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II

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Von dem Dorfe Sowirog hat noch keine Chronik erzählt. Die Chronik erzählt nicht von verlorenen Dörfern. Sie liegen an den Seen und Mooren jenes östlichen Landes, mit grauen Dächern und blinden Fenstern, mit alten Ziehbrunnen und ein paar wilden Birnbäumen auf den steinigen Ackerrainen. Der große Wald umschließt sie, und ein hoher Himmel mit schweren Wolken wölbt sich über ihnen. Eine sandige Straße zieht zwischen ihren verlassenen Gartenzäunen entlang. Sie kommt aus den weiten Wäldern und verschwindet wieder zwischen ihnen. Der Postbote geht auf ihr entlang und häufiger noch der Gendarm, und manchmal zieht ein Hochzeitszug bunt und lärmend durch ihre tiefen Geleise.

Aber meistens liegt sie schweigend da, und die jungen Birken werfen ihre dünnen Schatten auf die verschilften Gräben. Sie bewahrt nichts von dem, was einmal auf ihr zum Leben oder zum Tode gezogen ist. Sie hat keine Kreuze und keine Gedenksteine. Sie ist eine namenlose Straße.

Und so sind auch die Dörfer. Sie sind so klein, daß ihre Namen nur auf den Karten verzeichnet sind, die der Soldat im Manöver braucht, und auch dort nicht einmal mit Sicherheit. Sie tragen Namen von einem fremden, traurigen Klang, alte Namen sogar, aber schon hinter der Kreisgrenze kennt sie niemand. Sie sind wie Gräber aus den Zeiten lang vergessener Kriege, eingesunken, mit verwischter Schrift. Im Frühling, wenn die Kirschen- und Birnbäume blühen und der Flieder auf dem kleinen Kirchhof, können sie lieblich aussehen von ferne, vom andern Ufer des Sees etwa, aber der Frühling ist rasch und wild in dieser Landschaft. Er nimmt die Farbe, so rasch er sie gegeben hat, und dann sinkt wieder alles ins Graue zurück, unter einem riesigen Himmel, der mit gewaltigen Wolken über das Wesenlose sich spannt. Und wenn die Schneestürme von Osten über die Wälder kommen, decken sie alles zu, Straße und Graben, Giebel und Zaun. Wie gestorben sind dann die Dörfer unter einem ungeheuren Abendrot, und nur der schmale Pfad, der zu den Holzschlägen in die Wälder führt, zeigt an, daß Menschenfüße dort gegangen sind.

Von Sowirog stand in einer alten Urkunde zu lesen, daß es ein Beutnerdorf gewesen war, das heißt eine Gründung des Ritterordens zum Ernten wilden Honigs und wohl noch zur Wahrnehmung anderer Pflichten, von denen nichts geschrieben stand. Auch war der Name Jeromin schon in jenen dunklen Jahrhunderten aufgezeichnet. Doch war das alles, und niemand wußte, was seit jener Zeit an Krieg und Pest, an Unheil und Grauen über das Dorf gekommen war. Polen, Litauer oder Tatern, und wahrscheinlich alle nacheinander. Nur von Hungersnot war noch ein dunkles Gerede im Gange, als man aus Baumrinde Brot backte, und von der Pest, die niemanden verschont hatte als einen Hirten namens Michael. Der mit dem Rest der Herde auf die Waldhügel geflohen war und dann ein neues Geschlecht begründet hatte, reinen oder unreinen Blutes.

Auch lebten die Bewohner von Sowirog nicht in der Vergangenheit. Der Tag begann ihnen, sobald die Sterne verblaßten, und endete, wenn sie wieder über den Wäldern aufstiegen. Und er gab ihnen, mit Schweiß und Mühe, nicht mehr als das nackte Leben. Der steinige Acker trug ihre Kartoffeln und ihren Roggen, das Moor ihren Torf, der Seerand ihr Heu. Der Herr von Balk gab ihnen die Waldweide für die magere Kuh, der Forstfiskus Arbeit und ein wenig Holz, und was ihnen nicht gegeben wurde, nahmen sie sich, in dunklen Nächten, denn kein Pfarrer konnte ihnen glaubhaft machen, daß den Armen nur das Himmelreich gehöre.

Sie waren demütig und gebeugt, und in ihren Augen war noch abzulesen, wie die Jahrhunderte über sie hinweggegangen waren. Aber mitunter brach es doch aus den Fugen ihres Lebens heraus, ein dumpfer Zorn und ein wilder Haß gegen Welt und Gott, die ihr Spiel mit ihnen getrieben hatten, die sie enterbt und entäußert hatten, geschlagen und verflucht, und die doch ihren Zins einforderten. Geld und Söhne, Gebet und Hymne, Laster und Fron. Zuerst fluchten sie, und dann weinten sie, und am nächsten Morgen, beim Sternenlicht, nahmen sie wieder die Axt auf die Schulter und gingen in die Holzschläge, einer hinter dem andern, mit Lappen um die Füße, während der Frost die Bäume spaltete und das Eis auf den Seen schrie.

