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Epoche
ОглавлениеUnd das hat sie historisch getan.
An die Stelle der Mensuren hat sie das gesetzt, was seitdem den Rhythmus vorgibt: die Takte, die wir so durchaus für naturgegeben-ewig halten. Die lange Ewigkeit der material gebundenen Rhythmiken bricht erst ab mit dem Beginn der europäischen Neuzeit, verdrängt von dem, was zugleich mit dieser Neuzeit Epoche macht. Innerhalb kürzester Zeit setzen sich in Europa die taktrhythmischen gegen die mensuralen Bestimmungen durch und vernichten, was nur je bis dahin Rhythmus war. Die Rasterung nach leeren Zeiteinheiten mit ihrer Bindung an das Verhältnis von betont/unbetont, noch nie hatte es dergleichen gegeben, erst jetzt unterwerfen sie sich die Musik von den kleinsten Notenwerten bis hinauf zum Verlauf der Perioden. Den gesamten Rhythmus unterwerfen sie einem einzigen, mächtigen, ihrem Gesetz; und dieses schließt – so prinzipiell und so sehr auf diesen einen Schlag, auf den Taktschlag hin, wie es Georgiades beschrieben hat – sämtliche Charakteristika der älteren Verhältnisse aus. In der gesamten uns greifbaren Geschichte des Rhythmus reicht kein Epochenbruch so tief wie der, den das Aufkommen des Takts bewirkt.
Wie hat er sich vollzogen? Man wird erwarten: tumultuarisch, ein Einzug sozusagen mit Pauken und Trompeten – ein Gewitter von Traktaten, die für ihn streiten oder gegen ihn wettern, das Gegeneinander von Schulen, die eine Lanze brechen für das Neue oder erbittert gegen das moderne Zeug zu Felde ziehen, ein Kampf der Kirchen um die Rettung ihrer Musik vor diesem weltlichen Angriff, ein großer Reformator, der ihn trotzdem durchficht, die begeisterten Nachahmer, die ihm mit wehenden Fahnen nachfolgen, und die Legionen der Rückständigen, die sich irgendwann einmal doch geschlagen geben müssen.
So ließe sich wohl vermuten – wo immerhin ein gesamtes rhythmisches Prinzip bestritten und vernichtet wird durch ein anderes, unerhört neues. Doch wundersam: Nichts von alledem geschieht. Von diesem epochemachenden Umschlagen in den Taktrhythmus vernimmt man – nichts. Nichts wird davon geschrieen, nichts davon geredet, nichts davon notiert, es macht keinen Lärm, es vollzieht sich – soweit man davon in der Musik sprechen kann – lautlos: wie von selbst. Niemand ruft da zu etwas auf, niemand erkennt es, niemand weiß davon.
Buchstäblich: Niemand weiß von einer Neuerung – und das für sehr, sehr lange Zeit. Noch zwei Jahrhunderte später hatte Johann August Apel für seine blinde Überzeugung, »dass Rhythmus zu allen Zeiten einer sei« und »auf eignen, in der Natur gegründeten Principien beruhe«, das folgende schlagende Argument gegen die richtige historische Erkenntnis zur Hand:
Nimmt man an, die erste Musik sey taktlos, und mithin der Takt eine Erfindung der neuern Zeit gewesen, so hätte diese neue Erscheinung ohne allen Zweifel Epoche in der Geschichte der Musik gemacht. Eine ähnliche Erscheinung, die nur die Veränderung der herrschenden Taktart in der kirchlichen Musik betraf, macht wirklich Epoche und blieb unvergesslich. Es war die Einführung des Gregorischen Gesanges an die Stelle des Ambrosischen […]. Allein nirgends findet man in der Geschichte der Musik einen Zeitpunkt bemerkt, wo aus taktlosen Rhythmen ein Uebergang zu dem gleichmässigen Takt statt gefunden habe. Der Takt erschien also niemals als etwas neues, zuvor noch unerhörtes, und so darf man wohl auch für historisch ausgemacht annehmen, dass er von Anfang an den Rhythmen eigenthümlich gewesen sey.44
So durfte Apel für ausgemacht annehmen, weil bis zu seiner Zeit tatsächlich noch immer niemand wusste, dass da überhaupt ein »Uebergang« stattgefunden hatte. Sehr wohl wusste man beispielsweise von »der Einführung des Gregorischen Gesanges an die Stelle des Ambrosischen« und durfte von ihr rühmen, sie sei unvergesslich geblieben, habe Epoche gemacht. Auch geht Apel nicht darin fehl, dass ein Übergang zum Taktrhythmus, sollte es ihn denn gegeben haben, tiefer reichen muss, als es lediglich die rhythmischen Unterschiede zwischen ambrosianischem und gregorianischem Gesang tun – Unterschiede, die sich Apel falsch-zirkelschlüssig nicht anders als solche der »Taktart«, also innerhalb des Taktrhythmus vorzustellen vermag. Verständlich deshalb das Argumentum a potiori, wenn schon dies Geringere Epoche gemacht hat, müsste jenes Tiefergehende es umso eher gemacht haben. Weil sich aber eine Nachricht davon »nirgends findet«, so darf Apel schließen, der Taktrhythmus wäre niemals historisch neu gewesen, es hätte ihn schon immer gegeben und alles, was je Rhythmus war, könnte allenfalls »Veränderungen der herrschenden Taktart« gekannt haben, aber niemals etwas anderes als Takte.
