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III Evidenz gegen Geschichte

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Ein bescheidener, unscheinbarer Reflex bestimmt auf diese Weise über eine ganze Welt von Rhythmus: über unsere rhythmische Welt. Er ist ihre mächtige Voraussetzung, er bewirkt sie, sie ersteht allein unter seiner Wirksamkeit. Unscheinbar ist er als der Reflex: der wirkt, auch ohne dass wir das mindeste von ihm wüssten. Aber gerade als dies unbewusst, unwillkürlich Wirksame ist er von solch bedeutender Kraft. Und ist er dasjenige, was sich am Taktrhythmus verbirgt.

Denn das, wonach wir gesucht hatten, das, was da rhythmisch in uns wirkt, was sich uns am Taktrhythmus so zwingend unwillkürlich vorgibt, dass Canetti umstandslos vom Rhythmus der ersten Menschen glaubte sprechen zu können, und was sich unserer Erkenntnis eben dadurch so nachhaltig entzieht: das genau ist dieser Reflex taktrhythmischer Synthesis. Wann immer wir Rhythmus, nicht nur hören, sondern auch bloß erwarten, uns vorstellen, über ihn nachdenken, gibt uns dieser Reflex unwillkürlich, ohne unser willentliches, wissentliches Zutun, also so, als gäbe es ihn nicht, seine taktrhythmischen Bestimmungen vor. Wenn Canetti über den Ursprung von Rhythmus sinniert oder Nietzsche über den der Poesie, legt ihnen der Reflex zwingend das tik-tak ins Ohr. Wenn sich Hegel ins Wesen des Rhythmus vertieft, erheben sich vor seinem inneren Ohr reflexhaft zuverlässig die Taktteile in ihrem Hervorhebungsverhältnis. Wenn ein Philologe antike Verse liest, zwingt ihn der Reflex dazu, deren Silben geschichtswidrig mit dem abwechselnden betont und unbetont zu belegen.

Also ist es dieser Reflex auch, der die historischen Schwierigkeiten bereitet, von denen die Rede war; ist er jenes Neuzeitliche, das wir nachträglich über das Ältere legen, als wäre dieses schon immer gleich dem Neuen gewesen. Die Geschichtsfälschung selbst ergibt sich reflexhaft durch ihn. Er, der sich gegen jede solche Aufklärung massiv zur Wehr setzt, allein dadurch, dass er wirkt: weil er sich eben damit als gegebene Natur setzt, er macht die historischen Schwierigkeiten, da er selbst, was er durch seine bloße Natur leugnet, historisch entstanden sein muss. Dieser Reflex ist nicht ewig-menschlichen Wesens.

Das zu glauben, sträubt sich alle innere Evidenz unseres Empfindens. Der Leser sollte sich nicht wundern, falls er kaum an die Existenz dieses Reflexes glauben will oder wenigstens Taktrhythmus und Musik nicht von ihm mag abhängen sehen. Ich bin mir im Klaren darüber – vom eigenen Beispiel belehrt, belehrt durch die jahrhundertalten Irrtümer der Rhythmustheorie, aber auch durch zahllose Gespräche über das Thema –, dass uns noch der genaueste Nachweis von Existenz und Wirkung dieses Reflexes keine Vorstellung davon zu lehren vermag, wie weit er an bestimmten Hörvorgängen beteiligt sein muss. Hörvorgänge, die sich für uns ganz von selbst machen, Klänge, die uns einfach nur sie selbst zu sein scheinen, wir können uns in ihnen keine Leistung unserer selbst vorstellen, da wir nun einmal nichts von Anstrengung und Leistung in uns bemerken.

Umso schwieriger, geradezu unerträglich nun die Vorstellung seiner Geschichtlichkeit: dass wir diesen Reflex in uns tragen, die Menschen ihn aber nicht schon immer in sich getragen hätten. Wer den inneren Widerstand gegen eine solche Vorstellung so recht aktuell empfinden will, braucht nur einmal sein Audiogerät einzuschalten und irgendein Stück populärer Musik abzuspielen. Ohne weiteres wird er den zumeist recht wohl markierten Taktschlag darin wahrnehmen, der Rhythmus geht ihm unmittelbar ein, und ebenso unmittelbar ist ihm evident: All das ist so einfach wie nur möglich; das zu hören, kann doch gar keine eigene, aktive Leistung beim Hören erfordern; es kann gar keine noch einfachere Grundlage für Rhythmus geben als die Takte; also können sie auch gar nichts anderes sein als Grundlage und Charakteristikum von Rhythmus überhaupt. Die Evidenz des Unmittelbaren und Einfachen am Rhythmusgefühl scheint jede Möglichkeit auszuschließen, dass da etwas zu leisten statt einfach gegeben wäre. Und so widerstreitet sie erst recht der Vorstellung, diese einfache Gegebenheit von Rhythmus könne gar veränderlich, sie könne geschichtlich bedingt sein.

