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Walddörfer leben wie der Wald, in dem sie eingebettet liegen. Bäume stürzen, und neue Schößlinge stehen aus dem vermoderten Laub auf. Sonne und Regen gehen gleichmäßig über alle Wipfel, der Blitz trifft die Buchen wie die Eichen. Der Fuchs schleicht durch die Dickungen wie vor hundert Jahren, und das Reh behütet sein Junges, wie Geschlechter vor ihm es getan haben.

In Sowirog standen die Männer mit der Sonne auf, aßen ihre Milchsuppe oder den Buchweizenbrei, brachen ihr Schwarzbrot hinein und gingen zur Waldarbeit, den geflochtenen Korb auf dem Rücken. Sie hackten Streifen in den Winterschlägen, setzten Reisig auf oder verbrannten es und senkten die jungen Kiefernpflanzen in die sandige Erde. Oder sie bauten Wege, gruben Böschungen ab und karrten den hellen Sand an einen neuen Platz. Wenn der Förster ihnen wohlwollte, war es keine schwere Arbeit, nicht so schwer, daß es ihnen die Sprache verschlagen hätte oder Goguns Scherze geendet hätten. Aber sie dauerte lange, und die Sonne sank schon über dem See, wenn sie wieder heimkamen, eine graue Schlange, die sich müde aus dem Wald hinausschob und auf der Dorfstraße verschwand.

Die Kinder waren in der Schule, die Frauen hatten die Ställe sauber gemacht, hatten gewebt oder gebuttert, und manchmal knieten sie am Seeufer und wuschen zusammen ihre Wäsche. Das Dorf war still, und wenn der Briefträger in seiner blauen Uniform aus dem Walde trat, hielten sie die Hand vor die Augen, ob er an ihrem Gartenzaun stehenblieb oder weiterging. Aber er ging fast immer weiter, außer daß er nun in jeder Woche einmal bei Jeromins eintrat und einen Brief aus der großen Stadt brachte. Sonst gab er das Kreisblatt beim Schulzen ab, eine Zeitung in der Schule, sah sich einmal um, ob dies wirklich ein Dorf sei, und verschwand dann wieder zwischen den hohen Schilfwänden, wo der Weg ins Moor ging. Die Hunde hörten zu bellen auf, und das Ganze war wie eine Vision, die aus der flimmernden Luft aufgestiegen und im Moor versunken war.

Gina Bojar hatte einen Sohn bekommen, der schon im Staub der Straße umherkroch und etwas Graues an einem Bindfaden hinter sich herzog. Das war die Klapper, die wie Elfenbein geglänzt hatte, aber von ihrem Blütenkranz, der um die Rundung gelaufen war, konnte man nichts mehr sehen. Der Mann versuchte noch immer, sie mit seinem Leibriemen zu prügeln, wenn er getrunken hatte, aber seit sie für solche Stunden heißes Wasser auf dem Herde hielt, das sie ihm über die Hände goß, hatte er es unterlassen. Ihr Gesicht war nicht mehr so jung und hell wie damals, und mit den ersten scharfen Linien um den weichen Mund sah sie nun bald so aus wie die anderen, die Kinder geboren und begraben hatten und die auf ihren Schultern mehr trugen als das seidene Tuch am Sonntag.

Daida war schon lange wieder von seinem »Urlaub« zurück, und wenn Korsanke einmal am Abend durchs Dorf ritt, nickte er ihm vertraulich zu wie einem alten Reisegefährten. »Kein Strickchen mit, Herr Wachtmeister?« fragte er fröhlich, und wenn Korsanke ihm mit dem Finger drohte, war alles in Ordnung.

Die Witwe Kroll saß wie eine böse Königin auf ihrem Altenteil, verkaufte Kälber und Schweine für ihren Sohn, verwahrte das Geld und prügelte ihre Schwiegertochter mit dem Besenstiel. Gogun hatte im Frühsommer wieder junge Kraniche auf dem Moor gefangen und sie auf den Gütern verkauft. Und als er mit traurigen Liedern heimgekehrt war und durchaus noch einmal in den Krug wollte, hatte seine Frau ein großes Netz über ihn geworfen und es unter seinen Füßen zugebunden, so daß er wie ein gefangener Habicht auf dem Hof gelegen hatte, bis er nüchtern geworden war.

Der Schulze ging noch immer mit seinem steinernen Gesicht durch das Dorf, hielt seine Wirtschaft in Ordnung und sammelte Taler. Piontek blies am Morgen und Abend auf seinem Rindenhorn und sehnte sich nach Jons, der sein bester Zuhörer gewesen war. Czwallinna hatte keine Schulden mehr einzutreiben, fluchte auf Herrn von Balk und sah mit viel Stolz und etwas Sorge auf seine beiden Söhne, die breit und stark geworden waren und die mitunter vor dem Morgengrauen aus dem Walde kamen, einen Grashalm im Mund und trockene Fichtennadeln auf ihren Schultern. Jakob Jeromin, der vor seinem Meiler lag, hörte manchmal nachts bei Vollmond einen Schuß im Walde fallen, aber er lauschte eigentlich nur auf das Echo, das so schön von Hochwald zu Hochwald rollte.