Merkwürdiger Fall: Nichts also ist überliefert von einer Neuerung, einer Reform oder gar einer glänzenden »Erfindung« – als die sich Apel das Aufkommen des Taktrhythmus einzig vorstellen kann. Nicht die Zeit des Umschlags selbst weiß etwas davon, das 17. Jahrhundert, nicht später das 18. und nicht das 19. Jahrhundert. Erst im zwanzigsten gelingt es endlich, die Vorgänge, deren Bedeutung zu der Zeit, da sie sich vollziehen, niemandem bewusst wird, nachträglich zu rekonstruieren – an Hand der überlieferten Musik selbst:
In der Geschichte der europäischen Rhythmik beanspruchen die Liederbücher von Giovanni Giacomo Gastoldi (1591), Thomas Morley (1595) und Hans Leo Haßler (1596) einen besonderen Rang. […] Um welchen Tanz handelt es sich dort? Gastoldi nennt ihn ohne nähere Bezeichnung schlicht Balletto, Morley nach seinem Vorbild Ballett. Auch bei Haßler fehlt ein Name, denn es ist für die Zeitgenossen einfach der Tanz, für Ausländer wohl die Allemande. All das war um 1600 nichts Neues. Neu kann also nur die musikalische Behandlung gewesen sein. Und hier beobachtet man in der Tat etwas, was bisher nicht die Regel war: einen Melodieaufbau nur mit Hilfe von Zweitakt- und Viertaktgruppen. […] Grundsätzlich fällt auf den Taktanfang der Schritt des einen Fußes, auf die Taktmitte das Nachziehen des anderen. Die beiden Stillstände dazwischen sind »unbetont«. Es gibt nun die europäische 4/4-Takt-Ordnung: Hauptakzent auf 1, Nebenakzent auf 3, Tonlosigkeit auf 2 und 4. Wir haben in der Tanzmusik als neues Phänomen den Akzentstufentakt.45
Dies der Name, den Heinrich Besseler für den neuzeitlichen Takt gefunden hat, für den Takt nach dem potenzierten Hervorhebungsverhältnis: 1 2 3 4.
Und der ist damals ein »neues Phänomen«. Getanzt hatte man auch früher, früher auch schon die Füße gesetzt, aber jetzt wird dem Setzen der Füße mit einem Mal das Raster aus betont/unbetont unterlegt. Es liegt nicht einfach »ursprünglich« in den Füßen, sondern jetzt erst wird es in die Schritte der Füße gelegt, jetzt zum ersten Mal auch als dieses Rhythmische empfunden. An ein einfaches tok tok wie dasjenige der Schritte heftet sich der Reflex des betont/unbetont eben besonders leicht, deshalb tut er seine aufkommende Wirkung zu allererst am Tanz. Doch das ist nur der Anfang.
