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Spiegel-Reflex

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I

Der Mann, der sich vor mir im Spiegel rasiert, ist mir bei aller Ähnlichkeit merkwürdig fremd. Halb neun, denke ich, und die anderen arbeiten längst. Der Typ im Spiegel schabt eifrig Barthaare aus meinem Gesicht. Ich spüle das Rasiermesser unterm Wasserstrahl ab. Mein Gegenüber langweilt mich, ich wende mich ab, schaue durch das offene Fenster. An den Rauchwolken erkenne ich, dass Freitag ist. Freitags, und nur freitags, dürfen in unserem Dorf Gartenabfälle verbrannt werden. Deshalb werden freitags in allen Gärten Abfälle verbrannt, gnadenlos!

Abfälle? Zum Problem gewordene, organische Materie.

Mein Alter Ego sieht mich fragend an: Ob es denn sein muss, diese Stinkerei hier, ob denn Verbrennung als Entsorgung pflanzlicher Abfälle noch zeitgemäß sei?

Zeitgemäß, denke ich und schnuppere. Meine Nase lässt sich sofort verführen, der Geruch plaudert von früher, vom elterlichen Garten im Herbst; vom Feuer, um das wir Kinder mit glühenden Wangen saßen. Aus feuchten Kartoffelstauden wolkte schwarzgrauer Rauch, ein Spielzeug des Windes. In der Asche brieten wir frische Kartoffeln, spießten die verkohlten Knollen auf Holzstöckchen und verbrannten uns Finger und Lippen daran. Ich spür heute noch den Geschmack im Mund, sobald Rauch mir in die Nase steigt. – Zeitgemäß!

Meine Nachbarin, das sehe ich, ist ärgerlich, weil Flugasche ihre Wäsche versaut. Am Nachmittag wird sie selber Feuer machen.

Mein Spiegelbild will endlich fertig rasiert werden. Wozu diese Hast, frage ich, der Tag ist ohnehin gelaufen. Guck nicht so verständnislos!

Ich schaue wieder aus dem Fenster und gebe mir Recht: Es war gut, zu Hause zu bleiben. Du in deinem flachen Viereck kannst mir heute keine Eile gebieten! Um ihn zu ärgern, seife ich das ganze Gesicht noch mal ein und zeichne mit dem Messerrücken Muster in den Schaum.

Zwanzig vor neun und die anderen arbeiten. Freitags besonders fleißig, weil vieles noch vor dem Wochenende erledigt werden muss; freitags besonders eifrig, weil auf der Zielgeraden noch einmal Kräfte frei werden. Am Nachmittag fährt man dann in die nahe Stadt einkaufen, oder geht in den Garten, Abfälle verbrennen, freitags. Ein paar Verrückte waschen auch ihre Autos, obwohl eigentlich Samstag der Autowaschtag ist.

Während die Nachbarin schimpfend die Wäsche von der Leine nimmt, sieht sie gegenüber ein eingeseiftes Gesicht aus dem Fenster gucken. Das Schaumgesicht nickt und die Nachbarin grüßt knapp zurück. Warum ist dieses Gesicht eingeseift? Um zwanzig vor neun! Warum beugt es sich nicht über irgendeine Arbeit? Wahrscheinlich hat es Urlaub. Dass nämlich dieses Gesicht, das nun schon seit fast drei Jahrzehnten tagtäglich zur Arbeit getragen wird, einfach zu Hause geblieben sei? - Undenkbar! Nicht dieses Gesicht. Nicht dieses freundliche Nachbarngesicht, dies dankbare, in dem jedes Gegenüber bestehen kann. Nicht diese Servil-Visage, die noch dem Schwächsten einen Rest von Stärke wiederspiegelt, dieses situationsgeformte Gummigesicht – so zudeckt mit Schaum irritiert es, die Nachbarin wendet sich ab: das geht sie nichts an, sie hat genug zu tun.

