Читать книгу Die Jeromin-Kinder - Roman in zwei Bänden - Ernst Wiechert - Страница 11

VII

Оглавление

In demselben Frühjahr, in dem Jons das Haus unter dem alten Ahorn verlassen hatte und mit Herrn Stilling in die Stadt gefahren war, blieben die Förster in den großen Wäldern um den See auf ihren Reviergängen mitunter an einer der alten Kiefern am Wege stehen und sahen zu, wie ein kleiner weißgrauer Falter mit dunklen Bändern auf den Flügeln sich in einen Spalt der grauen Rinde setzte und dort bewegungslos verharrte. Sie nahmen ihn in die Hand, betrachteten ihn und zertraten ihn dann mit der Stiefelspitze. Sie fanden hier und da noch einen und töteten ihn auf die gleiche Weise.

Aber als der Sommer gekommen war, hörten sie mit dieser Beschäftigung auf. An allen Stämmen saßen Dutzende, ja Hunderte dieser unscheinbaren Wesen. Sie schwirrten um die Petroleumlampe auf den offenen Veranden der Forsthäuser, sie lagen als ein grauer Streifen am Ufer des Sees, sie waren wie eine ägyptische Plage. Bis sie allmählich verschwanden. Aber da wußte man in allen Wäldern der Provinz, daß der Tod umging. Der kleine, bescheidene Schmetterling hieß die Nonne, und er war der Tod der Wälder.

Die Leute aus Sowirog und aus hundert und tausend anderen Dörfern kamen nun am Abend aus dem Walde wie aus einem Teerofen. Sie trugen seltsame Gefäße auf ihren Rücken, aus denen ein Schlauch heraustrat, und mit ihnen gingen sie um die Kiefern und Fichten herum, wo in Brusthöhe die Rinde geglättet worden war, und drückten aus dem Mundstück des Schlauches einen zwei Finger breiten, klebrigen, schwarzen Streifen um den Baum. Es war ein Teerring, und er sollte verhindern, daß die Raupen, die häßlichen Kinder der unscheinbaren Nonne, am Stamm in die Höhe krochen und die Nadeln fraßen.

Er sollte es, aber er tat es nicht. Die großartige Verschwendungssucht der Natur spottete allem Menschenwerk. Eine einzige Nonne brachte mehr Kinder hervor, als alle sündigen Nonnen der Welt zusammen, solange die Erde stand, an Kindern geboren hatten. Millionen von ihnen gingen im nächsten Jahr in den Leimringen zugrunde, aber Milliarden fanden über ihre Leichen hinweg den ihnen vorgeschriebenen Weg in die Wipfel des Waldes und begannen ihr Todeswerk. Sie nährten sich von den Nadeln der Bäume, und wer im Sommer an einem stillen Tage unter den hohen Wipfeln stand und lauschte, konnte mit einem Gefühl des Grauens hören, wie der Wald starb. Ein leises, unaufhörliches Rieseln erfüllte den ganzen Raum. Das war der Kot der Raupen, der ohne Pause in das Gras fiel. Dann, als die Zeit weiterging, zeigte sich ein bräunlich-rötlicher Schimmer um die Kronen der Bäume, breitete sich aus, verdrängte das letzte Grün der Farbe, sank selbst zu Boden und hinterließ einen Gespensterwald, kahl, öde und gestorben, Meilen um Meilen entlang, und nur die Laubwälder blieben als Inseln stehen. Unzählige Vögel kamen zum gedeckten Tisch, und das Gras zu Füßen der Bäume stand so hoch, daß es einen Menschen verbarg.

Es war ein Zeichen des Himmels. Kiewitt sprach vom Untergang der Welt, und die Leute von Sowirog standen am Morgen vor ihren Häusern und blickten über den See, wo der Hauptweg des Todes sich erstreckte, ob über Nacht nun auch die Stämme zu Boden gesunken wären und Finsternis über den Wassern herrschte.

Aber die Stämme standen, grau, kahl und beraubt. Nicht mehr für lange, denn der Forstfiskus hatte beschlossen, alle kranken Wälder zu schlagen, damit das Sterben sich nicht im nächsten Jahr weiterverbreite. Die Leute von Sowirog schärften ihre Äxte und Sägen, Jakob steckte den Platz für einen zweiten Meiler ab, und Gogun beschloß, dem Dorf eine Kirche zu geben. Gott hatte die Nonne geschickt, damit die Wälder stürben, und die Wälder starben, damit Sowirog und der neue Pfarrer eine Kirche bekämen.

Gogun betrank sich oft, und in seinem geflochtenen Korbe ging manches mit, was nicht ganz ihm gehörte. Aber er war fromm. Alle Goguns waren fromm gewesen. Tränen standen in seinen Augen, wenn er in einer Kirche saß und die Orgel begann, den Raum mit Brausen zu erfüllen. Er war ein Sünder und wußte es, und weil er es wußte, war er fromm. Seine Frau schlug ihn mit einem Stein in den Rücken, und das war recht so. Sie war der Stellvertreter Gottes, und wenn Gott keine Zeit hatte, auf ihn zu achten, band sie den Stein in das Taschentuch und schlug. Alle Goguns hatten ordentliche Frauen.

