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Hafis und die kopflose Liebe
ОглавлениеEr kannte Gottes Willen, denn er kannte den Koran. Er konnte nicht lesen, aber er hatte den Koran im Kopf. Wenigstens die wichtigsten Stellen. Und so wusste er gewiss, dass Sünde war, was die Beiden aus seiner Nachbarschaft hier praktizierten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was die machten, wenn sie alleine waren, es reichte zu sehen, was sie sich in aller Öffentlichkeit trauten. Sie gingen zusammen durch die Straßen, lachten und schmachteten sich an. Fühlten sie sich unbeobachtet, hielten sie gar ihre Hände! Das Kopftuch des Mädchens rutschte ständig nach hinten, das war doch pure Koketterie! Wie sie das Tuch mit ihren schlanken Fingern wieder zur Stirn zog, um es kurz darauf wieder nach hinten rutschen zu lassen! Wie sie das anstellte, wusste der Satan.
Wer Gottes Willen missachtet sieht, und nicht einschreitet, sündigt selbst. Deshalb sprach er sie an. Sie lachten ihn aus. Nein, der Junge lachte ihn aus, das Mädchen sah ihn bloß an. Mit diesem Blick, wie nur Frauen und Schlangen blicken können. Fünf Nächte lang musste er sich gegen diesen Blick wehren. Fünf Nächte lang flüsterte der Satan ihm zu, er solle ruhig Hand an sich legen, wo doch alles so schön bereit stand. Fünf Tage lang wollte ihm das Herz stocken, wenn er sie sah. Fünf Tage und Nächte lang kämpfte er allein gegen den Satan. Dann sprach er mit dem Sheikh darüber. Der Sheikh lobte ihn und versprach Hilfe.
Zwei Tage später waren die zwei Verliebten verschwunden.
Der Sheikh hatte mit den Vätern des Paares gesprochen, die ihnen ihre Liebe untersagten.
Es hieß, man habe sie getrennt. Es ging aber auch das Gerücht, sie wären zusammen weggelaufen.
Allah lenkt uns weise, dachte Hafis, als er wenig später die Ausreißer in Laschkarga wieder sah: unsicher, wie Neulinge aus der Provinz in der Stadt eben auftreten. In ihrer Unsicherheit noch ganz mit sich selbst beschäftigt, hatten sie ihren einstigen Nachbarn noch nicht bemerkt. Der glaubte nicht an Zufälle, der war sich jetzt sicher, einen göttlichen Auftrag erhalten zu haben. Er folgte ihnen. Sie waren vorsichtig geworden und trennten sich, gingen in angemessenem Abstand stadtauswärts. In einem heruntergekommenen Viertel hatten sie ein Liebesnest gefunden. Er beobachtete sie. Nie betraten und verließen sie gemeinsam das Haus. Das erleichterte einiges. Am Abend trat der Junge auf die Straße, vielleicht, um Besorgungen zu machen. Er folgte ihm. Allah lenkte den jungen Mann in eine menschenleere Gasse, er musste jetzt handeln, jetzt! Er lief ihm hinterher, schlich sich heran und schlug dem Sünder einen faustgroßen Stein auf den Hinterkopf. Das kurze Gefühl des Triumphs wich der Sorge, von jemandem gesehen zu werden. Er zog den Bewusstlosen durch ein halbverrostetes Tor und fand sich mit ihm, ja, auf einem Friedhof wieder - alles lief nach Gottes Plan! Was war nun zu tun? Da lag ein Sünder, der, anstatt auf Allah und die Vernunft zu hören, lieber auf die Stimme seines Körpers gehört hatte. In seinem heiligen Zorn trennte er also dem Unseligen den Kopf vom Körper. Nun konnte die Sünderseele entweichen, Gott allein wusste, wie mir ihr zu verfahren war. Dann ging er entschlossen auf Teil zwei seiner Aufgabe zu. Er ging in das Haus zu dem Mädchen und sagte: „Mit deinem Freund ist was passiert, komm mit!“ In panischer Angst folgte sie ihm. Als sie den enthaupteten Geliebten sah, brach sie ohnmächtig zusammen. Nun war es ein Leichtes, ihrer kopflosen Beziehung ein symbolträchtiges Ende zu setzen. Allahu akhbar!