Читать книгу Die Jeromin-Kinder - Roman in zwei Bänden - Ernst Wiechert - Страница 14

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Die Sekunda, in die Jons nach den Herbstferien zurückkehrte, war nicht rauher oder gefühlloser als andere Sekunden, aber es war, als hielte ein so besonderes Ereignis wie ein Mord ihre Seelen auch auf eine besondere Weise gefangen und als müßten sie einen Weg finden, auf dem man das Grausige zwar etwas aus den Augen verlor, aber doch nur so weit, daß der leise Schauer, der in ihm lebendig wurde, sie gerade noch von ferne erreichte.

Das, was ihnen am seltsamsten vorkam aus allen Nachrichten, die zu ihnen gedrungen waren, war das »Musikalische« dieses Todes, daß nämlich das Flötenspiel ihnen mit dem Mord auf eine zwar unklare, aber unzweifelhafte Weise verbunden war. Hier war etwas, was sie nicht begriffen, aber was geheimnisvoller und deshalb lockender war als die Summe aller nackten Tatsachen. Und so, wie es sie zu einem auf der Straße gefallenen Pferde hinzog, oder zu einem Hause, in dem etwas Dunkles und Blutiges geschehen war, so zog es sie zu Friedrichs Tode hin.

Niemand wußte genau, ob der Okarinaspieler der Klasse von selbst darauf gekommen war oder ob die ganze Vorstellungswelt der Klasse sich nur in ihm verdichtet hatte: aber vor Beginn der Stunden saß er nun bisweilen auf seinem Platz in der dunkelsten Ecke, den Rücken an die graue Wand gelehnt, und spielte eine der traurigen Melodien, die er mit einigen Veränderungen aus dem »Tannhäuser« oder dem »Tristan« entlehnte. Und auch das ergab sich von selbst, daß der zarteste seiner Kameraden, »Susi« genannt, sich auf der Bank ausstreckte, den Kopf auf den Knien des Spielenden, und mit geschlossenen Augen zu lauschen schien, während die anderen schweigend herumstanden und mit ernsten, fast ängstlichen Gesichtern lauschten. Das Ganze nannten sie die »Liebesklage«, und es war ebensoweit von einer Verhöhnung wie von einer Anbetung des Todes entfernt. Es war, als könnten sie mit dem Geheimnisvollen und Grausigen des Ereignisses nicht anders fertig werden, als daß sie sich seiner auf eine mimische und musikalische Form entledigten.

Zuerst war Jons still auf seinem Platz geblieben. Er hatte nur die Musik gehört, und sie hatte ihn mit einem stillen, fast wohltuenden Schmerz an das Geschehene erinnert. Aber da er näher an diesem Tode gestanden hatte als seine Kameraden, so war er für ihn auch ohne die düstere Lockung, die sie zu immer neuer Wiederholung trieb, und allmählich empfand er das Ganze als ein Schauspiel, bei dem ihm selbst die geringste Rolle zufiel. Er empfand es nicht als verletzend, weil es ja ohne diese Absicht vor sich ging, aber es war ihm auf die Dauer schwer, daß ein Stück seines innersten Lebens hier an das helle Tageslicht gezogen wurde, als gehöre es der ganzen Welt an.

So blieb er denn als der Letzte auf dem Korridor, überzeugt, daß auch dieses Spiel wie alle andern einmal aufhören würde.

Hier fand ihn Charlemagne, am Fenster stehend, die Stirn an die Scheiben gelehnt. »Was ist, Jons?« fragte er. »Weshalb stehst du hier?«

Er wolle es für eine Weile nicht mehr hören, erwiderte Jons.

»Was denn?«

Das da drinnen. Aber er bitte den Herrn Doktor, nichts davon zu sagen. Es werde auch so aufhören.

Er ging leise in die Klasse, aber Charlemagne behielt den Griff der Tür in der Hand und hörte eine Weile der Musik zu. Dann ging er hinein. Er ging den Mittelgang bis ans Ende hinunter, ganz langsam, indem er seine hellen Augen über jedes der ihm zugewandten Gesichter prüfend und forschend wandern ließ. Dann lehnte er seinen Rücken an das Pult und sah zu der verstaubten Gaslampe empor. Es war die Haltung, die er bei »großen« Reden einzunehmen pflegte. Sie waren nicht etwa lang, aber die Klasse nannte sie so, weil es sich dabei um einen besonderen Fall zu handeln pflegte.

Es gebe einen Besitz, sagte Charlemagne, den zu erwerben den Menschen im allgemeinen und der Jugend im besonderen am schwersten falle: die Zartheit der Seele. Keine Mädcheneigenschaft, sondern die Scheu, mit schmutzigen Schuhen in einen geweihten Raum zu gehen. Er habe einmal bei einem Begräbnis einen Mann gesehen, der mit einer roten Nelke im Knopfloch erschienen sei. Wahrscheinlich, um seine politische Überzeugung zum Ausdruck zu bringen. Dieser Mann habe vergessen gehabt, daß es für den Tod weder schwarz noch rot noch schwarz-weiß-rot gebe.