Sein Vater war ein berühmter Wilddieb gewesen, und er war der »Kranichräuber«. Im Sommer, wenn die alten Kraniche ihre Jungen von den unzugänglichen Mooren in die Seewiesen führten, war Gogun Tag und Nacht im Walde. Er wußte mehr von Kranichen als alle Förster, und es gab wenige Gelege, aus denen er nicht ein Junges fing.

Er fing noch mehr als Kraniche, aber selbst das Böse, was er tat, sah unter seinen Händen so harmlos und fröhlich aus, daß niemand ihm zürnte. Wenn Korsanke ihn einmal holen mußte, tat er es mit Schonung, und er ritt langsam, um Goguns Geschichten zuzuhören. Der Amtsrichter nickte ihm zu, und im grauen Haus lächelte man, wenn er kam. Er war ein guter Mensch, der ab und zu sündigen mußte, und wozu war die Sünde in der Welt, wenn sie nicht getan wurde? Gott hatte sie geschickt, und Gott war weiser als der Amtsrichter.

Auch Gogun schärfte seine Axt und Säge, aber in den Nächten lag er lange schlaflos und dachte nach. Neue Sägewerke entstanden an den Ufern der Seen, schnell und flüchtig aufgebaut, um die Wälder zu schneiden, die geschlagen werden sollten, und dann wieder zu verschwinden. Unbekannte Namen waren dabei, Leute aus fremden Provinzen, dunkle Existenzen vielleicht, aber der Fiskus konnte nicht viel nach ihrem Leumund fragen. Das Holz würde sich zu Bergen türmen, der Borkenkäfer könnte dazukommen, und man mußte dafür sorgen, daß es bald verschwand.

Gogun strich um die Sägemühlen herum, wechselte hier mit einem Vorarbeiter ein Wort, dort mit dem Maschinisten oder mit dem Verwalter, erzählte Geschichten, sang seine Lieder, spielte auf seiner Harmonika und wußte nach ein paar Wochen Bescheid. Es gab überall Mühlen, die Lohnschnitt machten und die nicht viel danach fragten, wo das Holz herkam. Holz war soviel da wie Steine auf dem Acker, und je schneller es verschwand, desto besser.

Gogun fiel ein Stein vom Herzen, und er betrank sich. Es wäre natürlich auch gegangen, wenn sie jeden Stamm im Dorfe auf die hohen Böcke gehoben und mit der langen Säge geschnitten hätten, einer oben auf dem Stamm, der andere mit der Schutzbrille vor den Augen unter ihm. Aber es war eine harte Arbeit, und Jahre würden darüber hingegangen sein. Und jedes Kind würde es gesehen und etwas Dummes gefragt haben, von den Großen ganz zu schweigen. Sie fragten nur dummes Zeug. Nun aber würde niemand fragen, bis alles fertig war. Auch in den Schneidemühlen war der liebe Gott.

Und nun fehlten noch zwei Helfer, sonst ging es mit dem Flößen nicht. Die Helfer mußten fromm sein und trinken, und sie mußten den Mund halten können. Das Frommsein war für den Diebstahl und das Trinken für die harte Arbeit. Auch hier dachte er lange nach, weil ein einziges Wort am falschen Platz alles verderben konnte. Aber dann war er überzeugt, daß es mit Daida und Gonschor gehen würde.

»Was meinst du, Brüderchen, wenn wir eine Kirche hätten? Ganz einfach aus Holz und mit einem Rohrdach? Wie?«

Daida setzte die Flasche ab und sah ihn an.

»Und kein Staat und kein Kreis baut sie, sondern wir allein? Der liebe Gott hat die Nonne geschickt, und wer Ohren hat zu hören, der höre!«

Daida hörte schon. Er war sehr hellhörig in solchen Dingen. »Aber das Schneiden?« sagte er.

»Ja, Brüderchen, das Schneiden ... meinst du nicht, daß sie das meiste über die Ablagen in den See werfen werden, damit der Borkenkäfer nicht ran kann?« Und wenn es nun so eine kleine Schneidemühle gäbe am See, hier eine und da eine, und man spricht mit den Leuten, man hat mit ihnen gesprochen, und sie warten nur auf das Holzchen von der Nonne und vom lieben Gott ... was meinst du?«

»Aber Schneiden kostet Geld!«

»Findet sich, Brüderchen, findet sich alles. Auch nehmen sie mal einen Hasen und mal ein Gerichtchen Krebse und mal was Größeres ...«

»Dann wäre nur ...«

»Richtig, nur das Flößen. Gibt wenig Schlaf in diesem Jahr, Brüderchen, aber Ruhm und Ehre gibt es. Und in den Kirchenrat kommst du, und einen Orden bekommst du vielleicht, schöner als die Schnalle von Korsanke!«

»Aber das andere alles innen, Bruder ... eine Menge gehört dazu.«

»Das bitten wir zusammen, Brüderchen. Wenn das Holz da ist, gehen wir auf die Reise, mit einer Liste, und der Herr Pfarrer hat unterschrieben, ›Im Namen der armen Gemeinde Sowirog, gnädigstes Frauchen, die sich eine Kirche bauen will ...‹, willst du also, Brüderchen?«

