Читать книгу Ganz für Familie - Erwin Sittig - Страница 11
ОглавлениеRettet die Geister
Ihr glaubt, es gibt keine Geister?
Ich habe auch nicht daran geglaubt, bis ich sie kennenlernte.
Sie heißt Elise. Eigentlich ist Elise unsichtbar.
Sie wohnte nicht in einem Schloss oder in einem normalen Haus. Nein, sie wohnte in den Kindern, die eine reine Seele haben.
Diese Kinder waren Elises Haus. Hatte sie eines gefunden, das weder bösartig, noch gemein oder egoistisch war, sondern lieb, höflich, hilfsbereit und tierlieb, so zog der Geist „Elise“ bei ihm ein.
Elise konnte sich so verkleinern, dass sie ganz oben, neben dem Gehirn der Kinder, lebte. Nur die lieben von ihnen, hatten so eine Ausstrahlung, dass sie das Leben mit ihr ermöglichte. Der Platz neben dem Gehirn war ideal. Alle Informationen, die Erfahrungen, die Bilder, die Geräusche und die Gefühle erlebte Elise mit, sobald sie in’s Gehirn hineinsah.
Wandelte sich das Kind zu einem bösen Kind oder wurde es erwachsen, war der gute Geist Elise gezwungen, den Körper zu verlassen und sich einen Neuen zu suchen.
Im letzten Kind, in dem sie viele Jahre gewohnt hatte, war es sehr angenehm. Elise verstand sich gut mit ihm und half gelegentlich mit guten Tipps aus.
Aber das Kind wurde erwachsen und Elise sucht, seit dem, vergebens nach einem lieben Kind. Sie sucht schon 3 Jahre lang, ohne Erfolg.
Man könnte sagen, Elise ist obdachlos.
Ich fand sie zitternd in meiner Zuckerdose. Sie hatte vor lauter Trauer vergessen, sich unsichtbar zu machen, so dass ich sie darin hocken sah.
Weinend erzählte mir Elise ihre ganze Geschichte.
Zuerst versuchte sie es bei Ralf. Es war ein netter Junge, als sie ihn traf.
Ralf wusch sich regelmäßig, putzte immer seine Zähne, wenn es nötig war, und popelte nur, wenn niemand zusah. Elise war begeistert und zog sofort ein. Sie machte es sich neben dem Gehirn bequem und schaute in Ruhe nach, wie es in ihrem neuen Heim aussieht.
Ihre Wohnung „Ralf“ ist also schon 5 Jahre alt und hat eine kleine Schwester. Nachdem sie alles angeschaut hatte, machte sie gleich etwas sauber.
Sie fand ein paar Schimpfworte, die sie vom Gehirn sofort zum Ohr hinausfegte.
Sie dachte sich nichts weiter dabei, schließlich ist man nicht gleich ein schlechtes Kind, wenn man ausnahmsweise mal ein Schimpfwort, wie z.B. „Blödmann“, sagt.
Sie schmiss alle Schimpfworte hinaus und legte dafür Neue hinein, z.B.
„Nudelpudel“ und „Schmusewusel“.
Ralf würde jetzt nicht mehr „Blödmann“ sagen können.
Beispielsweise würde er jetzt sagen:
„Verschwinde, du Schmusewusel“ Elise fand das lustig.
Ralf merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er war ein Junge, der beim Spielen mit anderen Kindern, immer der Bestimmer sein wollte.
Wenn es nicht nach seiner Nase ging, holte er gewöhnlich seinen ganzen Tierpark heraus und beschimpfte die Kinder mit „Affe“, „Sau“ und den vielen anderen Schweinereien, mit denen böse Kinder eben schimpfen.
Doch diesmal war’s verflixt. Er versuchte gerade, Holger zu beschimpfen und zu sagen: „Du blöder Affe, mit dir spiel‘ ich nicht mehr.“
Als er aber im Kopf nach dem Wort ‚blöd‘ suchte, war es nicht mehr da und so sagte er: „Du Knuddel-wuddel-Affe, mit dir spiel ich nicht mehr“ und Elise schickte mit seiner Stimme noch hinterher: „Und nicht weniger“.
Holger grinste und Ralf ärgerte sich. Wie konnte das passieren?
Er suchte nochmals in seinem Gedächtnis. Den Affen fand er, aber was ist schon ein Affe, wenn man nicht blöd davorsetzen kann. Da ärgert sich doch keiner drüber.
Ralf suchte aufgeregt nach anderen Schimpfworten, aber nicht ein Einziges fand er.
Wütend rannte er davon. Er brauchte die Schimpfworte. Das Leben ist ohne sie, für ihn, keine rechte Freude.