Wenn er nun eine ganze Klasse, und zwar seine Klasse, mit einer roten Nelke im Knopfloch sehe, so betrübe ihn das, weil er von seiner Klasse immer viel gehalten habe. Das Geheimnis des Todes entziehe sich der menschlichen Nachahmung. Wer sie versuche, sei ein schlechter Komödiant, der für ein paar Groschen jederzeit bereit sei, mit Hilfe eines schmutzigen Bettlakens den Tod Cäsars darzustellen. Und zwar nicht vor einem Parkett von Königen.

»Sie haben es nicht böse gemeint«, sagte Jons am Abend zu ihm, »und sie sind ja auch alle freundlich zu mir.«

Aber Charlemagne schüttelte den Kopf. »Ein Geschlecht von Wölfen, sage ich dir, Jons, das heraufwächst. Gib ihnen eine Gelegenheit später, und du wirst sehen, was sie dann spielen werden. Da siehst du, wofür wir arbeiten, und in drei Jahren werde ich das »Gastmahl« mit ihnen lesen! Eine verfaulte Zeit, in der die Bildung denen beigebracht wird, deren Väter sie bezahlen können.«

Jumbo zuckte die Achseln. »Ich möchte wissen«, sagte er, »was der für ein Mensch gewesen ist, der zum erstenmal den Tod auf die Bühne gebracht hat, und was er sich dabei gedacht hat. Man kann das nicht wissen und auch nicht, was euer Okarinaspieler sich gedacht hat. Wo der Mensch als Objekt benützt wird, ist immer Roheit, Mönchlein, aber in der Geschichte gibt es schlimmere Roheiten. Sie werden es vergessen, und in zwanzig Jahren hat er vielleicht schon einen Orden. Bei uns spielten sie mal eine Zeitlang Henker, weißt du, und es war nicht ganz ohne, ihnen in die Hände zu fallen. Sie ließen dich hängen, bis du blau warst. Der Haupthenker ist jetzt Reisender in Kinderwäsche, und man sagt, daß er großartig verdiene, weil er so sanft wie ein Lamm sei. Es verwächst sich alles, Mönchlein, sagen sie bei uns. Nur nicht die Verwachsenen.«

Für Jons war es ein großer Trost in diesem dunklen Winter, daß der Vater Maria aus ihrer Stelle bei den Küstersleuten fortgenommen und durchgesetzt hatte, daß sie zu Hause blieb. Im Winter half sie der Mutter, und vom Frühling bis zum Herbst sollte sie ganz bei ihm am Meiler leben.

Er dachte nun viel an seine Geschwister. So viele Jahre waren vergangen, seit er hinter dem alten Kinderwagen, in dem sie Christean zur Schule fuhren, hergegangen war, und es kam ihm zum Bewußtsein, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an jedes Leben gefährlich wurde. Solange sie Kinder gewesen waren, hatte nur ein flüchtiger Schmerz sie betroffen oder der Tod war an ihnen vorbeigestreift. Aber es war nur ein Kindertod gewesen, wie er mitunter durchs Dorf ging, und dem die Namen gleichgültig gewesen waren. Er sammelte sie, wie man Ähren sammelt, und auch die einzelne Ähre trug keinen Namen. Sie waren ein Feld für ihn gewesen, nichts weiter.

Nun aber waren sie langsam herangewachsen, und jeder von ihnen war ein einzelner geworden, auch vor dem Tode. Es gab nun keine Spiele mehr für sie, die sie zusammen spielten, und eine Wolke, die heraufzog, zog nicht über ihnen allen herauf. Es konnte nun sein, daß drei von ihnen im Schatten lebten und drei in der Sonne oder daß einer allein den Tau empfing und die andern dürsteten. Der Same der Fremdheit wuchs langsam in ihrem gemeinsamen Blut auf, und sie strebten nun allmählich auseinander wie die Zweige eines wachsenden Baumes.

Es war nun nicht mehr so, daß es ebenso Christean hätte treffen können, wie es Friedrich getroffen hatte. Christean schnitzte an seinem Lindenholz, und er tat niemandem etwas zuleide damit, ob er seine Tiere oder Menschen schlecht oder gut schnitzte. Aber der Tote hatte die Hand in das Räderwerk der Welt gesteckt, weil er etwas begehrte, was auch andere begehrten. Er hatte nie gehaßt, aber er hatte geliebt, und während er liebte, hatte er den Schild sinken lassen und dem Tod seine entblößte Seite zugewendet. Der Tod hatte zugeschlagen, und sein Name war ausgelöscht aus dem Buche der Lebenden.

So also ging es zu, und so war es wahrscheinlich immer zugegangen. Man hätte den Teufel nicht zu erfinden brauchen, um den Gang der Welt zu erklären. Und wer die Welt »bewegen« wollte, würde wohl mehr als eine Hand in ihr Räderwerk stecken müssen. Auch die Chucholleks schlugen zurück, und man konnte nicht gut sagen, daß Gott es war, der ihre Hand lenkte.