Daida wollte es und Gonschor ebenso. Und Gogun hatte den Oberbefehl, die Leitung, die Planung. Er war besessen von der Kirche, und in seinem Herzen mischten sich Frömmigkeit und Angst, die Lust an Spaß und Gefahr auf eine wunderliche Weise. Er arbeitete fleißig wie sonst, aber nach dem Feierabend trieb es ihn rastlos um die Ufer des Sees. So viel war zu bedenken, heimlich zu erfragen, voraus zu wissen. Und erst als die ersten geschälten Stämme über die hohe Ablage gegenüber Sowirog in den See gerollt wurden und dort liegen blieben, zu ganzen Wäldern sich sammelten, unbewacht und ungezählt, begann er wieder zu singen, wartete den Neumond ab, schlief einen Tag und eine Nacht, und ging dann mit Daida und Gonschor an die Arbeit.

Sie konnten nicht mehr als eine Tracht in der Nacht fortschaffen. Die Stämme waren glatt und drehten sich, und ehe sie sie verbunden und von den andern freigemacht hatten, war die halbe Nacht vergangen. Doch lernten sie schnell, vermieden ihre ersten Fehler, kletterten barfuß über die Stämme, sahen im Dunkeln wie die Katzen und waren im Herbst schon so weit, daß sie mit drei Traften, die hintereinandergebunden waren, über den See fuhren.

Sie wechselten die Plätze, von denen sie das Holz nahmen, sie wechselten die Sägemühlen, und als die ersten Schneestürme kamen, meinte Gogun, daß es genug sei. Wenn noch etwas fehlte, werde der Herr von Balk es ihnen geben.

Gogun war schmal geworden, und seine Frau ließ es an Bemerkungen nicht fehlen. Aber er winkte nur mit der Hand. »Für den lieben Gott, Mütterchen«, sagte er fröhlich, »alles für den lieben Gott!«

Im Winter holten sie die Grundsteine von allen Windrichtungen herbei. Die Schlittenbahn war gut, Goguns kleines Pferd fragte nicht danach, woher der Hafer kam, und mit Erstaunen sah das Dorf, wie die Steine immer zahlreicher wurden, die am Fuß des Hügels über dem See sich auftürmten. Ja, er wollte eine hohe Mauer um sein Grundstück bauen, meinte Gogun lächelnd, damit der Teufel kein Unkraut in seinen Acker säen könne. »Selbst der Teufel«, sagte die Witwe Kroll und stieß mit der Stiefelspitze an den größten Stein. »Holen wird er dich, ehe du diesen aufgehoben hast.«

»Mütterchen«, sagte Gogun, »wenn er dich verdaut hat, wird er lange an keine Speise denken.«

Im Frühjahr ging Gogun zum Pfarrer. Es war in ihren Augen mit ihm nicht viel anders geworden, als daß seine Frau ihn verlassen hatte. Es hieß, daß sie die Luft zwischen den Seen nicht vertrage, aber die Leute blinzelten einander zu, und der Pfarrer war ihnen lieber geworden ohne seine Frau.

Doch konnte niemand sagen, daß er fröhlicher geworden sei. Noch immer predigte er wie ein Eingekerkerter oder wie ein Verschütteter in einem Bergwerk. Er brachte ihnen keinen andern Trost, als daß er ihnen zeigte, wie sehr er im Dunklen war. Und das war mehr, als sie jemals an einem Pfarrer oder einem Mann der Obrigkeit erlebt hatten. Sie hatten immer gedacht, daß jenseits ihres Dorfes oder jenseits ihrer Armut der helle Himmel beginne, aber nun sahen sie, daß der des Pfarrers dunkler war als der ihrige. Zuerst glaubten sie, es liege daran, daß er so allein sei, ohne Frau und Kinder, ein Mann in einem großen Hause, in dem auch das Mädchen zu singen aufgehört hatte und in dem nur die Heimchen an der Asche zirpten. Aber dann merkten sie langsam, daß er nicht wußte, was Gott mit ihm und ihnen allen vorhabe. Sie waren weit davon entfernt, ihn zu tadeln, sie selbst hatten es nicht immer gewußt. Sie sagten nicht, daß er nicht mehr glaube; sie sagten nur, daß Gott ihn für eine Weile verlassen habe. Und für einen Mann wie Stilling, der alles wußte, was im Dorfe geschah, und der auch wußte, was im Herzen des Pfarrers vorging, war es rührend zu sehen, wie nun die Gemeinde ihren Pfarrer zu trösten suchte. Die ärmste Gemeinde, die er jemals gehabt hatte, aber ihre Hände hoben keinen Stein auf. Und es lagen doch so viele Steine in der Gemarkung von Sowirog.

»Der liebe Gott hat noch immer geholfen, Herr Pfarrer«, konnte Michael Gogun sagen, »er wird auch diesmal helfen.« Es schien ein billiger Trost, ein solcher, den der Pfarrer selbst nie aussprach, und er war auch nicht etwa für den Pfarrer gesprochen. Er war an einen Hagelschlag angeknüpft oder an eine Mißernte, aber der Pfarrer verstand sehr wohl, daß er für ihn bestimmt war. Es rührte ihn mehr als alle Teilnahme, die er jemals empfangen hatte, aber wenn er herumging, fragte er sich doch jedesmal, wie lange das nun noch so weitergehen solle, daß seine Gemeinde ihn bei der Hand nahm, um ihn aus dem finsteren Tal zu führen. Es wäre alles gut gewesen, wenn er als ein Seelsorger hier eingesetzt wäre, als weiter nichts. Ein Mann, der bei Gesunden und Kranken saß und ihnen zusprach, weil er mehr von der Welt und den Menschen wußte als sie.