Meine fällige Entgegnung, dass gerade diese Evidenz erst Leistung und Ergebnis des sich so einfach, eben unwillkürlich einstellenden Reflexes ist – ein Reflex macht eben alles einfach, worauf er sich erstreckt, indem er uns genau dies einfach macht –, wird wenig verfangen. Jeder Einwand, dass es ohne ihn dies Einfache nicht gäbe oder es eben deshalb nicht einfach wäre, wird mit aller Sicherheit nur den Gegeneinwand hervorrufen: Gerade die »primitive« und ursprünglichste Musik ginge doch aber nach Takten! Und zum Beleg für die Berechtigung eines solch unumstößlichen Glaubens wird man dann mit großer Zuverlässigkeit auf die afrikanischen Trommeln verweisen – Musterbeispiel einer ursprünglich-primitiv gedachten Musik und sicherer Anlass für die Offenbarung: Na, wenn es da nicht im Taktschlag geht!

Nein, tatsächlich, das tut es nicht. Selbstverständlich gibt es heute auch Afrikaner, die nach Takten trommeln, doch für die Rhythmusgeschichte ist das nicht aufschlussreicher als die Improvisation eines Deutschen auf dem Didgeridoo. Nein, für das Argument, der Taktschlag sei der Ursprung alles Rhythmischen, könnten allein die »ursprünglichen« Rhythmen zählen, also die traditionell gespielten Trommeln Afrikas. Und die gehen nicht nach Takten. Sie gehen vielmehr so entschieden nicht danach, dass sie geradezu als Paradebeispiel für eine andere Art von Rhythmik dienen können.

So zum Beispiel hat sie Robert Jourdain im Rhythmuskapitel seines Buches »Music, Brain, and Ecstasy« verwendet. In Schnitt-Gegenschnitt-Technik stellt er dort ein europäisches Orchesterkonzert dem traditionellen afrikanischen Trommelspiel gegenüber.

Es ist acht Uhr abends. Unter dem winterlich verhangenen Himmel Wiens versammelt sich eine Menschenmenge vor einem Konzertsaal. Sie kamen, um ein schon festes Ritual an Weihnachten zu begehen, die Aufführung des »Nussknackers«.

Am gleichen Tag zur selben Zeit findet sich eine andere Gruppe von Menschen zusammen, um Musik zu lauschen, allerdings nicht in Wien, sondern etwa sechstausend Kilometer weiter südlich in Zentralafrika. Etwa hundert Bauern haben sich auf dem zentralen Platz ihres Dorfes versammelt. Es ist die Zusammenkunft eines der traditionellen Naturvölker, bei denen ein Großteil der gesamten Weltmusik noch heute praktiziert und konsumiert wird.

Im Norden und im Süden beginnt im selben Moment die Musik.

In Wien beginnt die »Miniatur Ouvertüre«. Einige im Publikum klopfen diskret und lautlos den Takt mit dem Fuß. EINS-zwei, EINS-zwei, EINS-zwei.

In dem afrikanischen Dorf schlägt die Trommel folgendes Muster: EINS-zwei-drei-vier-fünf, EINS-zwei-drei, EINS-zwei-drei, EINS-zwei-drei-vier-fünf. Die Herumstehenden tanzen begeistert mit.

In Wien ist es jetzt Zeit für den »Marsch«: EINS-zwei-DREI-vier, EINS-zwei-DREI-vier.

Im Dorf schlägt ein zweiter Trommler ein EINS-zwei-EINS-zwei-drei-EINS-zwei-EINS-zwei-drei-EINS-zwei gegen das unterschiedliche Muster des ersten Trommlers.

In Wien erklingt der »Tanz der Rohrflöten«: EINS-zwei, EINS-zwei.

Im Dorf vermischt sich der Gesang von Frauen mit den Trommeln, setzt ein, setzt aus, in immer neuen Varianten.

In Wien neigt sich der »Nussknacker« seinem Ende zu. Waldhörner stimmen den »Blumenwalzer« an: EINS-zwei-drei, EINS-zwei-drei.