Er sah nun mit anderen Augen auf die Schule. Manches von ihrem Anspruch, für das »Leben« zu lehren, schien ihm zweifelhaft. Und selbst wenn sie, was wahrscheinlicher war, nur für ein Amt oder für eine Fertigkeit lehrte, blieb noch manches zweifelhaft. Wieder begann er, sich in der Stadt umzusehen, auch in den Kirchen, in denen bekannte oder unbekannte Pfarrer predigten, aber er trug nun keinen Gewinn mehr davon. Aus den hohen, gewölbten Hallen war das Leben entflohen, das, was ihm und so vielen anderen auf den Nägeln brannte. Symbole sahen ihn von allen Seiten an, und das Unbekannte, das dem Leben gleichgesetzt oder ihm vielmehr übergeordnet wurde, konnte nur durch das Mittel des Wortes versuchen, sich deutlich oder überzeugend zu machen. Es tönte und brauste durch den schweigenden Raum, es schlug wie ein Hammer immer auf dieselbe Stelle, oder es lockte und versprach, mit Dingen, die niemand gesehen hatte und die unwirklich und wie ein Traum erschienen, sobald man den Raum verlassen hatte und die helle Wintersonne in die Gesichter der Menschen schien.

Nur das Brausen der Orgel erfüllte ihn mit einem Schauer, dessen Wesen ihm unerklärlich blieb, und der Gesang der Stimmen, die sich verflochten und lösten, in die Tiefe sanken und wieder aufstiegen in ein unsichtbares Licht. Er achtete nicht auf die Worte, er ließ sich nur von den Tönen durchdringen, und es war ihm, als werde sein Körper rein und neu, wenn er ihn von den Klängen durchströmen ließ wie von einer unbekannten Sonne.

Kurz vor den Weihnachtsferien legte Jumbo ihm eine kleine, schmale Karte auf den Tisch. »Geh mal hin, Mönchlein«, sagte er, »und höre dir das an. Da ist ein Wunderkind gekommen, wie sie es nennen, jünger als du, das sitzt an einem großen Flügel und spielt Bach und Mozart, Beethoven und Schubert, und wenn ihm jemand ein Thema oder eine Melodie zuruft, so fängt es an, darüber zu phantasieren, und du vergißt, daß das Leben eine wenig erfreuliche Sache ist. Es wird meistens nichts aus solchen Wunderkindern, so wenig wie aus Musterschülern, aber immerhin ist aus Mozart einiges geworden, und dieses sieht aus, als spiele es für sich und nicht für die Menschen.«

So ging Jons in sein erstes Konzert. Es wäre nicht das erste gewesen, wenn er daran gedacht hätte, von Herrn Stillings Geld einen Pfennig an solche Dinge zu wenden, aber er hatte eben nie daran gedacht. Das Gleichnis vom Schalksknecht war noch immer sehr frisch in seiner Erinnerung, und wer von fremdem Gelde sich ein Vergnügen machte, war in seinen Augen nicht anders als ein ungetreuer Knecht.

Er kam so früh, daß er auf den Fußspitzen zu seinem ganz vorn gelegenen Platz gehen mußte, weil in dem noch leeren großen Raum seine genagelten Absätze von den Wänden widerklangen. Die wenigen Menschen, die schon da waren, sprachen leise, und es war ihm so feierlich zumute wie bei dem Begräbnis des toten Bruders. Das Podium war leer, und nur der schwarze Flügel, geöffnet wie die Schwingen eines ungeheuren Vogels, stand schweigend und tödlich ernst über dem Saal. Seine Augen kehrten immer wieder zu ihm zurück, und es war ihm unbegreiflich, wie ein Kind davor bestehen sollte, wenn man es vor die verwirrende Reihe der weißen und schwarzen Tasten setzte. Es würde wie ein Kind vor einem Berge sein, und der Berg würde es erdrücken oder erschlagen.

Er hatte kein Programm gekauft, sondern die Folge der Werke draußen an der Tür auswendig gelernt, den Namen des Kindes, seine kurze Lebensgeschichte, die Städte, in denen es gespielt hatte; und wie der Saal sich nun füllte und er klein und namenlos unter so vielen großen, prächtig gekleideten Menschen saß, nur die kleine Konzertkarte in den Händen, die noch vor nicht langer Zeit schwarz vom Ruß des Meilers gewesen waren, kam ihm das Ganze wie ein Traum vor, und als ein leises Glockenzeichen ertönte, eine kleine Tür an der Seitenwand des Podiums sich öffnete und ein Knabe im blauen Matrosenanzug in ihr stehenblieb, die schüchternen Augen in das Licht und in die vielen, vielen Gesichter gewendet, indem ein Sturm des Beifalls durch den Saal brauste, stand er so ehrfürchtig auf wie in der Schule, wenn der Direktor das Klassenzimmer betrat, und erst als die alte Dame neben ihm lächelnd und behutsam am Ärmel seiner Jacke zog, setzte er sich errötend und saß nun ohne Bewegung, die Hände gefaltet und nun ganz gewiß, daß ein Wunder sich vor ihm auftun würde.

Der Knabe im Matrosenanzug hatte sich in der Tür verbeugt, den Griff noch in der Hand, als sei er unsicher, ob er es wagen solle, vor das Gesicht der wartenden Menge zu treten, war dann bis zum Stuhl vor den Flügel gegangen, hatte sich noch einmal verbeugt, artig, aber so, als seien seine Gedanken schon bei der drohenden Schwärze des ungeheuren Flügels, und saß nun vor dem schmalen Band der Tasten, die kalt und wie gemeißelt vor ihm lagen.