Aber nicht als ein Diener Gottes, denn er wußte nichts von Gott. Das Äußerste, was ein Mensch geben kann, ist Brot und ein bißchen Trost, und daß er beides mit Liebe und einem reinen Herzen reicht. Aber Brot und Trost waren nur gut, weil sie von dieser Welt waren, eingeschlungen in das Leben, das sie kannten, und den Gesetzen gehorsam, die sie erfahren hatten. Sie sättigten nicht mehr, wenn man sie hinaushob aus dieser Welt und sie unter Sterne legte, die man nicht sah und nie gesehen hatte. Das Brot, das man reichte, schwarzes, duftendes Brot, im Backofen der Pfarrhäuser gebacken, machte die Bojarkinder satt, wenn ihr Vater das ihrige vertrunken hatte, und wenn man den Weinenden über die Wange strich, wurden sie vielleicht still, weil sie merkten, wie das andere Herz in den Fingerspitzen schlug.

Aber wenn kein Brot mehr da war im Pfarrhause, sättigte es die Kinder nicht, wenn man von der Speisung der Fünftausend erzählte. Sie hörten mit großen Augen zu, aber nach einer Weile fragten sie, ob der Herr Jesus nun auch nach Sowirog kommen werde, um ihnen die fünf Brote zu bringen. Und der Pfarrer wußte, daß er nicht kommen würde.

Und wenn es nicht nur um Tränen ging, sondern um die starre, wortlose Verzweiflung, mit der Gina Bojar auf das kleine Bett blickte, in dem das jüngste ihrer Kinder gelegen hatte, fortgegangen in das ewige Dunkel, so genügte es nicht, ihr über die frühgefurchten Wangen zu streichen und davon zu sprechen, daß der Herr es gegeben und genommen habe und daß in der Goldenen Stadt ein Wiedersehen sein werde. Niemand wußte von diesem Wiedersehen. Keiner hatte es erfahren, und Gina glaubte es in dieser Stunde nicht. Und wenn sie nun fragte, woher er es wisse, dann würde er nur sagen können, daß er es glaube. Und nicht einmal das würde er sagen können.

Brot und Trost von einer höheren Art gab es nur für die Gläubigen, und sie bedurften keines Pfarrers, um es zu empfangen. Sie waren in der Gnade, und die Gnade bedarf keines menschlichen Mittlers. Aber alle die anderen, die in der Welt lebten und nicht unter den Sternen, brauchten zuerst ein Brot und ein Kleid. Und es war nicht gut, wenn man mit leeren Händen kam – und einmal mußte man mit leeren Händen kommen –, sie hinter einem Traum zu verstecken, einem Versprechen, das so leicht zu geben und so unmöglich zu prüfen war, einen Wechsel auf eine bessere Welt, der so leicht zu unterschreiben war und von dem niemand wußte, ob er jemals eingelöst werden würde. Und wer war nicht ein Betrüger, der solchen Wechsel schrieb, außer wenn ihm das Jenseits so wirklich war wie die Stube, in der er bei den Hungernden saß, das Herdfeuer, an dem er seine Hände wärmte? Half es denn, zu denken, daß, wenn es eine große Täuschung war, niemand gegen ihn würde aufstehen können, weil sie alle Erde auf den Augenlidern tragen und zu Staub zerfallen würden? Daß niemals ein Kläger und niemals ein Richter sein würde? Daß man täuschen konnte, wie ein Erwachsener Kinder täuscht, und nachher zieht er sich zurück in seine Welt und lächelt, weil Kinder vergessen oder warten, mit einer engelhaften Geduld warten, und mit einer neuen Täuschung still gemacht werden?

Nein, das Wort war die Sünde, das Wort, das man über die Tat schob und Glauben nannte. Der Glaube verlangte keine Tat, keinen Augenschein, keinen Beweis. Er ließ sich genügen. Er tröstete sich damit, daß auch andere glaubten, daß es geschrieben stand, daß es verkündet wurde. Die Diener der Liebe hungerten nicht. Es war ihnen nicht befohlen, Brot zu reichen, das sie sich am Munde absparten, das sie stehlen gingen, wenn es not getan hätte. Es war ihnen nur befohlen, das Wort vom Brot zu reichen, den Schein des Brotes, und zu sagen, daß das Wort vom Brot mehr sei als das Brot. Ein höheres Brot gleichsam, ein geistigeres, nicht für den irdischen Leib bestimmt, den Leib, aus der Erde gemacht, sondern für den andern Teil, der einmal auferstehen würde, ohne Brot, ohne Kleid, ohne Hunger, ohne Durst.