Gawlicks älteste Tochter hat ein Kind bekommen, aber sie gibt den Vater nicht an, und wenn die Witwe Kroll die Meinung äußert, daß das Kind eine Habichtsnase habe, so lächelt sie und antwortet, daß eine Habichtsnase besser sei als eine Hasenscharte. Und eine Hasenscharte hat das jüngste Enkelkind der Witwe Kroll.

Keine großen Dinge geschehen in solchen Dörfern. Draußen braust die Welt, die Zeitungen schreiben vom kommenden Krieg, aber die Dörfer haben so viele Kriege überstanden, daß sie sie gar nicht zählen können. Der Krieg nimmt ihre Söhne, aber neue werden geboren, und auch die Mächtigen der Erde wollen ihre Kurzweil haben. Das Dorf fragt nicht nach Kriegen und Weltgeschichte. Es führt seine kümmerliche Heuernte ein, und an den Sonntagen brechen die Männer das Korn über dem Nagel, um zu sehen, ob es reif sei. Dann mähen sie es und sehen zum Himmel auf, wo die großen Wolken mit weißglühenden Rändern über die Erde ziehen. Herr von Balk sitzt wieder auf dem Grenzhügel und sieht ihnen zu. Seine Schultern sind noch etwas gebeugter, seine Nase ist noch schärfer, und er sieht aus wie ein Mann, der nicht weiß, wo er zu Hause ist.

Auch Kiewitt hat seine Ernte, und sie ist kümmerlich genug, aber am Abend sitzt er auf seiner Schwelle, blickt auf die mageren Hocken und spricht ein Gebet. Er weiß, wo er zu Hause ist. Er lebt ganz allein, er muß alles selbst tun, und sein Rücken ist gekrümmt von allen Tagewerken seines Lebens. Aber seit er von neuem getauft ist, hat er ein fröhliches Herz. Er hört, was die Leute reden, und manchmal hört er, was draußen in der Welt geschieht, aber es kümmert ihn nicht. Er weiß, daß alles vergeht, aber daß Gott und der Acker bleiben. Eine Mauer ist um ihn gebaut, und alle Posaunen der Erde reichen nicht aus, um sie zu erschüttern.

Die Stoppel wird gepflügt, die Eichelhäher sammeln ihren Wintervorrat, die Kartoffelfeuer brennen. Die Herbstwinde kommen, der Schnee fällt, das alte Jahr neigt sich, und das neue beginnt. Aber das Dorf bleibt dasselbe. Und wenn wieder ein Krieg kommt und der Feind die Häuser niederbrennt, wird es wieder aufgebaut werden, an dem alten Platz.

Es war nicht sehr zu merken, daß Jons fort war. Die Kinder wurden groß und gingen aus dem Hause, das war ein altes Gesetz. Michael war bei den Soldaten. Er trug eine blaue Reiteruniform und zog sie am ersten Tage aus, wenn er Urlaub hatte, um beim Schulzen zu arbeiten. Er war gern dort, in einer ordentlichen Wirtschaft, bei schweigsamen Leuten, und der Schulze liebte ihn mehr als seine eigenen Kinder. Es wurde viel darüber gesprochen im Dorf, aber es war so. Maria war im Kirchdorf beim Kantor im Dienst, und manchmal kam sie am Sonntag heimlich zum Meiler, um bei ihrem Vater zu sitzen.

Frau Marthe war noch ernster und strenger geworden. Sie lachte nie mehr, aber sie saß manchmal oben in der Kammer, wo Jons geschlafen hatte, eines seiner alten Schulhefte in der Hand, und blickte auf das kleine Fenster, hinter dem das Abendrot stand. Ja, sie würde zufrieden sein, auch wenn er nur ein Pfarrer werden würde, der das Brot und den Wein an die Gläubigen austeilte. Es war nicht viel in ihren Augen, aber er würde Kinder haben, und sie konnten höher steigen. Höher, als der Rauch des Meilers stieg. Sie fragte nicht viel danach, ob er glücklich oder unglücklich war in der großen Stadt. Er hatte zu arbeiten, wie sie alle gearbeitet hatten, und darauf zu sehen, daß er in allen Dingen der Erste sei.

Der Lehrer Stilling hatte keinen neuen Jungen mehr ausgewählt, der ihn auf der Pflanzensuche begleitet hätte. Doch saß er nun gegen Abend gern für eine Weile am Meiler, sah der dünnen Rauchsäule zu und sprach mit Jakob. Ihm allein hatte er einen genauen Bericht von der Reise gegeben.

»Ja, das war so eine Fahrt, Jeromin«, hatte er gesagt. »Mit der Holzkiste war es schon nicht ganz einfach, und nun kam noch der Buchfink dazu. Die Leute starrten, als kämen wir vom Amazonenstrom. Ich weiß ja, wie sie darauf aus sind, etwas für ihr Vergnügen zu finden, aber Jons wußte es noch nicht. Er dachte immer, daß sie auf sein Haar starrten, das doch unter dem Topf geschnitten war, aber ich weiß, daß sie auf meinen Mantel und auf meinen Zylinder starrten. Sie wußten wohl nicht, ob ich ein russischer Fürst oder ein Kutscher in Livree war.