Jons atmete kaum. Er war schon vor dem ersten Ton verzaubert. Er hatte den Flügel und das Konzert vergessen, und seine Augen hingen gebannt an dem kindlichen Gesicht, aus dem das blonde lockige Haar zurückgestrichen war und das ihm wie das Gesicht eines Engels erschien, eines ernsten, schon von Gott geprüften Wesens, das er mit einem Auftrag zur Erde gesandt hatte, um den Menschen eine Botschaft zu bringen, aber niemand wußte noch, ob Freude oder Trauer in dieser Botschaft beschlossen lagen.

Der erste Akkord hallte hart und drohend über den schweigenden Saal. Alles Kindliche war nun ausgelöscht aus dem Gesicht des Spielenden, abgefallen wie eine Maske, und über der erhobenen Stirn lag nun ein fast tödlicher Ernst. Das Gesicht hatte sich so plötzlich verwandelt, daß Jons zuerst gar nicht das Spiel hörte, sondern nur auf diese erhobene Stirn starrte. Er begriff sofort, daß es nicht recht war, dies ein Spiel zu nennen, und wie eine Erscheinung sah er hinter dem Flügel das Band der Jahre vorüberziehen, das diesem Spiel vorausgegangen war. Jahre schweigender, hingegebener und oft verzweifelter Arbeit. Eine tödliche Besessenheit, die den widerstrebenden Körper unterwarf, um frei, wie auf allmächtigen Schwingen, über dem Feld der Töne zu schweben. Niemand wußte, was diese Augen sahen, die zur Decke des Saales aufgeschlagen waren, indes die Hände nur wie gehorsame Diener über die Tasten glitten. Aber die Musik war nicht in den Händen und den Tasten. Die Musik war hinter der klaren, jungen Stirn, auf dem Grunde der abwesenden Augen, in den Kammern des Herzens, durch die das Blut unsichtbar strömte. Es war die eigentliche Musik, die wahre und verborgene, die Gnade, die geschenkt oder errungen worden war, und die in zwei Spiegeln vor den Lauschenden erschien, dem der Töne und dem des jungen Antlitzes, über das sie in Licht und Schatten glitt.

Es war Jons vom ersten Akkord an ohne Zweifel, daß es so war, und während des ganzen Konzerts sah er die Hände des Knaben nur wie helle Schemen über die Tasten gehen. Die Klänge durchwehten ihn wie die der Orgel, aber sie drangen nicht in sein Bewußtsein. Was ihn erbeben ließ und bis in seine letzten Fasern erfüllte, war das Gesicht, das über den Tönen stand und an dem seine Augen wie an einer Erscheinung hingen. Er bedurfte der Töne nicht. Noch bevor die erste selig schwebende Melodie sein Ohr erreichte, hatte er sie von dem Lächeln des jungen Mundes abgelesen. Noch bevor die dunkle Klage unter der linken Hand in sein Bewußtsein trat, faltete er die Hände fester zusammen, weil er von den Schatten, die um Stirn und Augen sich plötzlich breiteten, ablas, daß der dunkle Engel vor die Seele des Spielenden trat. Er war wie ein Geisterseher, und niemals hatte er das Bild des Lebens und des Todes, der Engel und der Dämonen mit einer so schaurigen Gewalt sich vor seinen Augen abzeichnen sehen.

Dies gab es also, daß ein Kind die Welt bewegte, indem es sich von ihr bewegen ließ. Nicht Tat oder Wort war ihm gegeben, sondern nur der heilige Gehorsam, der den großen Meistern folgte und der ihre Schmerzen und Freuden so in sich aufgenommen hatte, daß es wie durchtränkt von ihnen schien. Nicht das schien Jons das Große, daß es ihre Noten spielte, sondern daß es die Fülle ihres Lebens und Leidens in sich hineingetrunken hatte, aus der die Noten geboren worden waren. Daß es wie ein kindlicher Sebastian alle Pfeile ihres Erdenganges ergriffen und an seine junge Brust gedrückt hatte, damit es nun aus ihr wieder herausströme und die Menschen durchschauere. Die Natur hatte ihn mit Händen beschenkt, an die er seine Arbeit gewendet hatte, aber sie waren nur Werkzeuge. Er spielte aus seinem Herzen heraus, und dort, nur ihm sichtbar, weilte die Gestalt, das Letzte, das immer Unerreichbare, um das die Meister schon gerungen hatten, ja, das schon vor dem Berge Nebo gelegen hatte, damals so fern, wie es heute fern war, aber von dem man einen Hauch aus den Tasten aufblühen lassen konnte, ein Lächeln, das so beseligend war, weil es zurückreichte bis in die grauesten Zeiten und in seinem Glanz alle Abgründe des Schmerzes sanft spiegelte, die es überflogen hatte bis in diese Stunde und in diesen Saal hinein.