Manchen erschlug ein fallender Baum, und mancher erstarrte am Wegrand, wenn er betrunken von der Lohnzahlung heimkam. Mancher schlich nachts in die Wälder und kam spät zurück, einen Sack auf der Schulter und erbebend vor jedem Eulenschrei. Und alle sprachen von Wald und See als von »ihrem« Wald und »ihrem« See. Förster und Fischereiaufseher waren nicht ihre Freunde, und den Helm des Gendarmen erkannten sie schon am Horizont.

Niemals war jemand aus ihrer Mitte aufgestiegen und hatte Landschaft oder Provinz mit seinem Namen erfüllt. Das Los war ihnen dunkel gefallen, von Kindheit an, und im Dunklen schritten sie ihren Weg aus. Manchmal gewann einer einen weittönenden Namen als ein gefährlicher Wilddieb, als ein Fischräuber oder Holzstehler. Aber der Name verklang hinter vergitterten Fenstern, und sein Ruhm war mit seinem Tode dahin. Keiner von ihnen, außer dem Großvater Michael, hatte die »Welt bewegt«, wie Jakob sagte. Kein Landrat, kein Pfarrer, kein Lehrer war aus ihrer Mitte aufgestiegen, kein Denker neuer Dinge, kein Prophet einer neuen Liebe. Und aller Überfluß an jungen Söhnen, die kein Erbe zu empfangen hatten, verschwand in den westlichen Städten des Reiches, versank in den Bergwerken unter der Erde, vergaß die Wälder und Moore und bezahlte Lohn und Gewinn mit der Friedlosigkeit der im Dunklen Lebenden, mit der Zugehörigkeit zur Masse der Hadernden, die ihnen doch fremd blieb bis zur Todesstunde.

Kamen sie nach vielen Jahren einmal in die Heimat zurück, als ein kurzer Besuch für das staunende Dorf, in städtische Kleider gepreßt, mit Frauen, die dumm und hochmütig auf die Armut blickten, so standen sie heimatlos am Ufer des Sees, wie lebenslang Eingekerkerte, die das Licht vergessen hatten. Sie rühmten ihren Verdienst und ihr Leben, sie prahlten von dem, was sie dort vorstellten, aber ihre Worte klangen hohl und falsch, und mancher schlich sich in der Dämmerung zu dem wilden Birnbaum am Ackerrain, wo seine Kindheit begraben lag, und blickte in Schwermut und dumpfer Trauer auf das karge Land, das auch ihm verheißen worden war und das er hingegeben hatte um ein Linsengericht.

Sie lasen keine Zeitung, und was im Kreise und in der Welt geschah, kam zu ihnen nur durch den Mund des Lehrers, der für sie der Moses in der Wüste war. Zwar hatten sie auch solche gesehen, die an der Öde ihrer Welt verzweifelt waren und als stille und wilde Trinker ihr Leben dahinbrachten. Oder solche, die in Haß und Verbitterung ihre Herzen zuschlossen, Menschenfeinde, die hart und kalt wie erbarmungslose Richter vor den verstörten Kindern standen und die man nicht mehr sah, wenn die Schulglocke um die Mittagszeit geläutet hatte. Aber die meisten unter ihnen waren doch von der Weisheit der Armut und der Einsamkeit erfüllt, freundlich eingeschlossen in ihre Welt, und das stille Licht, das sie durch ihre verlassenen Jahre trugen, leuchtete den Großen wie den Kleinen, ein zitterndes, kärgliches Licht, aber es fiel doch in manche trübe Stunde als ein tröstender Schein und gab Herz und Hand an ihre Not, während der Pfarrer aus dem fernen Kirchdorf schon aus einer düsteren, feindlichen Fremde kam, seine Worte über sie hinstreute und wieder verschwand.

Es gab solche unter ihnen, die ihre Bienen pflegten, und solche, die am Abend bei offenen Fenstern auf ihrer Geige spielten. Solche, die in den Hügeln nach alten Waffen gruben, und solche, die mit einer grünen Trommel über der Schulter in den Wäldern verschwanden, um nach Pflanzen zu suchen. Aber alle hatten sich in dem Gleichmaß der Tage einen kleinen Altar errichtet, vor dem sie beteten, einen Nachglanz jugendlicher Tage, in denen sie davon geträumt hatten, Führer und Propheten ihrer Dörfer zu werden, ein Brunnen der Liebe oder eine Fackel der Tat, und alle Armen und Gebeugten aus der Not ihres Lebens hinaufzuführen auf die reinen Höhen des Wissens, der Liebe, der Fröhlichkeit.