Ja, und in der Stadt war es nun noch schlimmer. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit ich dagewesen bin, und sie fahren jetzt auf Schienen, in Wagen, die von Pferden gezogen werden. Ein Mann in einem blauen Hemd wollte unsere Kiste tragen, aber wir merkten den Braten. ›Das kennen wir‹, sagte Jons und trat ihm auf die Füße. Der Mann schimpfte mit unflätigen Worten, und alle Leute blieben stehen, aber wir trugen unsere Kiste selbst. Jons war tapfer, wenn auch seine Augen verstört waren.

Wir fanden denn auch schließlich die Pension, und es war ja nicht ganz so, wie es in den Briefen gestanden hatte, aber das Wort ist ja trügerisch. Es ist eine Mutter mit drei Töchtern, und alle sind sehr groß und schwarz gekleidet, und sie wollen gut für Jons sorgen. Ich bestand darauf, daß er ein kleines Zimmer für sich allein bekam, denn es sind viele Kinder da, und sie würden ihn ablenken.«

»Wohin sieht man aus dem Fenster?« fragte Jakob leise.

»Ja, das ist ja nun nicht so wie hier, Jeromin. Es ist eine Mauer, aber sie ist ganz schön grau, und Jons war es auch zufrieden. Und eine von den Töchtern sagte, daß am Abend die Sonne hineinscheine. Wir konnten es nicht sehen, denn es war ein trüber Tag.

Dann gingen wir noch etwas in die Stadt und sahen die großen Gebäude an und den Strom mit den Schiffen. Die Füße taten uns etwas weh, und wir waren ein bißchen taub von dem Lärm, aber am Abend saßen wir dann still in der Kammer von Jons und wiederholten unser Pensum. Jons wußte noch alles.

Und dann war die Prüfung am nächsten Tag. Das war großartig, Jeromin. Zuerst hatten sie uns so komisch angesehen, der Direktor und alle die gelehrten Herren. Und einer hatte gefragt, ob ich auch wirklich Lehrer sei. Aber dann, als es fertig war, da kamen sie alle und sagten, es sei ›phänomenal‹. Und sie schüttelten mir die Hand und sagten, sie könnten es ruhig mit der Quarta versuchen. Jons war ganz blaß und sagte nichts.«

»Und was ist ›phänomenal‹?« fragte Jakob wieder leise.

Der Lehrer erklärte es, und dann erzählte er, wie er am Nachmittag abgefahren sei. Jons habe auf dem Bahnsteig gestanden, ganz klein und schmal in der großen Halle, und einen Augenblick lang – ja, das müsse er wohl bekennen –, einen Augenblick lang sei sein Herz unsicher geworden, oh sie auch recht daran getan hätten, ihn dorthin zu bringen und ihn dann dort stehenzulassen, so allein unter den riesigen Glasdächern, ja, wie ein kleiner Waldpilz in einem großen Gewächshaus.

Jakob nickte. »Er muß es nun zeigen«, sagte er in seiner stillen Weise, »ob wir recht getan haben oder nicht.«

Er und Christean trugen am schwersten daran, daß Jons fort war, aber beide glaubten, daß etwas Großes aus ihm werden würde. Das Große war für sie anders als für die Mutter, und für Jakob war es noch anders als für Christean. Für den Krüppel war das Größte ein Mann, der die Bücher schrieb, die er manchmal in den Händen halten konnte, und es war gleich, ob sie von den Sternen handelten oder vom Evangelium. Er dachte ihn sich wie das Bild in Herrn Stillings Stube, wo ein Mann, der Hieronymus hieß, an einem großen Tische saß, und zu seinen Füßen lag ein Löwe, der die Blätter bewachte, auf denen er schrieb.

Für Jakob aber war er ein Mann, der in einem offenen Wagen durch das Land fuhr und Recht sprach. Er wußte nicht genau, was er nun für ein Amt hatte. Am ehesten war es zu denken, daß der König ihn ausgeschickt hatte und daß er keine anderen Herren über sich hatte als den König und Gott. Und mit diesem Amt würde er die Gerechtigkeit auf den Acker bringen, in alle kleinen Dörfer, denn von den kleinen Dörfern lebte das Land. Nicht von den Städten, wo Männer in blauen Hemden Holzkisten stehlen wollten und wo man aus seinem Fenster auf eine graue Mauer sah.

