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Es war die Nachtigall...
ОглавлениеSchwabing! Der Name leuchtete hell wie der Abendstern. Schwabing war viel mehr als nur ein Stadtteil Münchens, Schwabing - das war eine Verheißung! Ich kam vom Land und war sehr jung - in einer Zeit, die viel versprach und in der man verwegen genug war, die Versprechen seiner Zeit einlösen zu wollen.
Ich war in München um Freunde zu besuchen, die es hierher verschlagen hatte. Ach, was rede ich da, damals verschlug es niemanden irgendwo hin, damals ging man fordernd einem besseren Leben nach. Hatte unseren Eltern noch das materielle Überleben ausgereicht, so jagten wir ganz ungeniert dem persönlichen Glück hinterher. Ich jedoch, wie gesagt, besuchte zunächst mal bloß Freunde. Von einem bisschen mehr Glück allerdings hatte ich durchaus geträumt, zumal es in Schwabing quasi auf der Straße lag, falls meine Freunde nicht allzu dick aufgetragen haben.
Nun fuhren wir also durch das frühherbstliche Schwabing, vor den Scheiben des schon etwas betagten Opel Kadetts zogen die Lichter der Leopoldstraße vorbei und ich versuchte, meine Begeisterung auf einen Grad zu treiben, der Schwabing angemessen schien. Meine Freunde forderten mein Erstaunen ja nachgerade ein, dasselbe Erstaunen, mit dem sie selbst vor gar nicht langer Zeit nach München gekommen waren.
„Na, was sagst du?“
„Super!“ sagte ich. Immer wieder „Super!“ Genau das wollten sie hören. Sie waren jetzt Städter, wenn nicht gar „Münchner“ und sie genossen ihren persönlichen Vorsprung vor der Provinz und den Provinzlern. Die Stadt war ein Ozean von Möglichkeiten und das Dorf war Langeweile, darüber war man sich einig. Und gleich würden wir unser angerostetes U-Boot verlassen und in diesen fantastischen Ozean eintauchen.
Wir fingen mit dem Pils-Doktor an. In Bayern gilt Bier seit jeher als Nahrungsmittel, das war mir klar; aber Bier als Arznei, das fand ich originell! Der Name hielt meinen Erwartungen leider nicht stand, die Kneipe hatte überhaupt nichts medizinisches, oder wenigstens doktorales an sich. Stattdessen fuhr eine Eisenbahn kreuz und quer durchs Lokal. Die eigentliche Attraktion aber war der Wirt. Er hieß Herbert, wenn ich mich recht erinnere, und er war ein Genie, das weiß ich noch genau. Herbert wirbelte, als hätte er sechs Arme und an jedem Arm zwei Hände und nebenher unterhielt er ganz entspannt seine Gäste. Herbert wusste den neuesten Klatsch und konnte zur Not auch über Fußball reden, er hörte sich die Sorgen der Leute an und konnte im nächsten Augenblick über die aktuellen Kinohits plaudern.
„Grüß euch, wie geht’s? Ihr seid zu dritt? Hinten ist noch ein Tisch frei.“ Meine Freunde bedauerten, dass die begehrten Thekenplätze alle besetzt waren und so stellten wir uns im hinteren Raum an den kleinen freien Stehtisch. Durch das offene Fachwerk konnten wir Herbert wirbeln sehen. Er verließ seinen Tresen nie, hielt aber Sichtkontakt zu allen Gästen – einer meiner Freunde hob die Hand mit gespreizten Fingern.