Im Dorf hat sich ein weiterer Trommler der Versammlung zugesellt: EINS-zwei-drei-VIER, EINS-zwei-drei-VIER. Er stimmt in die Trommeln ein, fängt aber auf einem anderen Schlag an. Das Fest dauert an bis weit in die Nacht.

Was geschieht an beiden Plätzen? Beim Wiener Konzert ist alles bis zum höchsten Maße der Verfeinerung gesteigert – der Konzertsaal, die Instrumente, die Noten, die Proben, die Ausbildung der Musiker. Die Musik selbst erblüht durch erlesene Melodien, Harmonien und geschickte Orchestrierung. In seiner rhythmischen Entwicklung scheint die Musik jedoch wie ein Baby, das mit einem Löffel gegen einen Topf schlägt. Die afrikanischen Dorfbewohner scheinen währenddessen trotz Mangels an technologischem Know-how den Rhythmus hoch entwickelt zu haben. Nur wenige der Wiener Musiker könnten mit ihren rhythmischen Fähigkeiten mithalten.

Aber nicht so schnell. 31

Nein, nicht so schnell; denn es geht nicht jeweils um dieselben rhythmischen Fähigkeiten, die nur beidemale unterschiedlich hoch entwickelt wären, sondern es geht hier und dort um grundsätzlich unterschiedliche Arten von Rhythmus: »in Wien« um denjenigen der Taktwahrnehmung, »im Dorf« – nun, um eine Rhythmik, die eben nicht der Taktwahrnehmung entspringt und ihr deshalb auch nicht gehorcht. Was »in Wien« hochentwickelt-primitiv und »im Dorf« primitiv-hochentwickelt erscheint, gehört »zwei sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Rhythmus« an, wie Jourdain schreibt, oder, wie richtiger zu sagen wäre, nicht bloß unterschiedlichen »Vorstellungen«, sondern einer bis in die Tiefen der synthetischen Leistungen hinein unterschiedlichen Wahrnehmung von Rhythmus.

Worin besteht der Unterschied zwischen beiden? Es fällt offenbar nicht leicht, das zu bestimmen, denn Jourdain gerät damit in einige – die übliche – Not. Schon seine Beschreibung des Taktrhythmus bleibt wie allermeistens grob unscharf und unvollständig:

Auf der einen Seite gibt es die bekannte Vorstellung von Rhythmus als Muster betonter Schläge. Diese Abfolgen können sich von einem Moment zum nächsten ändern und lassen sich durch Synkopen und andere Kunstgriffe modifizieren und damit abwechslungsreicher gestalten. Für den Großteil der populären Musik weltweit ist dies der vorherrschende Begriff von Rhythmus.

So viel oder wenig zu »Wien« und dem Taktrhythmus. Schwieriger noch wird es mit dem »Dorf« und seiner Rhythmik jenseits von Takten.

Die zweite Auffassung von Rhythmus ist so unterschiedlich, dass sie auf den ersten Blick gar nichts mit Rhythmus zu tun zu haben scheint.

Nämlich genau dann nicht, wenn man unter Rhythmus zwingend und unwillkürlich bereits Taktrhythmus versteht. Diese zweite »Auffassung«, nein, diese andere Art von Rhythmus fasst Jourdain nicht zu Unrecht als eine von zeitlich irgendwie strukturierten Abläufen. Wodurch sie sich spezifisch bestimme, vermag er lediglich negativ anzugeben: nicht durch Takte.

Es ist der Rhythmus eines Langstreckenläufers oder eines Stabhochspringers, der Rhythmus von Wasserfontänen und Wind, der Rhythmus der segelnden Schwalbe oder des schleichenden Tigers. Es ist auch der Rhythmus der Sprache. Dieser Form des Rhythmus fehlen die in Takte eingeteilten wiederholten und gleichmäßigen Akzente.

Eine Negation, die zweifellos zutrifft. Doch was weiß man damit von dieser »anderen« Rhythmik? Jourdain versucht es mit einem bildhaften Vergleich:

In der Musik wird diese Art von Rhythmik durch die Abfolge unregelmäßiger Klangfiguren gebildet, die sich auf wechselnde Art miteinander verbinden wie die Teile eines Gemäldes, die sich manchmal in exquisitem Gleichgewicht befinden, manchmal die Kräfte vereinigen, um zu kreisen, unterzutauchen oder herumzuwirbeln. 32

Ein schöner Vergleich; aber er klärt nicht genug.

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