Der hiermit umschriebene Akzentstufentakt erscheint seit 1591 in der Tanzmusik. Aber nicht nur dort. Es gehört zu den Merkmalen des Stilwandels, dass Europa nun von der Mensurgruppe zum Takt übergeht. Er hat nicht überall sofort die abgestufte, mannigfache Form wie bei der Tanzmusik, sondern als Hauptmerkmal nur den regelmäßig wiederkehrenden Druckakzent zu Anfang. Im Takt verkörpert sich ein neues Ordnungsprinzip der Musik. Für die vokale Monodie der Italiener seit 1600 hat das die [sc. moderne] Stiluntersuchung ans Licht gebracht. Es gilt vor allem in der Instrumentalmusik, deren Schwerpunkt in Deutschland und England lag. Auch in der Kirche herrscht nun der Taktrhythmus, wie man aus dem Spätwerk des 1613 verstorbenen Giovanni Gabrieli schließen darf. Sogar der Palestrinastil wird davon erfasst, denn Monteverdis Messe von 1610 im stile antico hält zwar äußerlich an der alten Technik fest, erfüllt sie jedoch mit dem Taktrhythmus des 17. Jahrhunderts.46
Innerhalb so überaus kurzer Zeit durchdringt der Taktrhythmus die gesamte europäische Musik. Das aber ist kein bloßer Stilwandel, wie Besseler meint, kein Wandel, der sich auf der Ebene des Stils hielte, auch nicht bloße Weiterentwicklung etwa der Komplexität in den Mensuren, nicht die Einführung einer novissima ars anstelle der ars nova. Mit dem Hinzutreten der Akzentstufen, mit dem nunmehr sich vorgebenden Gesetz der »Zeitgliederung« nach betont/unbetont vollzieht sich vielmehr jener tiefe prinzipielle Bruch historisch, den Georgiades der Sache nach beschrieben hat.
Und doch vollzieht er sich gleichsam lautlos, geräuschlos, unbemerkt. Dieses Neue, wie radikal es auch mit dem Alten brechen wird, es kommt auf, als wäre es nichts Neues, setzt sich durch, ohne dass es von jemandem durchgesetzt würde, dringt ein in die Musik, ohne dass sich die Musiker darüber Rechenschaft ablegten. Ihrem Bewusstsein nach hält sich noch immer in einem stile antico, was sie spielen, und schon aber gehorcht es dem neuen Gesetz. Dies setzt sich durch, selbst wo man ihm Widerstand leistet – hilflosen Widerstand.
Der Gruppentakt, der stets die gleiche Zahl von Notenwerten zusammenfasst und den regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Taktteilen aufstellt, setzte sich auch in der vokalen Literatur durch. Anfangs suchte man seinem Einfluss durch Fortlassen der Taktstriche oder durch kleine Orientierungsstriche in den Vokalstimmen zu begegnen, doch führten die anwachsenden Schwierigkeiten, die sich bei der Aufführung für die Sänger ergaben, bald zur Abgrenzung der Notenwerte in allen Stimmen, zur Einführung der Taktstriche in die Vokalstimmen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist diese Umbildung des Notenbildes in der Chor- und Sololiteratur zum Abschluss gekommen. Wir finden in den Stimmen das moderne Notierungsbild und in der Literatur eine Rhythmik, die nicht mehr frei aus der durch Taktzeichen und Taktschlag [sc. des alten tactus] geregelten Dauer der Notenwerte die Musik aufbaut, sondern die mit der Metrik, mit dem Einordnen der Schwerpunkte in den Gruppentakt rechnet, die akzentuierende Silben nach dem Akzent oder Taktstrich einstellt.47
Ein Einordnen, das notwendig ein »aktiv-synthetisches Hören« voraussetzt, wie Besseler sehr richtig erkennt: eben jene unwillkürliche, aktive Synthesis in den Hörenden, die taktrhythmische Synthesis, die es vorher, ablesbar am Verlauf der älteren Musik, nicht gegeben hatte – nicht gegeben haben kann. Für die Zeit vor Aufkommen des neuzeitlichen Takts gilt:
Wir beobachten hier kein aktiv-synthetisches Mitgehen, sondern ruhiges, mehr passives Lauschen: das Hinnehmen der Musik in ihrer Objektivität. Dieser Gegenpol zum neuzeitlich-aktiven Musikhören sei als »Vernehmen« bezeichnet. 48
Ein schöner Name für jene ältere Form rhythmischer Wahrnehmung. Diese aber ist es insgesamt, es ist dies »Vernehmen«, was nun abgelöst wird, nicht bloß ein musikalischer Stil. Das Hören selbst hat sich verändert, und das auf eine sehr knapp anzugebende Weise: dadurch, dass in ihm nun jene Synthesis aktiv wird. Damals beginnt sie zu wirken. Sie, die es bis dahin nicht gegeben hatte, beginnt damals zum ersten Mal in den Subjekten wirksam zu werden.