War dann der Lehrer gegangen, schien ihm der Wald so ungeheuer groß und leer, wie er es niemals gewesen war. Niemals würde Jons anders zurückkommen als für ein paar Tage oder Wochen. Er würde dort bleiben müssen, in der großen Stadt, und er würde nur ein Besuch sein wie die Söhne, die aus den Kohlenbergwerken kamen, um ihren Frauen die Heimat zu zeigen. Auch Michael und Gotthold waren gegangen, aber sie hatten niemals in seinem Herzen gewohnt. Dort hatte nur Jons gewohnt, und nun war es eine öde Stätte geworden. »Aber Hagel wird sein den Wald hinab, und die Stadt danieden wird niedrig sein.« So war es geworden, und er hatte seine Hand dazu gereicht, ja, er hatte den Zaudernden gestoßen. Noch viel unsicherer war er als der Lehrer dort auf dem Bahnsteig, und sicher konnte man nur werden, wenn man nicht an sein Herz dachte, sondern an Jons. Auch Abraham war gehorsam gewesen, und mehr hatte der Herr von ihm verlangt, als er nun von Jakob verlangte.

Lag er dann zur Nacht auf seinem Lager und der erste leise Schlaf kam über seine Augen, so fuhr er manchmal auf wie früher, wenn es im Meiler geknistert hatte, und lauschte, ob sich nicht hinter dem Herd etwas in der anderen Laubstreu rühre. Aber es war nur eine Waldmaus gewesen. Der Mond schien über die Schwelle, und Jakob versuchte sich vorzustellen, wie hoch eine Mauer wohl sein dürfe, damit der Mond über sie hinweg in ein Fenster scheinen könne. Wenn die Sonne schon nicht hineinschiene – und er war überzeugt, daß die vier schwarzen Frauen die Unwahrheit gesagt hatten –, so mußte es doch wenigstens der Mond sein. Nur in Bergwerken scheine weder Sonne noch Mond, noch Sterne, und in ein Bergwerk hatte er Jons doch nicht geschickt.

Langsam verwirrten sich seine Gedanken wieder, und er sah Jons in einem dunklen Schacht begraben, aber es war nicht Kohle oder Erz, was über ihm lag, sondern Bücher und Bücher, ein ganzes Gebirge von Büchern, und obenauf saß der alte Lehrer und spielte auf einer ungeheuren Orgel.

Aber dann war es doch nur der Sturm, der aufgekommen war und im Hochwald brauste.

Keine großen Dinge geschahen im Dorf, nur an seinem Rande veränderte sich etwas. Die Moorkate bekam zwei neue Bewohner, und ein neuer Pfarrer kam. Die Moorkate hieß im Dorf seit undenklichen Zeiten die »Arme Sünde«, und selbst der Großvater Michael wußte nicht, woher der Name kam. Doch lief ein Gerücht, daß die letzten Bewohner, Mann, Frau und zwei Kinder, ihr Leben in einem der Torflöcher geendet hätten, die um das Haus verstreut lagen, aber da das Gerücht von Piontek stammte, war ihm nicht zu sehr zu trauen.

Die »Arme Sünde« hatte immer leergestanden, soweit man sich erinnern konnte, und das Dorf betrachtete sie als ein Eigentum, das man besser nicht besaß. Auch wenn bei Tage ein schwerer Regen die Torfmacher überraschte, zogen sie lieber die Röcke über den Kopf, als daß sie unter dem verfallenen Rohrdach Schutz suchten. Es gab dort eine Küche und eine Stube und oben eine winzige Kammer. An der einen Seite trat der Wald noch heran, nach Süden aber war nichts zu sehen als die braune Öde des Moores, über der die Kiebitze riefen und die Rohrweihen kreisten. Piontek sagte, es sei dort gewesen, wo er den Werwolf in das Eisen gelockt habe.

Und eines Tages, kurz vor der Roggenernte, standen auf dem Hof des Schulzen zwei Frauen, jede ein Bündel in der Hand, und sahen Michael zu, wie er den großen Leiterwagen in Ordnung brachte. Ihre Kleidung war nicht viel anders als die des Dorfes, auch gingen sie barfuß und trugen die Schuhe in der Hand. Aber an ihrer Haltung und ihrem ganzen Wesen war etwas, das sie fremd erscheinen ließ. Michael konnte es nicht gleich erkennen, auch als er auf seinem Weg zum Pferdestall bei ihnen stehenblieb. Doch war ihm, als hätten sie etwas von großen, scheuen Vögeln an sich, die sich verflogen hatten und nun dem Winde mißtrauten, der sie verschlagen hatte.

Die Ältere hatte ein strenges, schon gefurchtes Gesicht, zugeschlossen wie ein Tor, mit blauen, ganz klaren Augen, die ohne alle Furcht waren und die vieles gesehen haben mußten, was man an einem Küchenherd nicht sah. Ihr Haar war grau, schlicht gescheitelt, und wie sie dastand, auf ihren Stock gestützt, sah sie nicht aus, als sei sie gekommen, um hier etwas zu erbitten.