„Drei Pils? Ja, gerne, kommen gleich!“
Drei oder vier Züge versorgten das gesamte Lokal. Herbert merkte sich alles: die Vornamen und die Vorlieben seiner Stammkunden und besonders ihren Getränkeverzehr. Ohne Stift und Bierdeckel. Ein Kopfmensch; vielleicht deshalb Pils-Doktor? Wieder hielt einer der Züge über dem Tresen. Herberts flinke Hände fischten die leeren Gläser herunter, wischten die Waggons ab und luden sie mit frischen Getränken voll. Mit einem Pfiff zuckelt die Bahn los. Unsere Biere verschwanden kurz im Winkel, der von uns aus nicht einsehbar war, schnaufte durch ein offenes Fenster, verschwand nach zwei, drei Metern abermals hinter der Garderobe, ehe die Lok im Bogen auftauchte, der zu unserem Tischchen führte. Davor hielt er noch zwei Mal an, zwei Martini und vier trockene Chianti wurden abgeladen, dann waren wir an der Reihe. Ich konnte nicht ausmachen, wie Herbert den Zugverkehr steuerte und fragte meine Freunde. Eines seiner großen Geheimnisse, sagten sie. Herbert sei ein Magier. Zug um Zug tranken wir uns in Stimmung. Das Publikum war gut gemischt. Viele Jugendliche unter einigen Älteren. Ältere, das waren für uns damals alle über dreißig. Frauenanteil etwa ein Drittel. Nicht schlecht für ein Bierlokal. Leider fast alle in Begleitung. War eher ein Treff zum Plaudern und sich sehen lassen und nicht so sehr zum Kennenlernen. Meist Leute die sich gerne reden hörten. Und worüber die so redeten! Da musste einer schon die besseren Zeitungen lesen, um die zu verstehen. Nach vier, fünf Pils waren wir dann reif für die Disco. Was war schon ein Bierzug und ein wirbelndes Genie, wenn anderswo ein Paradies mit tanzenden Engeln wartete, ein „erotisches Schlaraffenland“ wie ein berühmter Münchner einmal sagte. Wir gingen nach vorne um zu zahlen. Herbert wusste genau, wer was getrunken hatte, kassierte mit flinker Hand und sagte: „Servus, bis zum nächsten Mal!“
Ich schlug vor, zu Fuß weiter zu gehen, oder ein Taxi zu rufen. Er hätte nur drei Bier getrunken, sagte Heinz, und:
„Wie willst du ohne Auto Miezen abschleppen?“
Er sagte es so, als wäre ganz Schwabing voller Miezen, die nur darauf warteten, abgeschleppt zu werden. Mir wurde ganz heiß bei dem Gedanken.
Bald standen wir vor dem Acapulco. Ohne Krawatte dürften wir da nicht rein, sagte der Türsteher.
„Komm, mach keinen Scheiß, Alter, wir waren doch gestern ohne Krawatte drin.“
„Ja gestern.“ Der Gorilla grinste. Heute sei eben Krawattenzwang und deshalb... er wedelte mit der Hand, als wären wir lästige Fliegen. Türsteher ist einer jener Berufe, in dem sich selbst Idioten einer Illusion von Macht hingeben dürfen.
Aber richtige Nachtschwärmer lassen sich von solch kleinen Rückschlägen nicht entmutigen, das Blue Morphus nahm uns mit weit geöffneten Flügeltüren auf.
Discos waren damals mehr als Zappelschuppen und Drogenhöhlen, Discos in den frühen siebziger Jahren waren noch Tempel! Zwar wurde auch darin mehr gezappelt, als getanzt, auch wurden Drogen konsumiert, doch es stand noch etwas darüber: der Glaube, dass Spaß der wahre Sinn des Lebens sei. Wir waren nicht cool, wir waren locker und lässig.. Heute sind Discos bloß Fluchtburgen vor der Wirklichkeit, in den frühen Siebzigerjahren waren sie Kultplätze einer Genussreligion; unser oberster Glaubenssatz: Das Leben ist Komödie und die Welt ist unsere Bühne!
Auch im Blue Morphus kreiste die Welt um tanzende Leiber und die Lichtlanzen des Disco-Igels blitzten im neonblauen Trockeneisnebel nach einer kosmischen Choreografie.
“Stairway To Heaven“ war folgerichtig die Hymne aller Himmelsstürmer und tatsächlich säumten engelhafte Wesen in elfenhaften Bewegungen unsere „Treppe in den Himmel“. Hier trank man kein gewöhnliches Bier, hier schlürften die Mädels genüsslich Cocktails und Jungs nippten weltläufig an Bourbon mit Eis.
Heinz und Harry zappelten im zuckenden Licht, ich stand an der Bar und ließ meinen Blick von Engel zu Engel wandern, da tauchte ein weizenblondes Geschöpf in knappem Glitzerkleidchen aus dem blauen Dunst neben mir auf:
„Ich bin Daphne... hi!“
„Und ich bin Ernst.“
„Ist mir schon aufgefallen, ich mag ernste Typen.“
„Sorry, ich heiße wirklich so.“
„Das wundert mich nicht“ sagte sie, „trinkst du was mit mir?“
‚Die will einen Drink abstauben‘ dachte ich. Falsch, sie wollte mir einen Drink ausgeben. Ohne mich zu fragen, was ich trinken wollte, schob sie mir einen Cuba libre zu: libre war immer gut.