Nein, er fühlte, daß irgend etwas nicht richtig war. Er fühlte es, weil er nicht die Augen schloß und betete, sondern sie weit öffnete, so weit, daß es schmerzte, und nachdachte. Elend und Jammer waren immer auf der Welt gewesen, damals vor zweitausend Jahren wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger als heute, und auch Christus hatte gesehen, daß er Elend und Jammer nicht fortnehmen konnte aus der Welt. Er hatte es gewollt. Er hätte tausendmal am Kreuz gehangen, wenn er es gekonnt hätte, denn er weinte um die Armen. Aber er hatte es nicht gekonnt. Gottes Sohn hatte es nicht gekonnt. Und so war ihm nur eines geblieben für die Armen: das Wort. Das Wort vom Paradies, wo man alle Tränen trocknen würde, das Wort vom Gericht, wo man alles Unrecht strafen würde. Dort würde sein, was auf Erden nicht war und was die Armen mit Leidenschaft erflehten: Speise und Gerechtigkeit. Wenn man erreichte, daß sie glaubten, dies und nichts anderes, dann konnte es sein, daß der Mensch seinen düsteren Weg bis zum Tode ausschritt, ohne der Schöpfung zu fluchen oder sie zu verlassen, ja, daß man ihn fröhlich ausschritt, wie ein Eingekerkerter, an dessen Wand man klopfte und dem man leise durch die Fugen der Mauer zuflüstert, daß morgen die Riegel springen und die Kerkerknechte gerichtet würden.

Deshalb hieß es: »Im Anfang war das Wort.« Es war der Tropfen, der in den ungeheuren Becher der Schmerzen fiel und sie süß machte. Und wer aus ihm trank, konnte dann auch glauben, daß es besser sei, zu leiden und nur zu leiden. Denn wer am meisten litt, würde am meisten belohnt. Das war die Erlösung. Es gab andere Erlösungen, man konnte sie wenigstens denken. Aber man konnte sie nicht tun. Die Tat war nicht frei. Alle Mächte der Erde konnten gegen sie aufstehen, die Kaiser, die Heere, die Richter, die Gewalt. Aber das Wort war frei. Es gab keinen Beweis, daß es täuschte. Niemand war zurückgekommen und hatte gesagt, es gebe kein Paradies. Gegen den Glauben konnte nur der Unglaube aufstehen, der Zweifel, ein anderes Wort. So stand nicht Gewalt gegen das Wort, sondern nur ein anderes Wort. Und immer siegte das süße Wort über das bittere.

So weit war der Pfarrer nun. Er sah alle Fäden entwirrt und zurücklaufen bis zum Anfang. Wo das Leid begann, begann auch das Wort und seine Täuschung. Es gab keine Religion, in der es anders gewesen wäre. Das Furchtbare der Schöpfung war nur zu rechtfertigen, wenn man eine unsichtbare Weisheit hineinlegte und verkündete, daß sie einmal sichtbar sein würde: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie werden getröstet werden! Aber wo waren die Eltern, die zu ihren unmündigen Kindern sprachen: »Seid selig, daß ihr leidet«? Wo war die Frau von Sowirog, die das Brot in den Kasten zurücklegte und zu dem fragenden Kinde sagte: »Sei selig, daß du hungerst, denn im Paradiese wirst du satt werden«? Wo war die Mutter, die zu Christean sagte: »Sei selig, daß du auf Krücken gehen mußt, denn im Paradiese wirst du tanzen«?

O nein, es gab Eltern, die barmherziger waren als der Gott der Liebe. Barmherziger als auch ihre Pfarrer. Nicht daß die Pfarrer nicht getreue Diener gewesen wären. Sie reichten weiter, was ihnen gereicht worden war: das Wort. Und viele von ihnen glaubten, daß das Wort Speise sei. Sie standen an Särgen, in denen ein unendlicher Jammer begraben lag, und sagten: »Freut euch des Jammers, denn er ist seines Lohnes gewiß!« Sie fragten nicht, ob es nicht auch ohne Jammer einen Lohn gegeben hätte. Es war nicht gut zu fragen, seit Christus am Kreuz gefragt hatte, weshalb Gott ihn verlassen habe.

Aber viele von ihnen mochte es geben, die nun daheim zwischen ihren Büchern standen und die Hände rangen. Die nicht nur dies, sondern alles fragten, was ein Menschenmund fragen kann. Verstörte und entsetzte Fragen, und die schließlich mit verwirrten Augen vor sich hinflüsterten, oder es in den stillen Raum hinausschrien: »Ich glaube! Ich glaube doch! Lieber Gott, glaube ich denn nicht?« »Ja, sei still, arme Seele«, sagten sie dann leise, »ich glaube ja. Ich glaube wenigstens, daß ich glaube. Laß es nun gut sein, arme Seele.«

Auch der Pfarrer Agricola sagte es manchmal. Wenn er so müde war, daß er wie ein Kind im Traume sprach. Aber er ahnte, daß er es einmal nicht mehr sagen würde. Daß er zu rechtschaffen war, um es immer wieder zu sagen, und daß die Zeit für ihn kommen würde, in der das Wort auf seinen Tisch geschleudert werden würde: ›Ich will ihm zeigen, wieviel er leiden muß um meines Namens willen.‹ Aber was er dann sagen würde statt des »Laß es nun gut sein, arme Seele«, das wußte er nicht.