Sie hatten alle verzichtet. Ihre Träume waren verwelkt, ihre Kränze hingen immer noch unter den Sternen. Ihre großen Worte waren kleiner geworden, weil nur die kleinen Worte über die Schwelle fanden. Aber eines war ihnen langsam aufgegangen, wovon man ihnen auf dem Seminar nie etwas gesagt hatte: das Leben. Die Armut und die Bürde, die Größe und Heiligkeit des Lebens. Auch des kleinsten und niedrigsten, des verlassensten und verachtetsten. Und wenn sie den Sinn ihres eigenen Lebens bedachten, am Ende ihres Dienstes oder Daseins, so wollte es ihnen manchmal scheinen, als sei er unter allen Zweifeln und Rätseln doch zu finden, ein schlichter und bescheidener Sinn, aber doch kein Umsonst, kein Irrtum, keine Sinnlosigkeit.

Herr Stilling hatte es früher erkannt als viele seiner Vorgänger. Auch er hatte seine Träume und Kränze gehabt, aber das trockene Brot, bei dem er aufgewachsen war, armer Waldarbeiter Kind, hatte ihm dazu geholfen, daß sie nicht in einem fernen Nebel glänzten. Auch ihm war die Forderung tief ins Herz gefallen, als er sie zum erstenmal vernommen hatte, daß der Mensch edel, hilfreich und gut zu sein habe, aber ungleich vielen anderen machte er nicht den Text einer Predigt daraus, sondern meinte, daß man das Wort des großen Dichters auch erfülle, wenn man beim Kalben einer Kuh helfe, bei Krankheit und Trübsal, bei Trunksucht und Unfrieden, und daß auch in den ärmsten Dörfern langsam verstanden werde, ob jemand nach der Schrift tue oder nur nach ihr rede.

So war er, lange bevor sein Haar sich weiß gefärbt hatte, einer der Ihrigen geworden. Vor dem nichts verborgen zu werden brauchte, weil er doch alles sah, auch das im Dunkeln Geschehende. Der ihre wenigen Briefe schrieb und die vielen Kinder begrub. Und der alles umsonst tat, das Gute wie das Mühevolle. Der einzige unter ihnen, der ganz reinen Herzens war und an dem sie ahnten, daß es noch eine bessere Welt geben müsse als die ihrige, wenn sie ihnen auch für immer verschlossen bleiben würde.

Er hatte seine Frau begraben, und sein Sohn war übers Meer gegangen, fort von dem stillen Leben, das er für ihn bereitet hatte, verschollen an einer unbekannten, glühenden Küste, eine Mahnung für ihn, daß das Böse sich leichter vererbe als das Gute und daß auch im reinen Herzen die dunklen Kräfte lebendig seien, die Gott von Kains Geburt an ausgestreut hatte unter die Menschen. Eine Schwester führte ihm das Haus, die so fromm war, daß es schmerzte, die von dem Dorfe nur als von Sodom sprach und mitunter wie ein Racheengel von Haus zu Haus ging, wenn es einen verbotenen Fischzug gegeben hatte, ein Trinkgelage oder eine Prügelei. Sie war verwachsen, mit großen sanften Augen und hieß Elise, aber Gogun nannte sie »Frau Elias«, weil der Geist über sie kommen könne und sie dann umgehe, um die Baalspriester zu schlachten.

Während solcher Kreuzzüge ging Herr Stilling in die Wälder und Moore, einen kleinen Spaten in der Hand und die grüne Trommel auf dem Rücken, und schon hinter dem zweiten Hause begann er die Leute von Sowirog fröhlich und verstohlen zu warnen, daß die Heidenbekehrerin unterwegs sei, damit sie hinter den Gartenzäunen auf die Felder entfliehen könnten. In der Hauptstadt der Provinz lebte ein Professor mit einem berühmten Namen, zu dessen Füßen viele Studenten saßen, und für ihn grub und sammelte und erforschte er alles, was unter den hohen Fichten oder zwischen den Moorgräben wuchs, aus lange vergangenen Zeiten, als noch das Eis über dem Lande gelegen hatte oder der Steppenwind über die Öde gestrichen war.

Empfing er Brief und Dank von dort, so schien ihm sein bescheidenes Leben angeknüpft an das große Gewebe der Welt, ja es war ihm, als sei er ein Schüler jener Großen der Forschung und als trage auch er seinen demütigen Teil dazu bei, daß die Flamme der Wissenschaft nicht erlösche, sondern von Hand zu Hand gereicht werde, bis zu den fernen Grenzen hin, die Gottes Weisheit dem Menschensinn gesteckt habe.

Oft hatte er bei diesen Wanderungen einen seiner Schüler bei sich, von dem er glaubte, daß sein Geist sich erwecken und in Zukunft für ein Leben entzünden lassen werde, das aus dem Dunkel des Dorfes aufsteigen werde wie ein Stern. Was er von seinem kümmerlichen Gehalt ersparte, legte er auf einer Kasse der Kreisstadt an, Zins und Zinseszins, so heimlich, daß selbst Elise nichts davon wußte, und das Ganze nannte er die »Nobel-Stiftung«, dazu bestimmt und ausersehen, dem ersten der Dorfkinder den Weg in die Welt des Geistes zu öffnen, das nach dem Willen des Schicksals mit dem begabt worden war, das er an Gaben des Verstandes und Herzens dafür als nötig erachtete.