Er wußte nicht, wie lange es gedauert hatte, ob eine Stunde oder die ganze Nacht. Es gab keine Pausen für ihn, denn auch während der Pausen sah er das Kind dort sitzen und hörte seine Musik. Es war so eingegangen in ihn, daß er es nie verlieren würde. Für ihn war es kein Konzert, das vorüberging, und morgen kam ein anderer Tag mit neuen Bildern und neuen Klängen. Für ihn war es etwas, das nur einmal war, so wie die Einsegnung nur einmal war, und als der letzte Ton verklungen war, ganz in der Tiefe und lange nachhallend aus der Gruft des schwarzen Instruments, als das Kind ihm nachzulauschen schien wie dem Abschiedswort des dunklen Engels, der nun wieder zurückkehrte in seine große Heimat: da war ihm, als habe es ihn wirklich eingesegnet und ihn aufgenommen in einen unverlierbaren Bund, den Bund derer, die durch Töne, Farben und Worte hindurch nach jener letzten Gestalt trachteten, die hinter der Wirrnis der Welt in makellosem Glanze unerkennbar und unerreichbar verharrte.

Er verstand nicht, weshalb die Menschen jubelten, da doch so ungeheuer Ernstes geschehen war, aber sie drängten ihn ohne seinen Willen bis an den Rand des Podiums, wo er stehenbleiben mußte, ohne sich rühren zu können. An seiner Seite stand ein Mann, der wie Herr Stilling aussah und dem das leise ergraute Haar ebenso schlicht über den Rockkragen fiel. Er sah so aus, wie das Kind vielleicht nach dreißig oder vierzig Jahren aussehen würde, und als Jons zu ihm aufsah, nahm er ihn sanft bei den Schultern und stellte ihn zwischen sich und das Podium, damit die Menge ihn nicht erdrücke.

Und hier sah er nun das Ganze noch einmal, wirklicher, ohne die Unbestimmtheit der Ferne, und noch einmal strömte die Woge des Segens über ihn hin. Er klatschte nicht, er stand mit gefalteten Händen wie in der Kirche, und einmal glitt wie über alle Gesichter der Blick des Kindes auch über das seinige, ein müder und schmerzlicher Blick nun, ging weiter und kam noch einmal zu ihm zurück, als fühle er das Gläubige und Inbrünstige dieser Augen, Kinderaugen wie die seinigen und auf der großen Suche nach der großen Gestalt wie auch er. Zwischen zwei Herzschlägen sahen sie einander an, das Kind des Ruhmes und das aus dem Walddorf in der Öde, und plötzlich, wie ein Schlag, durchfuhr es Jons, daß dies das Gesicht des toten Bruders war, das Gesicht zwischen Lächeln und tiefer, einsamer Traurigkeit, das im »Paradies« gelegen hatte, erstarrt und erschlagen, bevor es die letzten Töne erlauscht hatte, zu denen es unterwegs gewesen war, aber dasselbe Gesicht, nur noch erst wie hinter einem Nebel, indes dieses schon von der Klarheit des Tages beglänzt wurde.

Die Tränen schossen ihm in die Augen, als sei der Bruder nun erst wirklich gestorben, und als der freundliche Mann hinter ihm die Hand auf seine Schulter legte und sich über ihn beugte, als wollte er nicht, daß die anderen diese Tränen sähen, flüsterte er ihm leise zu, daß sein Bruder das gleiche Gesicht gehabt habe wie dieses Kind.

Er wußte nicht, weshalb er es sagte, aber als der Mann nun ebenso leise sprach: »Dies ist mein Sohn ... ich werde ihm erzählen von dir«, versiegten seine Tränen, und er stand noch immer versunken am Rande des Podiums, als das Kind und sein Vater schon nicht mehr zu sehen waren, als die Lampen zu erlöschen begannen und ein Mann den Deckel des Flügels schloß, wie man einen Sarg schließt.

Er sprach mit niemandem darüber, auch nicht mit Jumbo, aber er trug von diesem Abend an keine Bitterkeit mehr über den Tod des Bruders in seinem Herzen. Das Kind hatte sie ausgelöscht, und die Erinnerung an den Toten war leise übergegangen in das Bild des Kindes, wo eine dünne Grenze zwischen Leben und Tod sie ohne Schmerzen voneinander trennte.

Sie hatten ein stilles Weihnachtsfest in diesem Jahr. Viel Schnee war gefallen, ein harter Wind wehte wochenlang von Südosten her über die Wälder, und gleich, nachdem die drei heiligen Könige mit ihrem Stern durch das Dorf gegangen waren, begann der Tod an die niedrigen Türen zu klopfen. Es war nicht der große Tod, der die Männer beim Holzfällen erschlug oder sie unter das Eis der Seen zog. Es war der Kindertod, der zwischen den Seen saß und von Dorf zu Dorf ging, um in die bereiften Fensterscheiben zu blicken. Es gab viele Kinder in den Dörfern. Sie waren nicht gut genährt, die Ernte war schlecht gewesen, und nach den Nonnenjahren gab es wenig Arbeit im Walde. Sie begannen damit, über Halsschmerzen zu klagen und unter ihren dicken Federbetten vor Frost zu zittern. Man wußte nichts anderes, als sie Kamillentee trinken zu lassen, und meinte, es werde nun vergehen, wie alle Erkältungen vorübergehen. Erst als Agricola im Bojarschen Hause einen Löffel verlangte, in den Hals des kranken Mädchens sah und die grauen Flecken erblickte, die wie flache Pilze auf der geröteten Schleimhaut wucherten, wußte man, daß es der Tod war.