Und nun saß der Kätner und Waldarbeiter Gogun vor ihm, ein bißchen ein Trinker, ein bißchen ein Dieb und ein bißchen ein frommer Mann, drehte die Mütze zwischen seinen Händen und sagte, daß sie nun anfangen könnten, eine Kirche zu bauen. Das Holz sei da, die Steine seien da, und für das andere brauche er nur eine Bescheinigung von des Herrn Pfarrers Hand, daß er ein bißchen umherwandern und sammeln könne.

Aber woher das alles sei, fragte Agricola schließlich verwirrt.

Die Nonne, sagte Gogun lächelnd. Die Nonne und gute Menschen und die Sägewerke, die nicht wüßten, wohin mit dem Holz. Da brauche der Herr Pfarrer sich keine Sorgen zu machen. Und auch nicht wegen der Arbeiter. Jetzt wüßten es erst vier, aber bald werde das ganze Dorf es wissen, und das Dorf werde die Kirche bauen, ganz allein, denn soviel Verstand und Geschicklichkeit sei auch in dem ärmsten Dorf, wenn es um Gottes Haus gehe. Und vielleicht – das sagte er nur so –, vielleicht werde der Herr Pfarrer in das arme Dorf ziehen, zu Jeromins etwa oder zum Schulzen, da er doch jetzt allein sei, und bei ihnen bleiben, ein kleiner Pfarrer nur, was die Gemeinde betreffe, aber mitten unter ihnen, und sie würden um ihn stehen wie eine Mauer gegen den bösen Feind.

»Ein kleiner Pfarrer ...«, sagte Agricola leise und sah Gogun an, und Gogun fröstelte es ein wenig vor seinen dunklen Augen.

Dann stand der Pfarrer auf, trat ans Fenster und blickte über den Garten hinaus. Eine unsichtbare Uhr schlug mit kleinen, schnellen Hammerschlägen auf das unendliche Band der Zeit, und Gogun sah sich vorsichtig um, ob er sie entdecke. Aber er sah sie nicht. Er sah nur Bücher über Bücher und den Staub auf Tisch und Stühlen und die leise Verlassenheit und Verwahrlosung eines Hauses, aus dem die Frau fortgegangen ist, und es tat ihm bitter leid um den großen gebeugten Mann, der dort die Stirn an die Fensterscheiben legte und nachdachte, ob er versuchen sollte, ein »kleiner Pfarrer« zu werden. Kein Glück kam aus Büchern und Gedanken. Glück kam nur aus einer schnellen Hand und schnellen Füßen, und manchmal aus dem Gläschen, in dem man alles vergaß.

Der Pfarrer drehte sich um. Sein Gesicht war blaß, aber es war stiller und fröhlicher als vorhin, und die Bescheinigung wollte er schreiben. Morgen würde er ins Dorf kommen und sie mitbringen. Und er werde überlegen, ob er zu ihnen kommen wolle. Auch die Behörde habe da mitzureden.

Sie begannen noch vor der Ernte mit dem Bau. Herr von Balk hatte den Hügel über dem See als Baugrund geschenkt, und Gogun war drei Monate unterwegs gewesen. Auch der Pfarrer hatte nicht gewußt, was für einen erfolgreichen Apostel er ausgeschickt hatte. Sicherlich war es der erste, der mit einer Ziehharmonika ausgezogen war, um für ein Gotteshaus zu werben. Aber es sah schön aus, wenn er an einem Zaun oder einem Gutshof lehnte, die sanften braunen Augen in die Ferne gerichtet, und unter seinen geschickten Händen erklangen feierlich die Töne, die alle liebten, »Ich bete an die Macht der Liebe« oder »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre.« Zog er dann sein Schreiben heraus, ordentlich mit dem Kirchensiegel versehen, und sein Buch, in dem schon so viele Namen und Zahlen standen, begann er von Sowirog zu erzählen, dem kleinen, armseligen Dorf, das eigentlich der Eulenwinkel hieß, wie auch dort die Flügel des Engels über den Rohrdächern rauschten und wie sie alle aufgerufen worden seien, Mann, Weib und Kind, um Steine zu schleppen und Balken zu behauen, die halben Nächte lang, denn die Tage gehörten der Arbeit: so gab es wenige Sparbüchsen, die sich nicht öffneten, und es dauerte nicht lange, so war er selbst überzeugt, daß Gott mit ihm sei und daß der Gute längst vergeben und vergessen habe, daß am Anfang etwas gewesen war, das man vielleicht nicht ganz Gott wohlgefällig nennen konnte. Aber auch Jakob hatte es mit der Wahrheit nicht immer ganz genau genommen, und doch war er zu den Erzvätern versammelt worden.

Es gab wohl hier und da einen im Dorf, der leise den Kopf schüttelte, wenn er auf die Bohlen und Bretter blickte, die über den See kamen und sich am Fuß des Hügels zu hohen Stapeln türmten. Und mancher bückte sich unauffällig in der Dämmerung und fuhr mit den Fingern prüfend über die Kopfenden der Stapel, ob nicht ein Zeichen zu fühlen sei, eingeschlagen oder eingebrannt in das Holz, ein Firmenzeichen, das den Eigentümer angab. Aber es war alles glatt und in Ordnung, keine Fußspur der Sünde, und auch der Krugwirt, der sich um die Schneidemühlen herumdrückte, bekam den spöttischen Bescheid, daß Nonnenholz das beste für einen Kirchenbau sei, besser jedenfalls als für Dorfkrüge, und höchstens noch ebensogut zu Galgen für Halsabschneider verwendbar.