Doch waren jahrzehntelang nur Stifter und Stiftung da, während das Dorf durchaus eines Jungen ermangelte, der geeignet gewesen wäre, ihre Segnungen zu empfangen. Und erst ein paar Jahre waren vergangen, seit Stilling nach langer Beobachtung und Prüfung, und auch dann nicht leichten Herzens, einen seiner Schüler gefragt hatte, ob er ihm erlauben würde, für ihn zu sorgen und ihn auf die hohe Schule zu schicken, von wo er dann den Weg zu einem hohen Amte wählen könne, dem eines Seelsorgers oder eines Menschenarztes, oder was ihm sonst erstrebenswert erscheinen werde.

Sie hatten am Rand des Moores gesessen, Orchideen und Sonnentau vor sich ausgebreitet, in einer warmen herbstlichen Sonne, die das Harz noch einmal von den Fichten herunterrinnen ließ. Der Altweibersommer war durch die blaue Luft gesegelt, und an allen niedrigen Birken des Moores waren seine Schleier aufgehängt gewesen. Fern hatte das Dorf gelegen, fern die ganze Welt, und in der stillen Stunde war es gewesen, als säßen sie verzaubert am Rande der Erde und trügen den Wunschring am Finger, der nun einem von ihnen ein unbekanntes Reich aufschließen sollte.

Aber der, für den er gedacht war, gab den Ring still zurück. Er wollte nicht. Er wollte Dorf und See und Wald nicht verlassen, nicht die Armut und die Fron, den Kienspan am Herde und den Schweiß auf dem Acker. Er wußte, daß das andere schön sein würde, ein Wunder wie aus einem Märchenbuch, ein Glanz auf dem Namen seines Geschlechtes, und er glaubte auch, daß er den Weg bezwingen würde, der dort auf ihn wartete.

Aber er wollte nicht. Er konnte es mit Worten nicht gut erklären, wie er seine ganze Jugend lang ein einsilbiges, ja düsteres Kind gewesen war. Er wußte nur, daß es nicht gut für ihn sein würde, nicht das Richtige. Daß dies alles hier ihn nicht losließe, obwohl er wenig Freude davon erwartete. Daß er dem Herrn Lehrer sehr dankbar sei, mehr als er sagen könne, aber daß er glaube, ihm sei ein schwerer und früher Tod bestimmt, und den wolle er lieber hier sterben als in einem fremden Land.

Es hatte merkwürdig geklungen aus einem so jungen Munde, und doch hatte der Lehrer geschwiegen, als er in das junge, zugeschlossene Gesicht gesehen hatte. »Es ist gut«, hatte er gesagt, »und wir wollen beide nicht darüber sprechen.«

Dieser Junge war Michael gewesen, und in der Nacht, als Stilling schlaflos gelegen und zugehört hatte, wie die Äpfel in seinem Garten auf das Gras fielen, war ihm gewesen, als sei dieses Haus der Jeromins vielleicht dazu bestimmt, den Namen des Dorfes noch einmal weit hinauszutragen in die Landschaft. Nur wußte er nicht, ob der Name leuchten oder brennen würde, und wenn er an die sieben Kinder dachte, die diesen Namen trugen, wußte er es noch weniger.

Doch hatte er von da an mit noch größerer Aufmerksamkeit in die Augen der Sieben geblickt, die er je nach ihren Taten oder Äußerungen die sieben Raben, die sieben Schwäne oder die sieben Geißlein zu nennen pflegte. Alle waren schöne Kinder, drei von einer dunklen und vier von einer hellen Schönheit, aber er wußte, daß Schönheit eine Gefahr war, ob sie nun über dunklem oder über hellem Scheitel lag. Es war deutlich zu sehen, daß in Michael, Gotthold und Gina das Blut der Mutter lebendig war, ein fremdes, trauriges Blut, das nach großen, wilden Dingen trachtete und mit dem Leben in Hader lag. So wie in den vier anderen das Blut der Jeromins lebte, ein stilles, träumerisches Blut, das in den Weg der Weisheit und Entsagung münden konnte, aber auch in den des zärtlichen Spiels, einer geheimnisvollen Frömmigkeit oder eines bloßen Dahintreibens und einer blinden Hörigkeit.

Oft stand er am Morgen unter der großen Linde des Schulhofes und sah den Kindern entgegen, die aus dem Dorf und den Abbauten langsam oder hastig dem Klang der kleinen Glocke zustrebten. Er kannte alle ihre Schicksale und die Schicksale ihrer Väter und Großväter, und es war ihm, als könne er mit einem leisen Griffel die Linien aller Geschlechter nachziehen, wie sie durch die Zeiten hin sich verschlangen und verwirrten, auflösten und auf den Weg mündeten, der ihnen vorgezeichnet war. Die Linien der Gonschors und Daidas, der Goguns und Glumsdas, der Grünheids und Pionteks. Wie gutes Blut sich mit schlechtem mischte, Wildes und Stumpfes, und wie einiges in seine Hand gegeben war, daß er bessere, kläre und leite, Weniges nur und vielleicht nur für kurze Jahre, aber das Ganze doch nicht ohne Hoffnung und Sinn.