Ich habe keinen Urlaub, ich bin einfach zu Hause geblieben. Zum ersten Mal im Leben, einfach so. Mein Spiegelbild nimmt mir das übel, ich muss mich zwingen, es anzusehen. Vor mir sehe ich den denkenden, planenden Menschen, den, der alles am Laufen hält: „Davon lebst du schließlich“, sagt er, „von meiner Arbeit!“

„Ich sag: „Ich lebe, Punkt!“

Das versteht er nicht. Das will er gar nicht verstehen. Denn wo kommen wir denn da hin, wenn jeder seine eigenen Punkte setzt. Also nein!

Der Bart ist ab, da blickt man gleich wieder freundlicher in die Welt. Auch die Nachbarin scheint beruhigt, sie hat die Wäsche so eben noch retten können und schleppt schwer an ihrem Korb.

Rauch schraubt sich schräg nach oben, ähnlich wie der Rauch, der auf Kinderzeichnungen aus Schornsteinen quillt. Darüber hinaus spielt der Herbst Malermeister. Ich werde nachher auf dem Waldweg mit meinen Schuhen Furchen in das knöcheltiefe, trockene Laub ziehen.

Etwas zwingt meine Augen zum Spiegel. Ich sei kindisch, heißt es da. Wir sehen uns an, ich und ich, und sind uns zu fünfzig Prozent unsicher. Meine realistische Hälfte zweifelt nie, sie weiß: Von nichts kommt nichts, also macht sie etwas. Egal was.

Ob das alles so richtig ist? Ich bin mir da nicht so sicher. Auf jeden Fall werde ich nachher auf dem Waldweg im Laub wühlen. Ich werde mich auf die sonnenwarme Wiese legen. Auf einem Baum klettern. Oder sonst was Sinnvolles tun. Trotz dem, der da aus dem Spiegel glotzt. Trotz allem!

Meine bessere Hälfte ist mir über, zweifellos. Ohne Zweifel aber ist der Mensch dem Verzweifeln näher als er denkt. Ich werde mich nachher trotz allem auf dies zweifelhafte Weise vergnügen. Und der da?

Ich wasche ein Gesicht. Ich stelle das Wasser so heiß, das es dampft. Der Spiegel beschlägt. Gewonnen!

II

Raschelndes Laub an und für sich ist noch nichts Besonderes. Eher banaler Sachverhalt, denn Wunder der Natur. Für die Wunder sind die Götter zuständig, für das Laub die Bäume. Wunder sind rar geworden, Laub gibt es noch reichlich. Wenn der Wind mit dem Laub..., das ist keine Zeile mehr wert. Laub bekommt erst wieder Bedeutung durch Füße, die eigentlich anderswo sein sollten. Eigentlich, das heißt, diesen Füßen ist eigen, mitten im Leben zu stehen und nicht mitten im Laub. Auf dem Boden der Tatsachen, irgendjemandes Mann zu stehen. Gut, sicher, Frauen haben auch Füße. Füße, die immer standhafter werden, den Männerfüßen quasi in nichts mehr nachstehen. Aber jene erwähnten Füße, die, anstatt sich irgendwo anderswo platt zu stehen, durch nicht nur unübliches, sondern auch noch bewusstes Nachschleifen Laub zum Rascheln bringen, jene Füße sind nun mal Männerfüße. Meine Füße. (Der Gleichberechtigung wegen sei gesagt, dass Frauenfüße auch hier in Männerfußstapfen zu treten durchaus in der Lage wären.) Meine Füße also. Die Bedeutung des Laubes liegt folglich darin, dem Boden der Tatsachen jene beiden Füße samt Mann entzogen zu haben. Laub hat es geschafft, Männerfüße in Kinderfüße zurück zu verwandeln. Nicht das Kind im Manne, der Mann in Kinderschuhen berauscht sich am Rascheln. Ein Wunder ist das noch nicht, aber verwunderlich genug. Auf dem Boden der Tatsachen mag man sich schwer wundern über die Anziehungskraft ordinären Laubes. (Ahorn und Buche übrigens, und auch ein wenig Eiche.) Tatsachen setzen Prioritäten. In unserer modernen Wichtigkeitshierarchie haben zum Verfall bestimmte Blätter einen geringen Stellenwert. Der Mann in Kinderschuhen ist somit Vorwürfen ausgesetzt und Laub macht sich verdächtig. Dem Moder und der Fäulnis anheimgegeben, mehr gewesen als seiend, durchpflügt von einem Mann, der mit Füßen seine Kindheit sucht – das ist nicht auf der Höhe der Zeit! Tatsachen können mit Anachronismen nichts anfangen. Fakt ist! Was war, braucht man nicht mehr aufzuwühlen. Nur Gegenwart lebt. Wir leben von der Gegenwart.