Die Jüngere war fast noch ein Kind, von ganz zarter, fast zerbrechlicher Gestalt, und von ihr konnte Michael nun seine Augen nicht mehr abwenden. Er hatte noch niemals, auch nicht in der Stadt, etwas gesehen, das so nach Schutz und Hilfe verlangt hätte wie dieses schmale Gesicht, in dem der kindliche Mund halb bat und halb schon weinte, ohne zu wissen, weshalb, und in dem die Augen noch erfüllt schienen von etwas Dunklem, das eben vergangen war, und sich schon wieder vorbereiteten, etwas zu empfangen, das noch dunkler sein würde als das eben Gewesene. Gefangene Vögel, meinte Michael, die man in der Hand hielt, konnten so aussehen, und er glaubte ihr Herz unter dem schwarzen Tuch klopfen zu hören.

Indes trat der Schulze aus dem Haus, kam langsam dazu mit seinem unbewegten Gesicht und nahm den Brief, den die Frau ihm reichte, vorsichtig in die Hand, als wisse er nicht, ob er aus unsauberen Händen komme. Nachdem er ihn mehrmals gelesen hatte, sah er die beiden Frauen an, reichte ihn Michael und sah dann auf das Moor hinaus, wo man über das Tor hinweg die »Arme Sünde« liegen sehen konnte, von der in dem Brief die Rede war.

Der Brief war von dem Pfarrer eines Kirchspiels in einem weit entfernten Teil der Provinz, und in ihm wurde der Gemeindevorsteher des Dorfes Sowirog gebeten, der Witwe Grita Bauschus und ihrer Tochter Erdmuthe ein kleines Haus, die »Arme Sünde« genannt, von dem sie anscheinend mit Recht behaupteten, daß es ihnen gehöre, zur vorläufigen Wohnung anzuweisen, wenn es leerstehe, bis er, was er bald zu können hoffe, die notwendigen Unterlagen für die berechtigten Erbansprüche beibringen werde. Er bitte, da die beiden Frauen ein schweres Schicksal ohne Schuld getroffen habe, ihnen den Anfang ihres neuen Lebens um Gottes willen zu erleichtern.

Auch Michael las den Brief mehrmals, und dann sahen beide die Frauen an.

»Ihr meint, daß es euer Haus ist?« fragte endlich der Schulze.

»Er ertrank dort mit den Seinigen«, erwiderte die Ältere ruhig. »Seine Schwester war meine Großmutter, und sie war die einzige Erbin.«

»Und wovon lebt ihr?«

»Von unseren Händen, und das war immer noch das beste Leben.«

»Es ist nicht sehr wohnlich dort«, sagte Michael.

Die blauen Augen richteten sich auf ihn. »Wer aus der Hölle kommt, wohnt gut im Regen«, sagte sie.

Das Kind blickte zu Boden, und sie sahen, wie sich seine Hände falteten.

»Solange ich da bin, kann ich euch etwas helfen«, sagte Michael und sah den Schulzen an. Der hob nur die Augenbrauen und meinte dann, da es nach des Pfarrers Worten »um Gottes willen« geschehen solle, so habe er nichts dawider. Und ihre Urkunden möchten sie ihm bringen, sobald sie da seien.

Nach ein paar Tagen zogen sie ein. Ein Leiterwagen brachte ihre Sachen und kehrte wieder um. Die Frauen und Kinder des Dorfes sahen aus der Ferne zu. Unheil werde daraus kommen, sagten sie. Eine tote Sünde solle man nicht wieder zum Leben erwecken. Nach Feierabend aber sahen sie Michael Jeromin auf dem Dach der »Armen Sünde«, wo er die schadhaften Stellen im Rohr ausbesserte, und bald danach stieg der erste Rauch aus dem niedrigen Schornstein.

Von der Frau sah man nicht viel. Es hieß, daß sie Heilkräuter im Walde sammle und bald, auch mit Botengängen, eine ziemliche Kundschaft erworben habe. Daß sich vor ihren Augen alle fürchteten, aber daß, zumal bei Krankheiten, eine große und wunderbare Ruhe von ihr ausgehe und daß um ihre glückliche und sichere Hand mancher Arzt sie beneiden könne.

In dem kleinen Haus am Moor hörte man tagsüber nur das Klappern des Webstuhls. Dort saß das Mädchen, und wenn man es einmal sah, so stand es vor der Tür, die Hände gefaltet, und blickte lange und unbeweglich über das Moor, auf dem die Schatten der großen Wolken langsam dahinzogen.

Nur Michael erfuhr, daß ihr Stiefvater zu Ausgang des Frühlings durch das Beil des Scharfrichters geendet hatte, weil er seine Eltern, die auf dem Altenteil nicht sterben wollten, durch Gift aus dem Leben gebracht hatte.

Es erschreckte ihn, aber nicht so, daß er deshalb fortgeblieben wäre.

Die zweite Veränderung betraf den Pfarrer. Er hieß Agricola, und man erzählte, daß er aus der Hauptstadt der Provinz auf seinen eigenen dringenden Wunsch in das kleine Dorf gekommen sei. Doch wußte niemand, weshalb er das getan habe. Er war ein großer Mensch mit einem kühnen Gesicht und unruhigen, schwermütigen Augen, fünfzig Jahre alt, aber kinderlos, und von seiner Frau sagten die Frauen von Sowirog, daß sie zum Brotanteigen nun keinen Sauerteig mehr brauchten, sondern daß sie nur die Frau Pfarrer zu bitten hätten, den Teig anzusehen. Er werde dann von selbst sauer werden.