Auch die Jerominkinder sah er ankommen, Michael allein, Gotthold allein und Gina manchmal noch vor dem Tor zögern, umkehren und hinter den Gärten im Moor verschwinden.

Aber die anderen kamen zusammen, eine kleine Karawane mit dem alten Kinderwagen, den Maria schob und in dem Christean mit seinem alten Gesicht saß, die Krücken aufrecht zwischen den Händen, die ernsten Augen zu den Wolken aufgehoben, die groß und feierlich über die Dächer zogen. Vor ihnen her ging Friedrich, immer mit wirrem Haar und meistens eine Weidenflöte an den Lippen, auf der er Lieder blies, die niemand kannte, ein Rattenfänger aus der Sage, dem die Mädchen nachsahen, ganz unbewußt seines Wesens, aber manchmal, inmitten seines Liedes, abwesend und in eine stille Traurigkeit versinkend, aus der er mit ernstem Gesicht erwachte, ein Träumender, der sich fast ängstlich nach den andern und dem Wagen umsah.

Aber nun, seit dem letzten Frühjahr, am Ende des Zuges Jons Ehrenreich, ernst und fast feierlich, ein kleiner Meßknabe, der zu dem Priester und dem Sakrament schritt. Auf ihm blieben des Lehrers Augen am längsten haften, noch während Friedrich behutsam und unter Scherzen den kleinen Krüppel aus dem Wagen hob und ihn in die Klasse trug. Er wollte nicht mehr hoffen, seit seine einzige Hoffnung zerstört worden war, aber manchmal, bei der Ankunft auf dem Hofe und während des Unterrichtes, wollte ihm bei aller Ängstlichkeit des Urteils doch scheinen, als sei diese breite, klare Kinderstirn über den tiefliegenden hellen Augen anders geformt als die andern Stirnen, ein schönes Gehäuse über einem reinen Kern, und seine Fragen, die er an Jons richtete, waren anders als die üblichen Fragen, manchmal voller Fallen und Listen, Fragen, bei denen er selbst den Atem anhielt und vor denen Jons doch immer bestand, zögernd meistens und nach langem Nachdenken, aber doch bestand, und nach denen er tief Atem holte, wenn die alte Hand sich auf sein Haar legte und die alte Stimme freundlich sagte: »Das war brav, Jons Ehrenreich, das war brav ...«

Und es kam dazu, noch in diesem ersten Frühjahr, daß Jons auf eine andere Weise auffiel als durch die Gewecktheit seines Geistes. Es gab damals noch in allen Dörfern der Provinz die geistliche Schulaufsicht, als einen Überrest der Zeit, in der die Theologie als die Meisterin und Krone aller Wissenschaften gegolten hatte. Nun war der Pfarrer des Kirchdorfes, zu dem Sowirog gehörte, ein nicht ungütiger, aber langsam bitter gewordener Mensch, der es müde war, das Evangelium über einen dornigen Acker zu sprechen, auf dem er nichts wachsen sah als Diebstahl, Trunkenheit, Prozeßsucht und Heimtücke. Sein Leben schien ihm vertan, und da er sich nicht für einen unzureichenden Diener des Herrn halten wollte, so blieb ihm nur übrig, seine Gemeinde für sündige Böcke zu halten, für ein Teufelsgeschlecht, in Wäldern und Mooren gezeugt, aufsässig und widerspenstig, eine Rotte Korah, die nicht der Liebe, sondern der Zuchtrute bedürfe.

Und kam er in die kleinen Dorfschulen seines Bezirkes, so sahen seine Augen in allen den Kinderaugen, die zu ihm aufgeschlagen waren, nicht Scheu und Ehrfurcht oder auch nur ein dumpfes Verwundern, sondern er sah hinter ihnen die Augen ihrer Väter und Mütter, ihrer Vor- und Nachfahren, Augen, die sich ein Leben lang scheu und widerstrebend zur Seite gewendet hatten, wenn er an ihr Gewissen geklopft hatte, und sein Blick, ohne Liebe, erkältete alle Bereitwilligkeit zur Antwort und zur Freude, so daß es nicht lange dauerte, bis er den Lehrer mit düsterem Kopfnicken in die gleiche Reihe der Schuldigen zu stellen schien, als einen ungetreuen Arbeiter im Weinberg des Herrn, von dessen sauren Früchten sie sich nun alle miteinander seufzend überzeugen könnten.