Es blieb den Frauen nichts, als die Hände zu falten. Es waren über zwei Meilen bis zum nächsten Arzt, und er konnte nicht mehr tun, als mit einem feinen Pinsel an einem langen Draht Terpentin auf die grauen Stellen streichen. Er befahl, die anderen Kinder in einem anderen Raum zu halten, die Fenster vielmals am Tage zu öffnen und den Kranken Wein zu geben. Aber in einem anderen Raum als der Küche erfroren die Kinder, die Fenster waren zugenagelt und mit Erbsenstroh halb verkleidet, und der einzige Wein, den sie kannten, war der Abendmahlswein. Sie machten Steine glühend, warfen sie in eine Wanne mit Wasser, in das sie Terpentin gegossen hatten, bedeckten sie mit einem Tuch und ließen die Kinder die scharfen Dämpfe atmen. Agricola, grau und schlaflos, ging von Haus zu Haus, saß an den Betten und betete in einem Holzstall, wo niemand ihn sah. Er lag auf den Knien, auf der bereiften Erde, und hob noch einmal die Hände zu Gott empor. Er wußte, daß es das letztemal war, er bat um seinen eigenen Tod, um den Tod aller Sünder, wenn es nötig sein sollte, aber um das Leben der Kinder, die ohne Sünde waren. Er verkaufte seine Möbel, um Wein zu kaufen, er fuhr in die Stadt zum Kreisarzt und bat um Hilfe, aber es gab keine Hilfe. »Ich habe ihnen gesagt«, redete der Arzt, »daß man die Luftröhre öffnen und eine Kanüle einsetzen kann, aber sie haben geantwortet, daß sie mir lieber die Axt über den Kopf schlagen würden.«

So nahm der Tod eines der Kinder nach dem andern, ringsum in allen Dörfern. Die kleinen Hügel auf den kleinen Friedhöfen lagen nebeneinander, eine lange Reihe. Der Schnee fiel auf die wenigen Kränze, und nach einer Nacht war alles eine einzige weiße Decke, über die der Wind mit stäubenden Wirbeln zog. Gogun verlor drei seiner Kinder, und es gab wenige Häuser in allen Dörfern, an denen der Tod vorbeigegangen war.

Die Frau aus der »Armen Sünde« hatte seit Wochen nicht zu Hause geschlafen. Wenn Gott neben dem Todesengel einen Engel des Trostes zwischen die Seen geschickt hatte, so hatte er ihre Gestalt angenommen. Vielleicht, daß ihre Kräuter schlechter waren als der Terpentinpinsel des Arztes, vielleicht daß sie besser waren. Aber ihre Hände waren weicher, ihr Mund war beredter, ihre Augen waren tröstender. Sie hatte nicht zwei Meilen zu fahren, sie ging nur von Dorf zu Dorf, in ihr schwarzes Tuch gehüllt. Sie schlief vor dem Herdfeuer, aber ihr Schlaf war nur so lang, wie eine glühende Kohle Zeit braucht, um grau zu werden. Sie hielt die fiebernden Hände, sie trocknete den Schweiß, sie erzählte von der goldenen Stadt. Sie erzählte leise, aber so eindringlich, daß ihre Stimme durch die Wildnis des Fiebers drang und die fliehende Kinderseele noch erreichte, schon während sie die Schuhe ablegte und sich fertigmachte zu ihrem letzten Wege. Es starb sich sanfter unter ihren Händen, und die Kinder, denen sie die Augen zudrückte, hatten ein stilleres Gesicht als die andern.

Lange sah der dunkle Engel ihr zu, geduldig und von Trauer erfüllt. Dann, als die Krankheit erstarb, rührte er sie leise an und winkte ihr, mitzugehen. Sie hatte es gewußt und sträubte sich nicht. Sie war müde, todmüde, und nur die Sorge um ihr Kind ging ab und zu wie ein Schauer über ihren verzehrten Leib.

Bevor sie in die »Arme Sünde« heimkehrte, ging sie noch einmal an Jeromins Haus vorbei und sprach ein paar Worte mit Jakob. Er nickte schweigend, als ein Zeichen, daß er es verspreche. Er versprach auch, ihr Korsanke zu schicken, worum sie ihn mit Dringlichkeit gebeten hatte. Dann setzte sie zu Hause einen kleinen Tisch an ihr Bett, legte Papier und einen Federhalter bereit, stellte eine Flasche mit Tinte und die kleine Lampe dazu und legte sich nieder, um den Tod zu erwarten.

Korsanke kam noch am gleichen Abend. Auch er hatte einen Hügel auf dem Friedhof seines Dorfes, und sein rundes Gesicht war von Furchen durchzogen. Es war ein schwerer Ritt im Schneesturm gewesen, und der Frost war durch das Stroh gedrungen, mit dem er die Steigbügel umwickelt hatte. Er wärmte sich die Füße am Herd und erzählte, wie sein Kind gestorben war. Seine Stimme war leise und alt geworden, und die Frau hörte ihm schweigend zu.

»Schreibe nun, Korsanke!« sagte sie dann, und ihre Stimme war so feierlich, daß er ohne ein Wort gehorchte.