Diese Vorwürfe sitzen, mein Schritt verstummt!

Ich sagte es schon einmal, jetzt schrei ich es: „Ich lebe!“

Das Echo, hinterhältig: „Ich lebe – von...“

Es ist zugegebenermaßen ein zweifelhafter Sieg, den man aufsteigendem Wasserdampf zu verdanken hat. Das Echo im Wald ist die Stimme des Spiegels. Lassen sich die Augen vernebeln, so bleiben die Ohren unbestechlich. Und wer nennt die Schuld der Nase? Warum konnte das Auge sein Vis à Vis nicht mehr ertragen? Wer machte das Gewissen blind? Wer erlag dem herben Charme des Rauches? Wer pinselte überschwänglich die Kindheit aufs Tapet? Ist der Schlange ein Vorwurf zu machen, oder dem Apfel, dem Rauch oder dem Laub? Verführung besteht nicht aus dem verlockenden Angebot, sondern in der Entscheidung, es anzunehmen! Diese Legende vom mündigen Bürger entstammt bezeichnender-weise einer Welt, deren Motor die Werbung, die Kunst der Verführung ist. Was nun? Kein Echo darauf? Ich höre nichts mehr!

Ich ließ mich benebeln, ja. Im Bild vom elterlichen Kartoffelfeuer liegt etwas, das ich durch den Spiegel der Wirklichkeit auf dem harten Boden der Tatsachen nicht finden kann. Allein dass ich es suche, zeigt doch, dass es mir fehlt, und wenn der Mangel Bilder malt, nimmt er kräftige Farben.

Hatten einst die Kinderfüße den Weg von der Schule nach Hause verlassen, um abseits verträumt im Laub zu rascheln, gab’s keine Schelte, kein Wort über verschwendete Zeit, da war wenig zu spüren vom Zwang zum direkten Weg. Das Laub der Kindheit ist längst verrottet, das Kartoffelkrautfeuer der Eltern erloschen; die Vergangenheit ist Erde und Asche. Was da nun im Geiste wieder auflodert, ist nicht das Feuer der Kindheit, es ist nur dessen kalter Widerschein. Tatsächlich, es erhellt mich zwar, aber es wärmt mich nicht. Hier setzt mein Alter Ego wieder an. Der Gedanke an die ewige Wiederkehr des Gleichen sei philosophische Spiegelfechterei, ruft es durch den Wald, geistiger Luxus, brotlose Kunst!

Ich lege mir eine geschliffene Antwort zurecht, will sie gerade durchs Gehölz brüllen, da trifft mich ein Juckreiz wie ein Peitschenhieb!

Ich bin Allergiker. Mit dem frühjährlichen Heuschnupfen habe ich mich längst abgefunden, aber das hier ist neu.... (Später wird mein Hausarzt mein Fernbleiben von der Arbeit auf gelbem Papier so begründen: Allergische Schockreaktion durch einen Spätblüher, der Laubfall und Herbstwind zur Samenverbreitung nutzt.) Später, aber noch jagt der Juckreiz durch die Hosenbeine hoch ins Hemd, bis zum Kragen, meine Haut brennt wie Feuer, mein Gesicht glüht, mein Herz rast, ich muss weg hier, schnell, ich muss unter die Dusche!

Was für eine Welt! Was für ein Leben! Ich muss einen Ausflug in die Kindheit abbrechen, um die eigene Haut zu retten. Was mich nicht mehr zu erwärmen vermag, droht mich zu verbrennen! Ein Spätblüher zeigt mir meine Grenzen auf. Ich will nur noch unter die Dusche. Meine Zunge liegt wie ein glühendes Stück Kohle im Mund. Aber mehr noch als die Glut meines Körpers quält mich die Fratze, die mich zu Hause aus dem Spiegel überlegen angrinst: „Hast du auch nur einen einzigen Augenblick lang gedacht, du könntest mir entkommen?“

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