Bei dem ersten Gottesdienst, den der Pfarrer im Schulhaus von Sowirog hielt – er fand nach einem alten Brauch alle vier Wochen statt –, predigte er über die Bekehrung des Saulus, wie sie im neunten Kapitel der Apostelgeschichte erzählt wird, und insbesondere über das Wort, das der Herr zu Ananias gesprochen hatte: »Ich will ihm zeigen, wieviel er leiden muß um meines Namens willen.« Und die Predigt blieb ihnen lange im Gedächtnis.

Es war nicht nur so, daß hier ein andrer Mensch vor ihnen stand als der frühere Pfarrer, kein Ausleger und Zureicher, kein Tadler und Richter. Sondern fast einer, der den Weg für eine Weile verloren hatte und mit Unruhe, ja mit Leidenschaft, nach einem Ausweg suchte. Sie merkten, daß er gleich ihnen mit dem Leben noch lange nicht fertig geworden war, ja, daß er vielleicht tiefer als sie im Gestrüpp steckte. Nur wußten sie nicht, um welche Art von Gestrüpp es sich handle. Sie verstanden nicht alles, was er sagte, und sie mußten auch immer wieder auf die Frau Pfarrer sehen, die auf die Wandtafel blickte, so als werde hier in einer fremden Sprache gesprochen. Aber sie verstanden doch, daß hier einer gekommen war, der zu ihnen halten wollte, kein Apostel für die Reichen und die Obrigkeit, kein Stellvertreter des Landrats, sondern einer, der »leiden wollte um Christi Namen willen«.

Als er den Segen gesprochen hatte, sahen sie Schweißtropfen auf seiner Stirn, und es ergriff sie mehr als alles andere. Sie waren nicht gewohnt, daß jemand Schweißtropfen für sie vergoß.

Es erschien ihnen ganz in der Ordnung, daß seine Frau nach dem Gottesdienst in den Wagen stieg und nach Hause fuhr und daß der Pfarrer selbst seinen Besuch in jedem Hause für den Lauf des Tages ankündigte. Zunächst blieb er im Schulhaus, und hier, nach dem Essen, neben den Bienenstöcken, als der Lehrer davon sprach, wie schön es ihm am Abend seines Lebens sei, daß noch einmal das Evangelium in diese Dörfer gebracht werde, gab er zur Antwort, daß es noch immer Pfarrer gebe, die das Evangelium nicht brächten, sondern suchten, und daß er nur noch nicht wisse, ob diese auch Pfarrer sein oder bleiben dürften.

Stilling, nach einer Weile, fragte leise, was er denn wohl mit seinen sechzig Jahren tun solle, wenn er seine kümmerliche Ernte bedenke. Aber der Pfarrer unterbrach ihn. Es handle sich nicht um die Früchte, sagte er. Daß zwei mal zwei vier sei und daß die Erde rund sei und daß die Arbeit besser sei als Müßiggang, das könne man ruhig lehren, weil es eben so sei. Aber daß Christus um unserer Sünden willen gestorben sei, damit wir das ewige Leben hätten, das könne man vielleicht nicht so ruhig lehren. Nicht nur, weil an anderen Orten der Erde anderes gelehrt werde, sondern auch weil ... nun ja, wenn die Sonne sich in Nebel verhülle, so wüßten wir trotzdem, daß sie da sei. Aber wenn Gott sich verhülle, eine Nacht lang, tausend Nächte, ja, tausend Jahre lang, so sich verhülle, daß nur Teufelswerk auf dieser Erde geschehe, dann ...

Er fuhr mit der Hand über die Stirn und lächelte. »Ein schlechter Pfarrer«, sagte er, »der seine Sorgen auf Menschenschultern legt.«

Der Lehrer erwiderte nur, daß auf seine Schultern schon vieles abgeladen worden sei, denn auch in einem solchen Dorfe gebe es vielleicht mehr Sorge, als man denke. Und wer alt werde und es zuerst in den Schultern sei, der sei nicht richtig alt geworden.

Der Pfarrer nickte und bat ihn dann, ihm vom Dorf und seinen Schicksalen zu erzählen.

Es wurde dann Abend, ehe er mit seinen Besuchen fertig war. Zu den Ergriffensten gehörte Gogun, und er meinte, daß er sich jeden Sonntag so eine Predigt wünsche. »Sie ist wie ein Regen, Herr Pfarrer«, sagte er, »und von der Woche ist genug abzuwaschen.«

»Ja, wenn ihr eine Kirche hättet«, meinte der Pfarrer, und er wußte gar nicht, was er für ein verhängnisvolles Wort aussprach.