Dabei blieb es und mußte wohl so bleiben, aber es war doch eine leise Unruhe in allen Hütten, wenn am frühen Morgen, kaum daß die Hähne zu krähen begonnen hatten, sie hin und wieder die hohe, noch immer ungebeugte Gestalt des alten Jeromin auf dem Hügel stehen sahen, auf dem die Fundamente schon wie eine Festung lagen. Er stand da, auf seinen Stock gestützt, das weiße Haar von der frühen Sonne beglänzt, und blickte über den See nach den Hügeln, auf denen die großen Wälder gerauscht hatten und die nun grau, fremd und wüst dalagen, mit einzelnen jungen Schonungen, die bewahrt geblieben waren.

Niemand wußte, was er da tat oder dachte. Er ging nicht wie die andern zu den Steinen und beklopfte sie, er kümmerte sich nicht um die Balken und Bretter. Er stand nur da, regungslos wie ein alter, gebleichter Baum, und starrte in die Ferne hinter dem See. »Er ist das Gewissen des Dorfes«, sagte Jakob, aber er sagte es nur zu sich.

Auch der Herr von Balk war viel auf dem Hügel zu sehen, und er wunderte sich, was seine Leute dort wieder anstellten. Er hatte das meiste dazu getan, daß alle Schwierigkeiten fortgeräumt wurden, auch daß man einen ordentlichen Plan einreichte, der nach vielem Hin und Her genehmigt wurde. Aber wenn er an seiner Habichtsnase vorbei auf alle Unruhe und Fröhlichkeit blickte, fragte er sich doch, ob hinter dieser wilden Frömmigkeit nicht wieder eine kleine Teufelei stecke, und auch er sah sich die Enden der Balken an, ob an ihnen nicht ein kleines Kainsmal zu entdecken sei. »Gar nicht gewußt, Michael«, sagte er zu Gogun, »wieviel gute Seelen hier um den See herum wohnen, was?«

»Man glaubt es nicht, Herr Rittmeister«, erwiderte Gogun treuherzig und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne. »Erst wenn es um Gottes Haus geht, klopfen die Sünder an ihre Brust.«

»Und um das letzte Haus, Michael. Dann klopfen sie auch, und meistens reicht es dann ja auch.«

»Ja, ja ...«, sagte Gogun. »Die Leute ... die Leute ...« und er nickte Herrn von Balk verständnisvoll zu.

Auch der Pfarrer saß gern mit Balk auf den Brettern und sah zu. Aber lieber fuhr er die Karren mit Kalk und Sand den Hügel hinauf oder lud mit den anderen Balken auf seine Schulter. Es stehe nirgends geschrieben, sagte er, daß die Diener Gottes ein fertiges Haus zu beanspruchen hätten, und es würde um manche Pfarrer besser stehen, wenn sie ihre weißen Hände nicht nur zum Segen erhöben.

›Um dich zum Beispiel‹, dachte Balk. ›Aber mancher beginnt ja erst mit fünfzig Jahren sein wahres Leben‹. »Ja«, sagte er, »und vielleicht wäre es noch besser, wenn die Menschen das Segnen unterließen. Ein Bauer braucht nur drei Jahre, um den Acker zu erkennen, bei dem es nicht zu segnen lohnt. Aber ihr habt nach zweitausend Jahren noch nicht erkannt, wie es mit dem Menschenacker bestellt ist.«

Der Pfarrer stützte sich auf seinen Spaten und sah zum Hügel hinauf, über dem die Abendwolken zogen. »Und wissen Sie genau«, fragte er, »ob Ihr Leben ebenso verlaufen wäre, wenn Ihr Vater Sie nicht gesegnet hätte?« Es war zu spät, den Satz zu bewahren. Er hatte vergessen, was man von dem alten Herrn von Balk erzählte.

»Erinnere mich nicht«, sagte Balk trocken, »daß er mich jemals gesegnet hätte. Lag nicht in seiner Art ... aber meinen Sie nicht, daß die Kirche zu klein wird, Herr Pfarrer?«

Nein, der Pfarrer meinte es nicht. Sie war nur für dieses Dorf gedacht, und er wußte nicht einmal, ob es nicht ihre Kräfte übersteigen würde.

Nein, er denke nicht daran, sagte Balk. Es gebe ein merkwürdiges Schauspiel, von einem Pfarrer namens Brand. Da wurde auch eine Kirche gebaut, und sie sei zu klein, viel zu klein. Manche Pfarrer wollten ja wohl, daß die ganze herrliche Dreieinigkeit in ihrer Kirche wohnte. Ein sehr merkwürdiges Schauspiel, dieser »Brand« ...