Manche empörten sich, und manche taten, als merkten sie es nicht. Herr Stilling aber hatte in solchen Stunden ein paarmal eines der Gleichnisse aus dem Neuen Testament besprochen, in denen von der großen Liebe erzählt wurde, die der Herr von seinen Gläubigen verlangte, und wenn er dann mit seiner alten, schon etwas zitternden Hand über sein weißes Haar strich, den Pfarrer wie gedankenverloren lange ansah und sagte: »Ja, so sollten wir alle tun, und die Großen noch mehr als die Unmündigen«, so pflegte der Pfarrer seine Prüfung bald zu beenden, in unbehaglichen Gedanken, ob diese Predigt etwa ihm gegolten habe, und in seinem Wagen mit dem mageren Trost sich helfend, daß dieser alte Mann ja nun bald sein Amt in jüngere und wohl ehrfurchtvollere Hände legen werde.

Diesmal aber hatte Stilling kein besonderes Gleichnis ausgesucht, sondern es war alles von selbst gekommen. Auf der Landstraße vor dem Dorf war der Pfarrer dem Gendarmen Korsanke begegnet, dessen Sohn er zu Ostern eingesegnet hatte. Korsanke war zu Pferde, den Helm auf dem runden Kopf, und sein gutmütiges Gesicht hatte dem Wagen unbehaglich entgegengesehen, denn er war nicht allein gewesen. An seinem linken Steigbügel, mit einem dünnen Lederriemen an das Eisen gebunden, war der Kätner und Waldarbeiter Daida geschritten, ein kleiner, gebeugter Mann, schon mit grauen Haaren, und hatte ohne Verlegenheit, ja mit einer fast spöttischen Neugierde dem Pfarrer entgegengeblickt.

Korsanke war niemals ein böser Mensch gewesen. Er wußte, wie das Leben in diesen Dörfern war, wußte, was Hungerzeiten und Hungerjahre waren und wie ein Klafter Holz oder ein Hase die dunklen Hütten für eine Weile hell und glücklich machen konnten. Aber er war ein alter Unteroffizier, der seinen Eid geschworen hatte, und ein Haftbefehl war ein Befehl, an dem nichts zu rütteln war. Und Hasen in der Schlinge zu fangen, dazu in der Schonzeit, war eben auch kein gutes Handwerk. Es gab ein paar Monate, und damit war es überstanden.

Aber es war nicht angenehm, daß er nun den Pfarrer traf. Es ging wohl auch etwas über seine Dienstbefugnisse hinaus, das mit der Lederleine am Steigbügel, doch waren die verschilften Gräben schmal, der Wald dahinter dicht und sumpfig, und wenn die Leute Dummheiten machten und verschwanden, gab es Scherereien und schließlich einen Rüffel. Aber es war nicht angenehm, und er hoffte nur, der Pfarrer würde sich an seinem militärischen Gruß genügen lassen und dann zur Seite sehen.

Aber der Pfarrer war weit davon entfernt, zur Seite zu sehen, und auch Daida hielt den Schritt an und sah lächelnd zum Wagen hinauf, als erwarte er sich einen schönen geistlichen Zuspruch auf seine unbequeme Reise.

So mußte Korsanke erklären, und der Pfarrer hielt eine Predigt aus dem Stegreif, die der Gendarm achtungsvoll mit anhörte, wobei der Zweifel ihn plagte, ob er nun dabei den Helm abnehmen müsse oder nicht. Daida aber blickte mit unschuldigen Augen zu dem Zürnenden empor und schloß dann die Szene mit der unerwarteten Bemerkung, daß er sich herzlich bedanke. So schön habe der Herr Pfarrer gesprochen, und es sei nur schade, daß der Herr Förster die Predigt nicht mit angehört habe. Sie würde ihm so gut getan haben, über alle Maßen gut.

Worauf Korsanke höflich die Achseln zuckte und mit seinem Gefangenen Abschied nahm.

In der Schule nun, ohne sich Böses zu denken, begann der Pfarrer mit einem Bericht über diese Begegnung und einer Erläuterung des siebenten Gebotes, wobei es ihm nur recht war, daß alle Augen sich verstohlen auf die fünf Daidakinder richteten, die unglücklich auf ihre Bänke niederblickten. Dann erst bat er den Lehrer, mit der Religionsstunde zu beginnen.

Herr Stilling war dem allem schweigend gefolgt, und niemand hätte von seinem stillen Gesicht Billigung oder Tadel ablesen können. Und auch als er nun Christean aufrief, das Gleichnis vom großen Schuldner zu erzählen, geschah es ohne eine andere Absicht, als dem Stundenplan des Tages zu folgen. Aber als Christean seine hellen Augen in dem alten Gesicht auf den Pfarrer richtete, wie er es der Ehrfurcht vor dessen Amt angemessen hielt, und mit seiner schönen Stimme zu sprechen begann: »Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte«, war es dem Pfarrer doch, als werde hier wieder etwas Besonderes für ihn ausgesucht, und er ließ seine Augen forschend zwischen dem Sprechenden und dem Lehrer hin und her gehen.

