Читать книгу Fliehkräfte - Ernst von Wegen - Страница 8
Die zweite Haut
ОглавлениеHeraklit sagt, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Alles verändert sich ständig, nichts bleibt, wie es ist. Beim nächsten Mal wird der Fluss schon anders sein. Man kann also nicht zurückkehren – nirgendwo hin!
Auch ihr Dorf war nicht mehr so, wie sie es einst verlassen hatte. Einige neue Häuser, einige alte renoviert. Stellenweise auch fortgeschrittener Verfall, wo zu ihrer Zeit noch Leben war. Vor einer Bruchbude stand ein Schild: „Der Schandfleck muss weg!“ Unterschrieben von einer „Initiative Dorf-erneuerung“. Sie traf auf Menschen, die sie nicht kannte: einige Neubürger; erwachsen gewordene Kinder, nicht wieder zu erkennen. Es war nicht mehr „ihr“ Dorf und das war gut so! Über die Verstorbenen war sie besser informiert. Ihre Mutter war nicht sehr schreibgewandt aber hin und wieder brachte sie es zu doch zu einem Brief. Der Mutter waren die Verän-derungen nicht so aufgefallen oder nicht wichtig genug, um der Tochter in der fernen Stadt mitgeteilt zu werden, und so dominierten als Neuigkeiten immer die Todesfälle. Auch am Telefon,
- Stell dir vor, unser Nachbar, der Bertel – tot! Erinnerst du dich noch, wie er dir immer Schokolade gab!
- Der Bauer vom Schattenberghof, den musst du doch noch kennen! Schlaganfall mit 58. Vorgestern gestorben.
- Der alte Berner – tot!
Namen, die der Tochter noch vertraut sein mussten. Immer wieder warf die Mutter der Tochter Vertrautes hinterher und schürfte nach allem, was das Mädel mit Zuhause verband. Und meist fielen ihr nur die frisch Verstorbenen ein. Die Verlegenheit greift immer auf das Nächstliegende zurück und der Tod ist immer eine Nachricht wert. So starben in jedem Brief, in jedem Telefonat die Vertrautheiten dahin. Die Mutter sah den Schwund an Verbindungen mit Wehmut, der Vater mit mühsam verborgener Ratlosigkeit. Die Mutter immer einsamer, der Vater immer schweigsamer – ihre tapferen Eltern, die bescheiden, demütig und zäh ihr Leben bewältigten; nun saßen sie in ihrem Lebenstraum, in ihrem eigenen Haus, wie in einer Trutzburg, an deren Mauern alle Veränderungen abprallen sollten.
Lena wollte Veränderungen, wollte „...schon immer weg aus dem Dorf“, schrieb sie mir später. Schon immer! Daraus sprach die früh erwachte Sehnsucht nach Selbständigkeit, wie sie nur wenigen gegeben ist. Freiheit nannten wir das damals, als das Wort noch einen frischen Klang hatte. Deine Freundinnen kicherten und schwärmten von der großen Liebe und du sprachst von „Freiheit“. Außenseiterin, schon immer, und überall.
Lena Herschel ging durch das Dorf, das sie „meinen Geburtsort“ nannte. Nicht Heimatort, nicht alte Heimat, nicht frühere, oder ehemalige Heimat.
Vierte Klasse, Heimatkunde, ja, so hieß das Fach, ich erinnere mich: Ein Aufsatz, Thema: „Mein Heimatort“. Du gabst eine dürftige Sammlung von Gemeinplätzen ab, die du bei deinen Klassenkameradinnen abgelinst hattest. Selber war dir nichts Brauchbares dazu eingefallen. Heimat macht dich noch immer sprachlos. Mutlos auch.
Lena empfindet nichts, wenn sie durch ihren Geburtsort geht: keine Abneigung, die sie sich manches Mal vornahm, wenn sie daran dachte, wie eingeschnürt sie sich hier gefühlt hatte, wie unmöglich ihr eine Entwicklung in diesem Dorf gewesen war; auch Wehmut empfindet sie nicht. Der Kindergarten, die Schule rufen blasse Bilder in Erinnerung aber keine Gefühle; die Bäckerei nicht und nicht der Kramladen, der mit seinem schielenden Eigentümer in den niedrigen Gewölben noch genauso aussieht wie „zu ihrer Zeit“; das alte Rathaus nicht, das sich heute ein Café und eine Arztpraxis teilen und auch der Brunnen in der Mitte des Dorfplatzes nicht, neben dem sich die schlanke Mariensäule in den Himmel schiebt. Einige Leute erkennen sie wieder, erkundigen sich nach ihrem Befinden und packen die Vergangenheit aus. Lenas knappe Antworten machen die Leute verlegen. Hinter ihrem Rücken spürt sie den Tratsch.
- Die Frau Doktor trägt ihre Nase reichlich hoch!
- Ja, die kleine Herschel hat wohl vergessen aus welchem Stall sie kommt.
Andere wissen verlässlich:
- Die war doch früher schon so eigenartig, die gehörte noch nirgendwo richtig dazu.
Das Geschwätz sollte ihr gleichgültig sein. Sollten die ruhig glauben, sie sei überheblich. Wie sollten auch andere ihre Befangenheit verstehen, die ihr selber nur so mühsam verständlich wurde? Am Pranger blieb Lena stehen. Der steht schon seit dem Mittelalter hier. Stimmte das Brotgewicht nicht, wurde der Bäcker an den Pranger gekettet und jeder durfte ihn nach Herzenslust beschimpfen und bespucken. War ein Pfund Mehl zu wenig im Sack, erging es dem Müller ebenso. Hart, aber wirkungsvoll, die Gerichtsbarkeit der Abschreckung. Auch Sittenverstöße wurden so geahndet, sowie Kritik am Klerus und an der weltlichen Obrigkeit. Schlechte Zeiten für Andersdenkende. Sie haben den Pranger sorgsam restauriert, sie stehen zu ihrer Geschichte und pflegen die Tradition. Heute spuckt man bloß nicht mehr. Sehr zum Bedauern mancher Leute hat man der Öffentlichkeit diese erbauliche Art der Exekutive entzogen. Heute müssen sich die Leute mit schiefen Blicken und gehässigem Tratsch bescheiden. Das Geschwätz, redet Lena sich ein, lasse ich nicht mehr an mich heran, das Gerede geht mir nicht mehr unter die Haut...
Genau betrachtet gab es noch nie gute Zeiten für Anders-denkende, hier nicht und nirgendwo!