„Cheers!“
Ihr Lächeln schien einstudiert.
„Ich bin Sängerin“ sagte sie, „aber erst ganz am Anfang. Hier trifft man immer Leute aus der Branche, ich bin sozusagen beruflich hier.“
„Da bist du an den Falschen geraten, ich bin nur ein einfacher Arb...“ Sie legte mir den Finger auf den Mund:
„Du bist nicht einfach“ sagte sie, „ich hab dich angesprochen, weil du eben nicht einfach bist.“
Wir lächelten uns verlegen an und sahen uns tief in die Augen: da erkannten sich zwei dunkle Seelen, die sich im Blitz-lichtgewitter des Vergnügens aneinander festhielten. Hier, im Tempel der Leichtigkeit, wo das Leben als Spiel inszeniert wurde, waren wir beide Fremdkörper. Bald kamen meine Freunde und holten uns aus unserem schwermütigen Schweigen. Sie, die Städter, behandelten mich wie einen Lehrling, der sich geschickt anstellte.
„Da schau her, kaum lässt man ihn eine Weile allein, schon legt er los...“
„Ja und wie, willst du uns dieses schöne Mädchen nicht vorstellen?“
„...“
Die Schmeicheleien meiner Freunde gefielen Daphne, sie schäkerte und flirtete gekonnt mit ihnen. Ich bekam nur noch den einen oder anderen sehnsüchtigen Blick ab. Daphne war ein Ball, mit dem meine Freunde jonglierten, während ich die Schwerkraft war, die ihn anzog. Heinz und Harry zogen sie sanft, jeder an einer Hand, auf die Tanzfläche und flatterten um Daphne herum, wie Motten um das Licht.
Daphne tanzte.
Die meisten anderen zappelten oder bewegten sich irgendwie zum Takt der Musik, Daphne dagegen verstand zu tanzen, wie nur wenige, das heißt, bei ihr verschmolzen Bewegung, Gefühl und Musik zu einer Einheit. Ich beneidete sie. Ein Holzklotz wie ich würde nie so tanzen können.
Zurück an der Theke, schien sie wie aufgepumpt mit Fröhlichkeit. Sie arbeite, erzählte sie euphorisch, in einem Studio gerade an einer Platte und gab sich überzeugt, dass diese Platte ihren Durchbruch bedeutete. Heinz und Harry beflügelte die Aussicht, mit einem künftigen Star zu flirten.
„Wir wünschen dir viel Erfolg. Hoffentlich kennst du uns dann auch noch, wenn du mal berühmt bist...“
Daphne versprach, nicht abzuheben und wir nahmen sie beim Wort. Sie nahm mich bei den Händen. Mir wurde leicht schwindelig und als ich wieder halbwegs klar gucken konnte, standen wir mitten auf der Tanzfläche. Sie ließ meine Hände nicht los, sie versuchte, mich in ihre Choreographie zu integrieren und ich versuchte meine Verrenkungen ihrem Tanz anzupassen. Ich fühlte sehr wohl, worauf es ihr ankam, wirkte eher komisch neben ihr. Weil unsere äußere Harmonie sich in Grenzen hielt, tanzte ich mehr mit den Augen, sie passte ihr Temperament meiner Zurückhaltung an. Mein Ungeschick lachten wir weg. Nach drei Tänzen wirkte Daphne wie ein Stern, der in der Morgendämmerung seinen Glanz verliert. Sie spürte das und wir zogen uns wieder in die Nacht, sprich: an den Tresen zurück. Harry und Heinz beherrschten die Rituale der Nacht und der Fröhlichkeit und schafften es, Daphne zurückzuholen in den Nebelglanz des puren Vergnügens.