Aber erst, als er nach den letzten Worten und einem kleinen Stillschweigen den Lehrer mit einer Handbewegung warten ließ und die Frage stellte, ob sie nun wüßten, was ein Schalksknecht sei und ob einer von ihnen einen solchen kenne, geschah das allen Unerwartete und ganz Unerhörte, daß allein unter allen der kleine Jons seine Hand hob und, vom Pfarrer aufgerufen, laut und ohne Zweifel sagte: »Der Kaiser!«

Selbst Stilling sah für eine Weile ratlos in das junge Gesicht, aber dann, bevor der Pfarrer die Hände noch beschwörend erhoben hatte, fragte er schon mit seiner ruhigen Stimme, weshalb er das meine.

Der Kaiser brauche nicht zu hungern, antwortete Jons mit Entschiedenheit. Er esse von goldenen Tellern, den ganzen Tag und was er gern möge. Und er wisse nicht, wie die Daidas hier hungern müßten, da ihre Kuh gefallen sei und das Winterkorn verbraucht. Und ein Hase mache den Kaiser nicht arm, er habe so viele Hasen wie Nadeln an den Kiefern. Der Kaiser sei sein Pate und habe ihm eine Tasse geschenkt, aber sein Vater habe gesagt, von einer leeren Tasse würden die Armen nicht satt. Und siebenzigmalsiebenmal habe Daida noch keine Hasen gefangen, und sovielmal müsse auch der Kaiser seinen Schuldigern vergeben.

Lange nicht hatte in der kleinen Klasse mit der schäbigen Wandtafel und der zerrissenen Landkarte ein so tödliches Schweigen geherrscht wie nach dieser Rede. Von draußen hörte man den Ziehbrunnen gehen und eine Kuh aus dem Moor brüllen, aber es war, als gehörten diese Töne einer anderen Welt an, die bisher in sich bestanden und geruht hatte und die nun aufhören würde, da zu sein.

Noch bevor der Lehrer etwas sagen konnte – und schon als er die Lippen öffnete, wußte er noch nicht, was er nun sagen sollte –, fragte der Pfarrer mit einer ganz veränderten Stimme: »Wie heißt dieses Kind?«

»Jons Ehrenreich Jeromin«, antwortete der Lehrer.

»Aha!« sagte der Pfarrer, und vor seiner Erinnerung standen die Gesichter aller Jeromins auf, die in den langen Jahren seiner Amtszeit seinen Weg gekreuzt hatten. Der Großvater, der das Alte Testament auswendig zu wissen schien und dessen Augen ihn immer so ansahen, als sei der Pfarrer ein Stümper in Gottes Wort. Der Vater, der nicht in die Kirche kam und vielleicht einer der verruchten Sekten angehörte. Die Mutter, die wie eine Katholische aussah, und der Älteste, den er eingesegnet hatte, ein widerspenstiger, finsterer Bursche, der den Konfirmandenunterricht wie eine Gefängnisstrafe über sich hatte ergehen lassen. Gottesleugner und Majestätsbeleidiger, das wuchs wohl am gleichen Holz, und daß es kein grünes Holz war, schien ihm nun nicht mehr zweifelhaft.

»Ich überlasse Ihnen wohl das Weitere«, sagte er zu Stilling, wandte sich und verließ die Klasse.

Das schien nun zwar Stilling eine bequeme Art, das Geschehene zu behandeln, aber er war es doch zufrieden, auch wenn er im Augenblick nicht zu sagen vermochte, wie Pestalozzi sich nun benommen haben würde. Und da er es nicht wußte, blieb er eine Weile am Fenster stehen, die Hände auf dem Rücken, und dachte nicht an die kindliche Majestätsbeleidigung, sondern daran, daß auch ein ganzes Leben mit der Bibel und mit Gottes Wort manchmal nicht ausreiche, um von Christi Atem einen Hauch zu verspüren, und daß dort wie auch bei seinem eigenen Stande wohl vieles im Argen liegen müsse, worunter die Kinder und das ganze Vaterland zu tragen und zu leiden hätten.

Niemand könne, sagte er schließlich, sich wieder zur Klasse wendend, von einem Kinde verlangen, daß es in so traurigen Geschehnissen die Wahrheit erkenne und die Notwendigkeit harter Gesetze. Aber bei einem Kinde sei es schon recht, daß es furchtlos sage, was ihm als die Wahrheit erscheine, und nicht an Menschenfurcht denke, und was an Irrtum in dieser Antwort gewesen sei, das wollten sie alle zu Hause für sich bedenken und am nächsten Tage hier zusammen besprechen.

Am Abend aber saß Stilling lange über seinem Haushaltsbuch, schrieb lange Zahlenreihen untereinander und kam zu dem Beschluß, daß es, wenn er sich noch dies und jenes versage, wohl angehen könne, noch einiges mehr im Laufe eines Jahres für seine Nobel-Stiftung zurückzulegen, und daß es vielleicht nicht ganz unrecht sei, nach diesem Tage eine begrabene Hoffnung wieder zum Leben zu erwecken.