Es sei nun so, sagte die Frau, daß sie bei Friedrichs Tode nicht alles gesagt habe, was sie wisse, und sie sei auch nicht gefragt worden danach. Keiner habe nach der Flöte gefragt. Die Flöte aber habe ein ganzes Stück fort von dem Toten gelegen, so weit, wie man im Zorn ein Stück Holz fortwerfe. Sie habe sie selbst lange nicht gesehen, und erst als die Sonne hoch gestanden sei, habe sie im welken Laub, weit hinter dem Toten, etwas blitzen sehen. Sie habe gedacht, es sei ein Stück Glas, aber es sei die Klappe der Flöte gewesen. Das schwarze Holz sei in der Mitte durchgebrochen gewesen, so wie man ein Stück Holz über dem Knie entzweibreche, und fortgeworfen, so wie man einen bösen Zauber fortwerfe, der einem endlich unter die Hände gekommen sei.

Sie habe die Stücke aufheben wollen, aber dann sei ihr etwas eingefallen. Sie habe gewußt – und davon werde sie nachher sprechen –, daß es Fingerabdrücke gebe, die die Spur der Tat bewahrten. Es sei sicher, daß der Mörder die Flöte zerbrochen habe. Sie sei aus schwarzem Holz und es sei kein Tau gefallen in jener Nacht, weil es am Abend zu regnen begonnen habe. Und wer ein solches Instrument zerbreche, müsse seine Hände sehr fest darum schließen.

Sie habe die Stücke also mit einem Tuch aufgenommen, sie eingewickelt und so nach Hause getragen, daß sie sich nicht bewegt hätten. Er solle die Kommode dort aufschließen und in der untersten Schublade die Kopftücher aufheben, aber nichts bewegen und berühren, bis er die Stücke dem Gericht abgegeben habe.

Korsanke saß eine Weile still da, den Federhalter in der Hand, und blickte auf den Bogen mit seinen Schriftzügen nieder. »Und weshalb, Mutter«, fragte er schließlich und sah sie an, »hast du nichts gesagt bis jetzt?«

Sie starrte eine Weile in die Dämmerung des Zimmers, durch die der rote Schein des Feuers unruhig ging. Ihr Gesicht war nun schon gezeichnet, aber die Augen waren noch immer von der furchtlosen Schärfe, die sie im Leben besessen hatten. »Auch das will ich dir sagen, Korsanke«, erwiderte sie, »wenn keiner als das Gericht es von dir erfährt.«

Er versprach es.

»Wenn ich es gesagt hätte«, fuhr sie fort, »so wäre ich vor Gericht gekommen, und ich hätte angeben müssen, wer ich bin. Ich hätte auch sagen müssen, daß der Scharfrichter mit dem Beil über meinen Mann gekommen ist, weil er seine Eltern umgebracht hat, auf dem Altenteil. Und ich hätte es vor vielen Ohren sagen müssen. Das wollte ich nicht, um meiner Tochter willen. Hast du es gewußt, Korsanke?«

Nein, er hatte es nicht gewußt. Er hatte die Feder hingelegt und sah auf die zugefrorenen Fensterscheiben. Es fröstelte ihn, und er dachte, daß auch er vielleicht die Krankheit bekommen werde. Dunkel war das Leben, und die Frauen hatten es am schwersten.

»Nein, keiner hat es gewußt«, sagte sie, »nur Michael. Und Michael ist wie ein Grab. Erdmuthe trägt ein Kind von ihm, aber er wird sich nicht lange an ihm freuen. Nicht lange. Schreibe es nun auf, Korsanke, daß ich meinen Namen daruntersetzen kann.«

Er stand schwerfällig auf, ging zur Kommode und legte das weiße Tuch vorsichtig unter die Lampe. Dann schrieb er, und sie setzte ihren Namen darunter.

»Du wirst nicht weit zu suchen haben, Korsanke«, sagte sie, »soviel ich davon weiß. Der Älteste von den Czwallinnasöhnen ist hier immer ums Haus, aber es ist ihm nicht um die Tochter zu tun. Ich habe gesehen, wie er gesucht hat, nach der Flöte. Viele Tage und Nächte, wenn der Mond geschienen hat. Er hat Angst, und er hat sich gedacht, daß ich sie gefunden habe ... nun reite wieder, Korsanke, und sage der Tochter, daß sie kommen kann.«

Die Frau in der »Armen Sünde« starb am übernächsten Abend. Sie wollte keinen Arzt und keinen Pfarrer haben. »Sie haben mich gebrochen, wie man Flachs bricht«, sagte sie zu Erdmuthe, »und das ist es ja wohl, was der liebe Gott sich vorgenommen hat mit uns. Ich bin klein genug für ihn, auch ohne den Pfarrer.«

Etwas Geld war da, und in der Not sollte sie zu Jakob gehen, wenn Michael noch nicht von den Soldaten zurück sei. Er habe es ihr versprochen.

Sie starb ganz still, ohne Todeskampf. Der Frost spaltete die Bäume hinter der Hütte, und die zugefrorenen Fensterscheiben waren hell vom Lichte des vollen Mondes.

Während sie begraben wurde, holte man den älteren der Czwallinnasöhne, und damit schien der Tod die Wälder zu verlassen. Aber hinter seinen Fußtritten wurden sie noch einmal gebeugt und verstört.

