefe und auch kleine Päckchen konnte ich jetzt regelmäßig nach Hause ins Erzgebirge schicken, dank meiner Arbeit hier in Puchheim, die mir nie zu viel wurde. Wenn einmal harte Tage anstanden, dachte ich nur an meine Eltern und Geschwister zu Hause, sie mussten fast alles, was geerntet wurde, an den Staat DDR abliefern.
Heimweh
Die Wochen und Monate verflogen, und plötzlich kam Weihnachten in Sicht. Meine Gedanken gingen immer öfter in Richtung Erzgebirge, wie würde es wohl sein, wenn ich dieses Weihnachtsfest nicht mit meinen Eltern und Geschwistern verbringen könnte. Vorstellen konnte ich es mir nicht, und das Heimweh wurde schlimmer und schlimmer, obwohl wir in der Metzgerei viel mehr Arbeit als sonst hatten und diese mich auch oft genug ablenkte, kreisten meine Gedanken immer öfter in jeder freien Minute nur um mein zu Hause. Mitte Dezember hatte ich dann den Mut, meinen Chef zu fragen, ob ich wohl zu Weihnachten nach Hause ins Erzgebirge fahren könne. Welch ein Segen, auch er war der Meinung, dass ich dieses Weihnachtsfest zu Hause verbringen sollte. Alleine schon diese Zusage vermittelte mir ein unsagbares Gefühl: Ich würde also Weihnachten meine Eltern und Geschwister wieder sehen können! Am 24.12.1956 wurde ich dann von meinem Arbeitgeber mit viel Gepäck auf dem Bahnhof in Puchheim nach München und weiter in Richtung Heimat verabschiedet. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl, zurückzufahren in die angestammte Heimat, zurück zu den Eltern und Geschwistern.
Am 1. Weihnachtstag 1956 kehrte ich also zurück in meine Heimat. Die Freude war groß, als ich wieder zu Hause war. Mit meinen gerade 17 Jahren musste ich nun alles erzählen, was ich erlebt hatte, jeder wollte es ganz genau wissen.
Meine „Erfahrungen“ im Westen gab ich nur zu gerne zum Besten, der große Unterschied zwischen Ost und West brachte zwangsläufig meine Zuhörer immer wieder zum Staunen.
– Mein Elternhaus in Hammerunterwiesenthal im Erzgebirge –
In den nächsten Tagen wurde mir immer öfter bewusst, wie groß doch der Unterschied zwischen Ost und West war, ich verfluchte diese nun schon elf Jahre bestehende Grenze. Inzwischen hatte man sogar noch einen sechsfach gesicherten Stacheldraht zwischen der Tschechischen Republik (früher Böhmen) und der DDR gezogen und diesen Teil auch noch vermint. Jetzt war alles abgeriegelt, um die Bürger der DDR im Land zu halten, es gab zwar noch die grüne Grenze, aber auch dieser Fluchtweg wurde immer undurchlässiger. Trotzdem gab es immer wieder Menschen, die viel auf sich nahmen, um der DDR zu entkommen, ein Land, in dem sie nicht mehr leben wollten und von dem sie glaubten, es würde alles auf sowjetische Art ausgerichtet. Jetzt zur Weihnachtszeit beschäftigten mich diese politischen Probleme nur am Rande, ich war ja zu Hause, und was gab es Schöneres, als ein Weihnachtsfest im Erzgebirge.
Zeit der Entscheidung
Die Zeit um Weihnachten und Neujahr verging wie im Fluge. Ich war wieder in der gewohnten Umgebung in der DDR, die ich doch verlassen hatte, erstens wegen der Verhältnisse hier und zweitens, um in der Fremde viele berufliche Erfahrungen zu sammeln.
Ich hatte noch einige Zeit, es mir zu überlegen, was ich denn nun wollte, eine im Westen ausgestellte Aufenthaltsgenehmigung für den Osten war zwei Monate gültig, danach müsste ich wieder in den Westen oder aber meinen Personalausweis West wieder in einen östlichen einlösen. Da mein Bruder Erich zu dieser Zeit auch schon im Westen, nämlich in Duisburg, arbeitete, kam mir immer wieder der Gedanke, wenn erneut nach Westdeutschland, dann zu ihm ins Ruhrgebiet zu gehen, um dort zu arbeiten, denn das hatte ich inzwischen begriffen, Arbeit gab es im Westen in diesen Jahren genug.
Mir wurde auch immer bewusster, dass es in der DDR wohl immer schlechter als im Westen sein würde. Wohl oder übel musste ich meinen Eltern eröffnen, dass ich wieder in den Westen gehen würde, diesmal aber ins Ruhrgebiet zu meinem Bruder.
Mein Herz schlug zwar immer noch stark für die Heimat, aber die Aussichtslosigkeit der hiesigen Lage, verbunden mit ein wenig Fernweh, ließen mich den Entschluss fassen, mich erneut in den Westen zu begeben, um mehr vom Leben zu haben.
Ich musste es nun meinen Eltern beibringen, dies war nicht ganz leicht. Meine Mutter hatte mich immer liebevoll umsorgt, meinem Vater war es von Anfang an nicht recht gewesen, dass ich in den Westen gegangen war, Arbeit als Fleischer hätte ich auch hier gefunden.
Mit der Begründung, dass ja mein Opa, Vater und Mutter, meine Schwester Lenchen, meine Brüder Hans und Siegfried und meine jüngere Schwester Marianne zu Hause das Familienleben fortsetzten, gab es für mich nur den Weg, mit einem Arbeitsverhältnis in der BRD und durch die Zusendung von Päckchen mit Kakao, Kaffee, Schokolade, Öl und Fett in kleinen Mengen den Familienzusammenhalt zu fördern und das Leben in der DDR für die Daheimgebliebenen etwas erträglicher zu gestalten. Vorbild dafür war mein Bruder Erich, der des Öfteren Päckchen aus dem Westen schickte, sie beinhalteten meist Sachen zum Waschen, Rauchen, Backen, Kochen sowie Kleidung. Ich jedenfalls wollte auch dazu beitragen, das Leben der Familie etwas zu verbessern, immer vor Augen, dass alle Mitglieder der Familie schwere Arbeit auf unserem kleinen Bauernhof verrichten mussten und der Ertrag wegen der Abgaben nach DDR-Gesetz kärglich war.
Mittlerweile war es Mitte Januar 1957, und ich hatte inzwischen Kontakt zu meinem Bruder in Duisburg aufgenommen. Eines Tages war es dann soweit, ich nahm wieder Abschied von meiner Familie. Es war eine tränenreiche feuchte Verabschiedung, morgens um 5:00 Uhr.
Von Hammerunterwiesenthal ging es über Leipzig, Magdeburg und Hannover nach Duisburg. Die Zeiten der Grenzkontrollen mitgerechnet, war es eine Zugfahrt von ca. 30 Stunden. Schuld daran waren die miserablen Schienenverhältnisse im Osten, wo die Züge nur langsam fahren konnten.
Aufgrund der deutsch-deutschen Grenzkontrollen im Osten sowie im Westen gab es auf dieser Fahrt viel zu beobachten. Ich war wegen der gefährlich aussehenden Kontrollen sehr still, hoffte nur, heil in Duisburg anzukommen und freute mich auf das, was auf mich zukommen würde.