Wir waren Abenteurer, keine geschulten Verführer. Wir gingen nach keinem Plan und Schritt für Schritt vor, sondern eruierten die Möglichkeiten spontan und hielten uns an das alte Münchener Motto: „A bisserl was geht immer!“
Tief in der Nacht, schon näher am Morgen bot Heinz Daphne an, bei ihm zu Hause noch einen Absacker zu nehmen. Zu unserer Überraschung willigte sie ein. Für Heinz und Harry ein sicheres Zeichen, dass „ heut‘ sogar a bisserl mehr“ ging. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie das „bisserl mehr“ aussehen könnte. Denn dass Daphne sich mit allen dreien einlassen würde, wollte ich mir nicht vorstellen und wir waren auch nicht so abgebrüht, wie wir uns gaben, keiner von uns hätte beim Sex die anderen zusehen lassen. So konnte die unausgesprochene Lösung nur lauten: Falls Daphne mit einem von uns schlafen wollte, würden die anderen ihm das Schlafzimmer samt Mädchen überlassen. Daphne wurde erst im Auto die Situation richtig klar.
„Ich mach‘ das sonst nicht, dass ich einfach so mit drei fremden Kerlen mitgehe.“ Sie wartete auf eine Reaktion. Wir schwiegen.
„Aber euch vertraue ich, ihr seid anständige Jungs.“
Heinz und Harry zwinkerten sich verschwörerisch zu:
„Na logisch!“
In Heinz‘ kleiner Wohnung verflüchtigte sich die Weich-zeichnung der nächtlichen Illusion und die Konturen der Wirklichkeit traten immer stärker hervor. Heinz und Harry versuchten mit Scherzen und Whisky den Glanz der Nacht zu erhalten und die trübe Realität außen vor zu halten. Daphne flüchtete in ihre Karrierepläne. Sie habe sich entschlossen, Sängerin zu werden, weil: „...wenn Leute wie Juliane Werding oder Marianne Rosenberg Stars werden, dann schaffe ich das erst recht.“ Ihre Vorbilder seien allerdings Joan Baez und Melanie Safka.
Sie wolle mit ihren Liedern mehr als nur Trallala machen. Wir unisono:
„Das schaffst du auch. Ganz sicher.“ Genau das brauchte sie. Und doch reichte alle Zustimmung und Ermunterung nicht aus, sie in eine Stimmung zurückzuholen, die irgendeine erotische Bereitschaft erkennen ließ. Ja, sie schien es geradezu darauf anzulegen, uns mit ihrer Karriere in spe zu langweilen. Heinz und Harry jedenfalls ließen in ihrem Balzverhalten spürbar nach und irgendwann sah Daphne auf die Uhr, wandte sich an mich und sagte völlig überraschend:
„Begleitest du mich nach Hause? Ich wohne nicht weit von hier.“ Und weil ich zögerte, sagte sie:
„Bitte, ich geh‘ nicht gern alleine durch die Nacht.“
Und so gingen wir los.
Unten auf der Straße hakte sie sich bei mir unter und weil sie ein wenig fror, legte ich den Arm um ihre Schulter. Bald gingen wir wie ein Liebespaar durch das nächtliche München. Wir gingen und gingen und gingen. Hatte sie nicht gesagt, sie wohnte nicht weit? Mir kam es vor, als liefen wir stundenlang, viele Kilometer weit. Irgendwann sagte sie:
„Ich hab‘ gleich erkannt, dass du ein tiefsinniger Mensch bist. Nur deshalb habe ich dich angesprochen. Ich hab‘ irgendwie gefühlt, dass du exakt das schreiben könntest, was ich singen möchte. Du siehst aus, als würdest du Gedichte schreiben, warum also nicht auch Liedertexte. Für mich. Mir aus der Seele geschrieben, verstehst du?“
„Da überschätzt du mich leider, das kann ich nicht. Ich schreibe keine Gedichte. Ich mag schon Lieder mit gescheiten Texten, ich höre gerne Jacques Brel, George Moustaki oder Leonard Cohen und ich bewundere Leute, denen so was einfällt - aber ich doch nicht!“
„Du hast es bloß noch nicht probiert, aber ich fühle dass es in dir steckt, du musst es nur rauslassen, versuch‘ es einfach mal. Tu es für mich.“
Dann standen wir vor ihrer Tür und ich sagte:
„Na dann...“
„Komm mit rein!“ sagte sie und ließ mir keine Möglichkeit zum Widerstand. Sie nahm meine Hand und zauberte ein Lächeln auf ihr müdes Gesicht, das mir keine Wahl ließ. Ihre Wohnung war eher die einer Träumerin, als die einer Sängerin. Poster ihrer Vorbilder prangten an allen Wänden.