Es war ein schöner Tag für den Pfarrer. Er erkannte Armut und Dumpfheit, aber er erkannte auch, daß niemand sich verschließen wollte vor ihm. Er hatte in der Hauptstadt eine Gemeinde gehabt, oder doch einen Teil einer Gemeinde, zu dem er niemals den Schlüssel gefunden hatte. Sie glaubten nicht und sündigten. Auch diese sündigten wahrscheinlich, aber sie glaubten. Ihre Sünde war deshalb vielleicht schwerer, aber die Gnade war ihnen näher. Und vielleicht konnte man hier noch einmal anfangen. Er wußte nicht, zum wievielten Male, aber vor Gott konnte man immer von neuem anfangen, immer von neuem.

Er saß lange bei Jeromins, und auch ihm schien es ein seltsames Haus. Gina ging aus der Stube, und Frau Marthe schwieg, aber mit Christean sprach er viel, und als er aufstand, wendete auch der Großvater seine Augen zu ihm. »Paulus wußte viel«, sagte er, »aber mit ihm ist die Unruhe gekommen. Abraham war ruhig, auch vor dem Holzstoß. Auch du wirst ruhig werden, Herr Pfarrer.«

Da ging er verwirrt aus dem Hause.

Er ließ niemanden aus, auch den Meiler nicht, auch Kiewitt nicht. Er war wie ein Schatzgräber. Er fand nicht den großen Schatz, aber aus jeder Hand empfing er eine Münze, und als er am Abend in seine Hand blickte, war sie gefüllter als sonst.

Auch in der »Armen Sünde« kehrte er ein und blieb lange dort, und als er, schon in der hellen Dämmerung, zu Fuß nach seinem Kirchdorf ging, war ihm, als habe er lange keinen so reichen Tag gehabt. Er hatte nicht viel geschenkt, und selbst das billige Trostwort war ihm verhaßt, daß der liebe Gott schon helfen werde. Aber er war beschenkt worden, und auch Pfarrer, meinte er, müßten sich ab und zu beschenken lassen. Nicht nur von Gott, sondern auch von den Menschen. Wie alle Diener sich beschenken ließen.

Zu Hause saß seine Frau im Dunklen, wie sie es seit langem zu tun liebte, und wie immer fiel die Dunkelheit schwer auf sein Herz.

»Und hier, meinst du«, sagte sie, »soll dein Weizen nun noch einmal blühen?«

Er sah den scharfen Umriß ihrer Züge gegen die Fensterscheibe, und ihre Stimme kam wie aus einem leeren Raum. Er fühlte nun, wie müde seine Füße waren und wie alle seine kleinen Schätze wieder von ihm abfielen. Was war auch von einem Pfarrer zu halten, der nicht einmal in seinem Heim die Freude einfangen konnte?

»Ich weiß nicht, ob er blühen wird«, erwiderte er, »aber mir ist nach langer Zeit wieder so ums Herz, als ob ich hier noch einmal anfangen könnte.«

»Ich weiß, wie oft du angefangen hast«, sagte die ferne Stimme, »und wie es ausgegangen ist. Wer nicht mehr glaubt, den hat Gott verworfen, ob ihn auch die Kätner zu Ehren annehmen.«

»Niemand kann sagen, daß ich nicht mehr glaube«, sagte er leise. »Wer weiß das außer Gott allein?«

»Er weiß es, und ich weiß es«, erwiderte sie, »und das ist genug für uns beide.«

Ihr Bild stand ganz still gegen die Helle des Fensters, und auch ihre Lippen schienen sich nicht zu bewegen. Es war, als ob die Worte nicht aus einem Menschenmund kämen, sondern aus einem hölzernen Götzenbild, tief aus dem Innern, und nicht das Götzenbild spräche, sondern eine richtende Stimme, die sich seiner nur als eines Mittels bediente.

»Und wenn es so wäre«, sagte er nach einer Weile, »hättest du dann zu richten? Und ist es überhaupt eine Sache des Richtens, wenn jemand etwas verloren hat?«

»Kinder weinen«, erwiderte sie ebenso unbewegt, »wenn sie eine Münze verloren haben, aber Pfarrer werden gerichtet. Meine Mutter strafte mich, wenn ich eine Masche fallen ließ, und so habe ich wenigstens stricken gelernt.«

»Das ist mehr, als ich gelernt habe«, sagte er bitter, »und wer weiß, ob es nicht auch im Himmel Strickstuben gibt.«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte sie, »aber in der Stadt gab es welche, und es läßt sich schon Brot verdienen damit.«

»Ich glaube nicht, daß du stricken müssen wirst, wenn du von mir fortgehst, Therese.«

»Wenn ich fortgehe, will ich auch von deinem Brot fortgehen. Es war niemals viel Segen dabei.«

Der Zorn verdunkelte seine Augen, aber es war besser, still hinauszugehen. In seinem Zimmer stand er lange am Fenster, die Stirn an den Scheiben, und blickte über den dunklen Garten.