Er saß noch eine Weile auf der Bank bei seinen Bienenstöcken und sah dem Rauch seiner langen Pfeife nach. Die Sterne schimmerten matt vom dunstigen Himmel herab, und die Luft roch nach Regen. Er war nun fast vierzig Jahre hier im Amt, nicht viel anders als ein Verbannter auf einer steinigen Insel, aber wer die Geduld und Demut besaß, den Stein zu Sand zu zerreiben, konnte doch nach Jahrzehnten es wachsen sehen, eine Flechte, ein Moos und vielleicht auch einmal eine Blüte. Es war doch nicht so, daß die Eiferer die Welt gewannen, nicht Schwester Elise und nicht der Pfarrer, sondern daß die Liebe sie gewann, wenn sie überhaupt zu gewinnen war. Die Liebe und die Geduld, und daß die Hand, die einen Durstigen tränkte, mehr war als das Wort, das in tausend Kirchen erscholl. Zu allen Zeiten war das Wort billig gewesen und manchmal mehr ein Fluch als ein Segen. Die Ärzte heilten nicht mit Worten, der Bauer pflügte schweigend, und stumm war Christus zum Kreuz gegangen. Und wenn er selbst sein Leben überdachte: zuviel hatte auch er gesprochen, aber seine Hand war stumm gewesen, und manchmal war ihr gelungen, was allen Großen des Kreises nicht gelungen war.

Ehrenreich Stilling ... vielleicht gewann er nach seinem Tode doch noch diesen Namen. Der Pfarrer würde ihn nicht so nennen, aber vielleicht würde hier und da, in einer der dunklen Winterstuben des Dorfes, sein Name zwar nicht so genannt, aber vielleicht so gedacht werden. Und wenn nicht sein Name, so doch einmal der dieses Kindes, das in so jungen Jahren die Schriftgelehrten aus dem Tempel trieb.

Zwei Wochen später erhielt der Lehrer ein Schreiben des Pfarrers, in dem er ersucht wurde, sich zu äußern, wie er den Vorfall mit dem Schüler namens Jeromin behandelt habe und welche Strafe er ausgesprochen habe.

Stilling berichtete, daß er versucht habe, den Kindern nicht nur das Ungehörige, sondern auch das Unrichtige jenes Vergleiches klarzumachen, wiewohl es nicht einfach sei, den Begriff des Gesetzes vor so jungen Seelen anschaulich zu machen. Ein Kind aber, das vom Bösen noch nichts wisse, für eine Äußerung seines kindlichen Glaubens zu strafen, sei nicht seines Amtes.

Darauf erfolgte lange nichts, und dann traf ein Schreiben seiner vorgesetzten Behörde ein. Man messe dieser Sache zwar kein besonderes Gewicht bei, hieß es darin, und man wolle ihm auch aus dem Vorfall keinen Vorwurf machen. Doch lasse sich nicht leugnen, daß das Ganze sehr unliebsames Aufsehen gemacht habe, zumal ihm bekannt sein werde, daß die unterirdische Wühlarbeit gegen Thron und Altar nun auch in die ländlichen Bezirke Eingang gefunden habe. Er möge es sich doch also sehr angelegen sein lassen, ein wachsames Auge auf seine Kinder und insbesondere auf diese Familie zu haben und der Verantwortung immer eingedenk zu bleiben, die er als ein Diener des Staates und der staatserhaltenden Kreise zu tragen habe. Womit man die Angelegenheit als erledigt betrachten wolle.

›Sie haben ein gutes Gedächtnis‹, dachte der Lehrer, ›aber bis er selbst ein Diener des Staates wird, werden zwanzig Jahre vergehen, und bis dahin werden sie wohl an andre Dinge zu denken haben als an den kleinen Schalksknecht.‹

Frau Marthe, als sie von dem allem hörte, sah ihren Jüngsten nur spöttisch an und meinte, wer so früh am Meiler zu arbeiten beginne, brauche sich nicht zu wundern, wenn er sich auch früh die Finger verbrenne.

Nur der Vater sagte nichts, bis sie wieder am Meiler lagen. Dort ließ er sich am Abend noch einmal das Gleichnis vorlesen, rührte mit einem Span in der Asche des Herdes und sagte dann: »Wer die Hand hebt, wenn die Pfarrer rufen, ist ein Tor. Wer die Hand hebt, wenn sein Gewissen ruft, ist ein getreuer Knecht.« Und er überließ es Jons, sich das Nötige dazu zu denken.

Jons aber entnahm aus allem nicht mehr, als daß er anscheinend den Kaiser beleidigt hatte. Und da er den ganzen Sommer eifrig damit beschäftigt war, Pfeilspitzen zu erfinden, mit denen man vom Boot aus die schweren Schleie schießen könnte, die an schwülen Nachmittagen regungslos über dem Kraut des Grundes standen, vergaß er das Ganze, und nur wenn sein Blick auf die gemalte Tasse unter dem Spiegel fiel, zog er die Augenbrauen zusammen und steckte die rechte Hand schnell in die Tasche.

Die Jeromin-Kinder - Roman in zwei Bänden

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