„Hast du Hunger, soll ich uns was kochen?“ Ich lachte. Klar hatte ich Hunger, aber die Vorstellung, jetzt um halb fünf Uhr morgens zu kochen schien mir absurd. Stattdessen holte ich mir aus ihrem Kühlschrank ein paar Scheiben Wurst, eine Scheibe Käse und ein Gürkchen und packte das alles zwischen zwei Brötchenhälften. Wir bissen abwechselnd davon ab und lachten dabei. Daphne machte eine Flasche Rotwein auf. Die Wurst schmeckte leicht ranzig, der Wein leicht fuselig. Es war ein herrliches Mahl, ging es doch gar nicht mehr um den Genuss, es ging nur noch um die Pose. Sie beharrte auf unserer Seelenverwandtschaft und malte sich künftige Erfolge aus, den ihre Lieder mit meinen Texten haben würden.
„Noch halte ich mich als Friseuse über Wasser, aber mit der nächsten Platte habe ich einen Fuß in der Tür.“ Da singe sie nämlich nicht nur im Chor für andere, wie bisher, sondern ein Duett mit „ ...nun halt dich fest: mit Bata Ilic!“ Der sei auch bloß ein Schnulzenheini, verhelfe ihr aber zu größerer Bekanntheit. Danach wäre es ein Leichtes, mit eigenen Liedern zu reüssieren. Je verbissener sie ihre künftigen Erfolge beschwor, desto mehr zweifelte ich daran und heuchelte das Gegenteil. So geriet alles mehr und mehr zur Pose und dazu gehörte am Ende auch Sex: wir waren es uns - oder vielmehr der Situation schuldig, Sex zu haben. Das wusste ich, obwohl ich mit meinen 19 Jahren noch keinen Sex gehabt hatte. Gerade deshalb musste ich jetzt! 19 Jahre alt und noch keinen Sex gehabt - die Freunde hatten das geahnt und begonnen, Witze darüber zu machen: „Auf dem Land lässt man sich eben mehr Zeit!“
Wann, wenn nicht jetzt?
Da war eine schöne, junge und willige Frau, die, was zwar unwahrscheinlich, aber doch möglich war, bald berühmt sein könnte - wenn ich mir eine solche Chance entgehen ließ, war mir nicht mehr zu helfen.
Und die junge Frau?
Vielleicht fühlte sie sich als Künstlerin noch dem „Sex-Drugs-And-Rock-n-Roll-Image“ verpflichtet, deren Sturmausläufer noch durch die siebziger Jahre wirbelten. Wahrscheinlich aber sah sie in dem schwerblütigen Jungen, der ich war, tatsächlich einen intellektuellen oder emotionalen Input für sich und ihre Karriere. So geriet mir das „erste Mal“ zur trotzigen Pflichtveranstaltung. Selbst eine schöne Frau wie Daphne konnte nach einer solchen Nacht nicht mehr duften wie eine Rose. Wir ergaben eine Mischung aus Schweiß, Parfum und Rasierwasser, Schminke, Tabak und Sodbrennen. Wir hätten vorher duschen sollen, stattdessen spielten wir uns gieriges Begehren vor, das keinen Aufschub duldete. Während wir uns die Kleider von den Leibern schälten, versuchten unsere Lippen sich immer wieder zu vereinen, wie zwei irre Schmetterlinge. Endlich nackt, umschlangen und küssten wir uns. Alkohol, Nikotin und Magensäure - der Geschmack einer langen Nacht lag auf ihrer Zunge, die meine, die genauso schmeckte, zum Tanz aufforderte. Wenn sie so singt, wie sie riecht und küsst, dann Karriere ade, dachte ich. Ich hob sie hoch, sie schlang ihre Beine um mich, so trug ich sie zum Bett. Wir ließen uns fallen und obwohl ich achtzugeben versuchte, prallten unsere Körper unsanft aufeinander. Schmerz gehört zur Leidenschaft, auch wenn er durch Ungeschick entsteht. Daphne brachte sich in Stellung und ich rutschte in sie. Etwa 45 Sekunden lang rammelte ich wie wild, dann drückte Daphne mit ihren Fersen meinen Hintern gegen sich. Nun gab es kein Halten mehr, mein Erstes Mal ging seinem überstürzten Höhepunkt entgegen.
„Bin ich deine Erste?“
„Ja...“ Eine weiterführende Erklärung küsste sie weg, dann sagte sie:
„Du bist süß?“ Nun wollte sie kuscheln und mich vielleicht auf eine zweite Runde vorbereiten. Mittlerweile aber war mir ihr Geruch unerträglich geworden.