Also tat er, was er schon oft getan hatte. Er lief zu den anderen bösen Kindern, die zwar nicht vernünftig spielen konnten, aber dafür herrliche Schimpfworte kannten.
Keine fünf Minuten waren vergangen und es prasselten so viele Schimpfworte auf Elise nieder, dass sie darunter total begraben wurde. Mit letzter Kraft arbeitete sich Elise bis zum Ohr vor, um den bösen Ralf, so schnell wie möglich, zu verlassen. Sie war kaum draußen, da kamen schon die nächsten Schimpfworte angeflogen und hätten sie bestimmt zerdrückt, wenn die Flucht nicht gelungen wäre.
Da saß Elise nun und hatte kein zu Hause mehr.
Wo war jetzt, auf die Schnelle, ein liebes Kind zu finden?
Plötzlich hörte sie ein Kind weinen. Schnell huschte Elise in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernahm. Ulla saß in der Sandkiste und heulte, dass sogar die Hunde vor Mitleid mitheulten. Elise dachte sich, dass Ulla bestimmt böse behandelt wurde. Vielleicht hat sie Glück und Ulla ist ein liebes Mädchen.
Schnell quartierte sich Elise in Ullas Kopf ein. Nach der Aufregung schlief Elise sofort ein. Es dauerte nicht lange und Elise wurde durch schrille Schreie und ein alt bekanntes Geräusch geweckt.
Ulla weinte wieder. Was war nur los?
Elise schaute schnell in Ullas Gehirn und sah die Bescherung.
Ulla versuchte, einem Mädchen ihre Puppe wegzunehmen, weil die viel hübscher als ihre eigene war. Natürlich wehrte sich das Mädchen und schrie entsetzlich. Schließlich gelang es der Kleinen, die Puppe zurückzuerobern und Ulla setzte sich ärgerlich auf ihren Hintern, um ihre ganze Kunst des Weinens vorzuführen.
Ulla beherrschte das so gut, dass sie sofort Mitleid erweckte. Eine vorbeikommende Mutti dachte, Ulla unbedingt helfen zu müssen. Als Ulla auch noch berichtete, dass das Mädchen ihre Puppe weggenommen hat, schimpfte die fremde Mutti fürchterlich mit dem armen Mädchen, was Ulla wiederum erfreute. Dabei vergaß sie sogar das Weinen.
Elise erkannte sofort, dass Ulla eine der gefährlichsten Waffen beherrschte, die kleine Kinder haben - die Lüge und das Weinen.
Viele Erwachsene sind schon darauf hereingefallen und behandelten dadurch andere Kinder ungerecht.
Bereits das nächste Weinen, das Ulla erschallen ließ, schleuderte Elise aus ihrem Kopf hinaus und sie stand wieder ohne Wohnung da.
So ging es all die Jahre weiter.
Bei Frank konnte sie nicht bleiben, weil er seinen Eltern nie gehorchte, obwohl er gute Eltern hatte.
Bei Elke konnte sie nicht bleiben, weil sie ständig andere Kinder schlug.
Bei Paul konnte sie nicht bleiben, weil er sehr oft seine Schularbeiten nicht erledigte. Um der Bestrafung zu entgehen, log er ständig die Eltern und die Lehrer an.
Es gab keine lieben Kinder mehr. Wo sind sie nur geblieben, fragte sich Elise. Sie fand jedoch keine Antwort. Suchte sie vielleicht an den falschen Orten?
Nun saß Elise bei mir zu Hause rum. Sie weiß nicht mehr, wo sie suchen soll.
Jetzt fragt sie mich: „Gibt es denn keine lieben Kinder mehr?“
„Aber natürlich gibt es die“, sage ich.
Ich überlege angestrengt, welches Kind ich kenne, von dem ich sagen könnte, dass es ein liebes Kind ist.
Kennt ihr zufällig ein Kind, das nicht lügt, nicht haut, das mit anderen teilt, das hilfsbereit und fleißig ist? Kennt ihr ein Kind, das außerdem höflich und ordentlich ist und auch die Tiere achtet?
Kennt ihr so ein Kind, das nicht fernseh- oder computerkrank ist, das richtig die Straße überquert, sich gründlich Zähne und Nase putzt und auch sonst nichts Böses tut?
Ich habe Elise in dieses Buch gelegt.
Ihr seht sie nicht? Ihr wisst doch, sie ist unsichtbar.
Hoffentlich liest bald ein liebes Kind diese Geschichte oder hört dabei zu.
Dann findet der gute Geist „Elise“, hoffentlich wieder ein „Zu Hause“.
Oder ist sie vielleicht schon bei dir eingezogen?