Es war leicht, zu glauben, daß nun davon alles herkomme, die Unsicherheit, der Unglaube, das Leid. Und was gab es, wofür der Mensch nicht eine Entschuldigung gefunden hätte? Aber es war besser, dem leichten Glauben zu mißtrauen. Es gab wohl Menschen, die den Unglauben nicht als ein Unrecht vor Gott, sondern vor den Menschen ansahen. Viel Hoffnung war auf ihn gebaut worden, auf seine Beredtheit, sein Ungestüm, seine Hingabe. Und nun waren sie bitter geworden. Er trachtete nicht nach Ehren, sondern nach der Wahrheit. Auch wer sie fand, beglückte wenige, und er hatte nicht gefunden. Mit fünfzig Jahren noch nicht. Er war nicht ein Diener Gottes gewesen, sondern ein Trinker. Er berauschte sich an Gottes Wort, und dann wurde er nüchtern, und Schalheit war auf seiner Zunge. Aber Gott war kein Wein. Gott war die große Einfalt, und er besaß sie nicht. Alles ließ sich erlernen, aber nicht die Einfalt. Er hatte es früh erkannt und nicht gewagt, seine Erkenntnis zu glauben, weil die Menschen sie Irrtum nannten oder eine Anfechtung. Aber in den Anfechtungen richtete der Mensch sich auf gegen Gott, das wußte er nun. Dort, in den Elendsquartieren seiner städtischen Gemeinde, hatte er sich aufgerichtet, gegen die Leibeigenschaft der Armen, gegen die unzähligen Kindersärge, an denen er gestanden hatte, gegen die zertretenen und mißhandelten Frauen, gegen den großen Lehrsatz, daß es immer so gewesen sei und immer so bleiben werde, den Lehrsatz von Mördern und Dieben, und mit dem allem gegen Gott.

Ja, Gott und nicht der Mensch. Denn er war des Geschwätzes überdrüssig, daß der freie Wille die Verantwortung für alles dieses dem Menschen auflade und nicht Gott. Denn selbst wenn sie da wäre, diese berühmte Freiheit des Willens, so würde sie von Gott kommen, dem Schöpfer aller Dinge.

Und so hatte er nun ein Leben vertan, mit Worten und Begriffen, mit Irrtümern und Erkenntnissen, und seine Hände waren leer geblieben. Sie hatten nach der Tat verlangt, von Jugend an, nach wilden, stolzen und gefährlichen Taten, aber er hatte keine Tat getan. Er hatte nicht einmal ein Kind. Er hatte nur eine Frau, die seinen Unglauben haßte, und hatte nun eine Gemeinde, mit der er noch einmal anfangen wollte. Demütiger konnte man nicht anfangen als hier, und er war noch einmal bereit, zu suchen, ob Gott vielleicht in diesen Walddörfern lebe. Daß er in den Städten nicht lebte, das wußte er nun, und vielleicht war er, der Pfarrer, also nur ein Schatzgräber gewesen, der am falschen Ort gesucht hatte. Vielleicht würden auch ihm hier die Schuppen von den Augen fallen wie jenem, von dem er heute gepredigt hatte und dem gezeigt werden sollte, wieviel er leiden müsse um Gottes Namen willen.

›Ach, lieber Gott‹, dachte der Pfarrer vor dem dunklen Garten, ›wenigstens du könntest doch wissen, wieviel ich um dich gelitten habe ...‹

Er blieb noch stehen, weil die Fensterscheibe so kühl war wie eine Hand – aber kannte er solche Hände? – und die Sterne so schön über den dunklen Bäumen. Wenn es auch ein armes Land war, in das er gekommen war, so war es doch ein großes Land, und wenn Gott nicht einmal in diesen Dörfern lebte, so konnte er immer noch in den Wäldern leben. Weshalb konnte es nicht sein, daß er die Menschen ganz und gar verlassen hatte und nun nur noch bei den Pflanzen und Tieren lebte? Auch Schöpfer können sich irren, und wer den alten Bund zerschlagen hatte, weshalb könnte er nicht auch den neuen zerschlagen? Nur daß er es nicht verkündigt hätte und die Menschen es gar nicht merkten. Daß sie immer noch in den alten Kirchen predigten, aber Gott war schon längst fortgegangen aus ihnen, ohne es ihnen zu sagen. Und nun riefen sie weiter, spielten und agierten, wie Schauspieler, denen man nicht gesagt hatte, daß das Haus sich geleert habe. Ein schauerlicher Anblick. Gesten, Rufe und Beschwörungen, und der Beschworene war nicht mehr da. Gebete und Lieder, und der Angebetete war schon weit auf den Straßen ...

›Ich sollte es alles hinlegen‹, dachte er, ›und als Knecht zu Kiewitt gehen. Ein gepflügter Acker ist mehr als hundert Predigten ... und vielleicht würde er mich noch einmal taufen, er hat ganz die Augen danach ...‹

Das große alte Haus war so still wie ein Grab. Dann hörte er, wie das neue Mädchen in der Küche sang. Es klang, als sei sie tief in einem Berge und gehe immer noch tiefer hinein. ›Sie wird bald aufhören mit Singen‹, dachte er, ›und mit Stricken anfangen ... sie wird es ihr schon beibringen, daß keine Masche fällt ...‹

Die Jeromin-Kinder - Roman in zwei Bänden

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