„Darf ich bei dir duschen?“
„Da vorne links.“
Als ich aus der Dusche stieg, ging Daphne hinein.
„Schade, dass ich so ein kleines Bad habe, sonst hätte wir zusammen duschen können.“
„Die berühmte Sängerin Daphne wird bald ein Bad haben, größer als ein Wohnzimmer.“ Daphne lachte kokett.
Ich zog mich an und ließ meine Blicke quer durch die Wohnung schweifen. Auf dem Küchentisch lag ein Brief, an Gerti Krautegger gerichtet, von Hans und Frieda Krautegger, Burghausen. Ich lächelte. Die Gerti aus Burghausen hatte sich ihren bayrischen Dialekt abgewöhnt, wie so viele, die von München aus eine deutschlandweite oder gar weltweite Karriere starten wollten. Auch schaffte man das nicht als Gerti Krautegger in einem Jahrzehnt, das sich urban, anglophil und weltoffen gab und alles Herkömmliche und Ländliche verachtete.
Daphne - der Traum von Gerti Krautegger. Gerti war 23, wie sie mir erzählt hatte, und damit vier Jahre älter als ich. Urplötzlich hatte ich Angst vor dieser Frau. Wer in diesem Alter solche Träume hat, ist schwer berechenbar! Hastig blickte ich mich um, sah auf einem Regalbrett überm Küchentisch einen Notizblock und einen Stift.
„Es war wunderschön mit dir, Daphne, ich wünsche dir viel Erfolg!“
Für den Namen blieb keine Zeit mehr, im Bad verstummte schon das Rauschen des Wassers und mit ihm Daphnes Lied. Ich schlüpfte durch die Tür und zog sie leise zu. Bis zur ersten Straßenecke lief ich wie ein Irrer. Danach fühlte ich mich richtig mies. War das ein würdiger Abgang? Nur weil sie schlecht roch, oder weil sie noch träumte? Sollte ich zurückgehen, mich entschuldigen und richtig verabschieden. Dazu hatte ich weder Kraft, noch Mut.
„So what, that’s live“ redete ich mir ein, „schließlich wollten wir beide ein Abenteuer.“ Ein Steinchen im Leben, das einmal wie ein glitzerndes Mosaik vor, nein, hinter uns liegen wird.
Dann stellte ich mit Entsetzen fest, dass ich mich verlaufen hatte. Ich wusste zwar den Namen der Straße, in der Heinz wohnte, traf aber niemand, den ich hätte fragen können. Mehr als zwei Stunden irrte ich durch die Stadt, ehe ich auf eine Straße traf, die mir bekannt vorkam. Ja, hier waren wir schon einmal durchgefahren. Doch zu Fuß und hundemüde schienen die Wege endlos zu sein. Nach geschlagenen drei Stunden Fußmarsch kam ich total erschöpft an. Heinz und Harry saßen gerade beim Frühstück. Sie grinsten mich an:
„Na, wie war sie?“
„Daphne? ein Traum!“
Dann sangen die Esel aus vollem Hals...
„...und als ein Mannnnn sah er die Sonne aufgeheeeen.“
„Ja“ unterbrach ich sie, „unsere Väter mussten noch in den Krieg ziehen, um Männer zu werden, uns reicht es, zu vögeln. Wie haben wir es doch gut.“
Sie lachten, sie verstanden nicht, also sagte ich:
„Leben zerstören oder Leben erzeugen - unter dem wollen wir keine Männer sein.“
Harry versuchte, wie immer, mich aufzuziehen mit meinem Hang zur Nachdenklichkeit:
„Wunderbar, daraus kannst du gleich einen Text für deine Nachtigall machen.“
„Gute Idee“ sagte ich und reimte los:
„Männer zeugen, Männer töten, Männer spielen gerne Gott...“
Die verdutzten Blicke meiner Freunde ließen mich sofort wieder innehalten:
„Das war mehr als ein Landei in einer Nacht verkraften kann“ meinte Heinz mit gespieltem Mitleid und Harry sagte:
„Hau dich erst mal aufs Ohr und ruh dich aus, das gibt sich wieder.“
‚Siehst du Daphne‘, dachte ich, unsere Lieder werden nicht viele offene Ohren finden‘.