Wie in alter Zeit hatte Stilling die Tote einsegnen müssen, denn der Pfarrer war nicht gekommen. Er hatte sagen lassen, daß er kein Pfarrer mehr sei. Er hatte sein Amt niedergelegt und verkaufte, was ihm an Sachen und Büchern noch geblieben war. Das Mädchen war aus seinem Hause geflohen, weil er die ganzen Nächte trank und Gott verfluchte. »Komm her, du Kindermörder«, schrie er, »und zeige deine blutigen Hände! Zeige sie her, ganz nahe, damit ich sie dir abtrocknen kann. Es war dir nicht genug an der Erstgeburt in Ägypten und an den Kindern von Bethlehem, nicht wahr? Und auch an deinem eigenen Sohn war es dir nicht genug. Du hast ihn ans Kreuz genagelt, um uns zu erlösen, aber nun erlöst du immer weiter, und immer mit Kreuzen, nicht wahr? Auch diese Kinder fehlten dir noch, einundsiebzig in zehn Dörfern, und es ist schon eine Gnade, daß es nicht siebenzig mal sieben waren. Du weißt sehr gut, daß sie ohne Sünde waren, aber die Eltern hatten es nötig, etwas bestraft zu werden, nicht wahr? Besonders diejenigen, die an deiner Kirche bauten. Wenn du Richter in einer Stadt wärest und sie brächten dir einen Mann, der die Kinder eines Hauses erschlagen hat und der zu dir sagte: ›Jawohl, ich habe sie erschlagen, weil die Eltern zu fröhlich waren und Gott vergaßen. Sie sollten etwas ernster werden‹, dann würdest du sagen: ›Recht hast du gehandelt, Mann, denn du hast so gehandelt wie ich. Gehe in Frieden, und wo Eltern fröhlich sind, überall auf dieser Erde, da erschlage ihre Kinder!‹ Nicht wahr, so würdest du doch sagen, du Gott der Weisheit und der Liebe, dessen Sohn gesagt hat, daß man die Kindlein zu ihm lassen solle?«

Und er hob die Faust gegen das Bild des Gekreuzigten und schleuderte das Glas mit dem roten Wein gegen die Wand, daß es wie Blut von der hellen Tapete tropfte. Da hatte es dem Mädchen gegraut, und es war zu seinen Eltern geflohen.

Als die Leute von Sowirog zu ihrem Pfarrer gingen, Männer und Frauen, einen langen Weg bei Schneesturm und bitterem Frost, erinnerten sie sich, wieviel Nächte er an den Betten ihrer Kinder gesessen hatte, und wenn die anderen ihn allein ließen in dem dunklen, leeren Haus, in dem der Atem gefror, so wollten sie ihn doch nicht allein lassen und zu ihm stehen in seiner Not.

Sie fanden ihn auf seinem Bett liegen, in eine alte Pelzdecke gehüllt, die Augen gegen die dunkle Decke gerichtet, und leise vor sich hinsprechend. Als er sie erkannte, setzte er sich auf und sah sie an. So, meinte er, das gebe es also noch, eine sogenannte treue Gemeinde. Aber eine Gemeinde ohne Pfarrer, ja. Er denke, er werde gleich mitkommen mit ihnen und bei ihnen bleiben, er habe es ohnedem vorgehabt, zu sehen, was der liebe Gott nun eigentlich mit seiner Kirche im Sinne habe. Ja, Michael werde ihm wohl die Hütte auf der Insel für den Winter geben. Kälter als hier könne es nicht sein, und über das Wasser zu fahren, werde Gott vielleicht zu beschwerlich sein. So könne er ganz in Frieden leben, einmal noch in Frieden. Mehr verlange er nicht.

Die Augen in seinem verwüsteten Gesicht brannten, aber er ließ sich doch ruhig den Pelz von den Frauen anziehen und seine wenigen Sachen in den Schlitten legen. In jede Tasche seines Pelzes steckte er eine Rumflasche, und dann fuhren sie ab. Auf der Straße standen die Leute des Kirchdorfes, und viele weinten, aber die Männer und Frauen von Sowirog hielten sich dicht um den Schlitten, und so sahen die andern nicht viel von ihrem Pfarrer. Die Luft war weiß vom jagenden Schnee, und in den Hohlwegen legten sie die Hände an die Kufen, damit der Schlitten nicht umstürze. Die Wälder waren graue und schwankende Mauern, der Sturm ging hohl und klagend über die stäubenden Wipfel, und tief in den Dickungen heulte ein Fuchs.

Es sah aus, als brächten sie noch einen Sarg in ihr Dorf zurück. Aber es war nicht der Kindertod, der ihn gezeichnet hatte. Es war Gott, der ihren Pfarrer geschlagen hatte, und der Pfarrer hatte nicht stillgehalten, sondern zurückgeschlagen. Und auch als er über die Jerominsche Schwelle trat, hatte er sich nicht gebeugt, sondern sich noch einmal nach dem Friedhof zurückgewendet, den man von hier sah, und die Faust gegen die kleinen Hügel gehoben, über die der Schnee mit schweren Tüchern jagte.

Die Jeromin-Kinder - Roman in zwei Bänden

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