Agricola erinnerte sich, nicht sehr genau, aber genug, um zu fühlen, daß es ihn anging. »Nein, das will ich nicht«, sagte er leise. »Nicht die ganze Dreieinigkeit. Ein kleiner Pfarrer will ich sein, der etwas Brot und etwas Trost verschenkt ... und manchmal weiß ich nicht, ob wir dazu eine Kirche brauchen.«

»Ich auch nicht«, meinte Balk.

Noch ein anderer saß manchmal bis zum Frührot auf den Balken, die noch nach den Wäldern rochen, und blickte auf das wachsende Haus. Das war Christean. Er kam auf seinen Krücken bis zum Fuß des Hügels, lehnte sie neben sich an die Balken, faltete die Hände, lehnte den Kopf an das warme Holz hinter sich und blieb so Stunde auf Stunde, unbeweglich, nur daß seine Finger sich manchmal rührten, als formten sie an einer unsichtbaren Gestalt. Er sah das Haus in Gedanken wachsen, die Mauern aus Holz, die der Regen grau färben würde, die hohen, schmalen Fenster, für die der Herr von Balk gemaltes Glas versprochen hatte, den stumpfen Turm, für den sie noch keine Glocke hatten, und wie das Ganze weit über den See blicken würde, Blut und Schweiß und Frömmigkeit des ärmsten Dorfes, und wie vielleicht Christus in einer stillen Nacht dort oben auf der Schwelle sitzen würde, um alle Hände zu segnen, die ihm ein Haus bereitet hatten.

Und wie vielleicht einmal sein Bruder Jons diesen Hügel hinaufschreiten würde, feierlich, im schwarzen Talar, und auch der Pfarrer wäre dann aus dem Grunde dieser Erde aufgewachsen. Er würde die Geschwister trauen und ihre Kinder taufen und einmal den letzten Segen über den Großvater und auch über die Eltern sprechen.

Und er selbst? Ja, auch er war nicht so arm, daß die Kirche ihn nicht hätte brauchen können. Eine Krippe war schon fertig, die man vielleicht am Weihnachtsabend aufstellen würde, und im Holzschuppen, hinten, wo das Fenster auf den Garten ging, trat der Gekreuzigte schon langsam aus dem Lindenstamm heraus, den Friedrich ihm besorgt hatte. Das geneigte Haupt war schon deutlich, der Dornenkranz über der gequälten Stirn, und er konnte nicht dafür, daß der Mund der seiner Mutter war, ein strenger Mund, aber in seinen Winkeln lag der Schmerz und ein Hauch von dem, was die Menschen die Liebe nennen. Wahrscheinlich sah der Heiland so aus, als sei er in diesem Dorf geboren und im ersten Sternenschein Tag für Tag zur schweren Arbeit gegangen. Kein Gesicht, wie es in Herrn Stillings Büchern abgebildet war, zart und fast einem Weibe angehörig, sondern eines ihrer Gesichter, fest wie das des Vaters, mit tiefliegenden Augen, und so still wie einer, der sein Leben lang am Meiler gewacht hatte statt im Garten Gethsemane. Aber die Leute im Dorf würden ihn nicht tadeln, daß es kein zartes Herrengesicht war. Er würde einer der Ihrigen sein, dort über dem Altar, so wie er selbst aus einem Dorfe geboren worden war, und es stand auch geschrieben, daß er an sich genommen habe Knechtsgestalt.

Die Sterne wurden schon blasser über dem Moor im Osten, und ein erster Hauch des Windes der Frühe ging fast unhörbar über das Schilf am Ufer und durch das Laub der Espen am Fuß des Hügels. Aber Christean saß noch immer auf den Balken, die noch die Wärme des Tages bewahrt hatten, und sah den Gestalten zu, die vor seinen Augen aufstiegen. Hinter ihm lag das Haus, in dem sie alle geboren worden waren, und es war ihm, als ständen sie alle hinter ihm und blickten gleich ihm in die schweigende Nacht und wüßten gleich ihm nicht, was der Morgen und alle kommenden Morgen für sie bereitet hätten. Ein Pfarrer würde vielleicht unter ihnen sein und ein Knecht, ein Fischer und ein Lahmer, den kein Heiland gehen machen würde, eine Ehebrecherin vielleicht und eine, die die Füße der Armen wusch, und vielleicht auch ein Verräter, der vor dem Espenlaub erschrak. Und alle hatte die Mutter geboren, von der sie so wenig wußten und die zornig gelächelt hatte, als Christean gemeint hatte, daß vielleicht einmal Jons von der Kanzel dieser Kirche predigen werde. »Seine Ehre soll sein, von des Kaisers Kanzeln zu predigen«, hatte sie gesagt, »und nicht von der eines elenden Dorfes.«

›Ach, Frau Ilsebill‹, dachte Christean bekümmert, ›denke doch an das Märchen vom Fischer und seiner Frau ...‹

Er stand erst auf, als die Nebel über dem Moor sich schon rötlich färbten. Kein Rauch stand noch über den Schornsteinen, nur die Hähne krähten, und das Knarren seiner Krücken ging leise mit ihm über den Sand. Seine Schultern waren hoch und schmal, und von ferne sah er wie einer der großen, fremden Vögel aus, die man zur Herbstzeit manchmal auf den Mooren erblickte.

Die Jeromin-Kinder - Roman in zwei Bänden

Подняться наверх