Sie setzt ein mit einem durchaus geringeren Grad an Wirksamkeit, der jedoch alsbald zunimmt. Sie gewinnt historisch rasch an Stärke, und stetig erweitert sich ihre Kraft, das musikalische Material zu durchdringen.
Im 18. Jahrhundert entwickelt sich das aktiv-synthetische Hören Schritt für Schritt, um schließlich alle Bezirke der Musik zu umspannen. Um 1720 kannte man das Halbsatzthema mit vier Takten, wenn auch noch keineswegs als den Hauptthementyp. Aber die dort vorliegende Paarigkeit setzte sich beim Melodieaufbau mehr und mehr durch. […]
Der Halbsatz-Themenbau mit acht Takten, im Menuett üblich, wurde wohl in den Jahren um 1760 allgemein zur Norm. Damals erschien als Vertreter der jungen Generation Joseph Haydn […]. Auch der etwa gleichaltrige Johann Christian Bach, in Mailand ausgebildet und in London tätig, verwendet als Grundlage überall den Achttakter. Er gilt nun als der von der Natur gegebene Baustein, nicht nur für Themen, sondern für die gesamte Musik. Auf den Achttakter zielt nun auch die Synthesis beim Hören. Aber man hat keinen Namen für diese grundlegende Einheit. Das Wort »Periode« fehlt noch 1767 im »Dictionnaire de musique« von Jean Jacques Rousseau. […]
Die Synthesis beim Hören hat sich demnach zu solcher Kraft entwickelt, dass sie um 1780 acht Takte als Einheit umspannen und eine solche Achttaktperiode zu den übrigen in Beziehung setzen kann. 49
Die Geschichte des Taktrhythmus ist die Geschichte dieser Synthesis – und das Entstehen des Taktrhythmus notwendig ihr Entstehen. Es ist also keine »Erfindung«, kein Programm, kein Diskurs, was den Rhythmus revolutioniert, sondern das historische Aufkommen dieses Reflexes. Und deshalb muss der Übergang zum Taktrhythmus so lautlos vonstatten gehen, deshalb muss er sich vollziehen, ohne dass jemand von ihm weiß: weil dasjenige selbst unbewusst ist, was da neu aufkommt. Der veränderte Rhythmus verdankt sich keiner Idee, keiner objektiven Entwicklung der Musik, nicht der Leistung eines genialen Musikers, nicht der einer ganzen Gruppe von Meistern, er wird überhaupt nicht Gegenstand einer Reform, weil er nicht bewusster Gegenstand einer Entwicklung ist. Niemand weiß von dem Neuen, da niemand es bewusst zu leisten hat: dank der unwillkürlichen Synthesis. Niemand hat dies Neue zu entwickeln, da es sich von selbst macht: im Reflex. Niemand erkennt es als das Neue, da es sich unwillkürlich vorgibt: als bloße Natur. Deshalb hat da niemand bewusst einzugreifen, niemand etwas zu initiieren, deshalb bedarf es keines neuen Gregor, keines neuen Philippe de Vitry, können sich keine verfeindeten Kompositionsschulen darüber in die Haare geraten, kann keine Kirche Protest einlegen oder einen Prozess dagegen führen.
Der Bruch, der sich damals historisch vollzieht, reicht tief hinein in die Musik und durchschneidet ihre Geschichte, aber er geht nicht von ihr aus. Er vollzieht sich nicht bloß musikalisch, sondern liegt auf diese Weise sehr viel tiefer. Wenn also eine vergleichsweise geringfügige Veränderung wie die vom ambrosianischen zum gregorianischen Gesang sichtbar Epoche gemacht hat, dann tut es die ungleich radikalere zum Taktrhythmus eben deshalb nicht, weil sie sich so sehr viel tiefer vollzieht. Der Taktrhythmus macht so tiefgreifend Epoche, nicht obwohl es keiner bemerkt, sondern weil das, was den Bruch bewirkt, so tief reicht, dass ihn keiner bemerken kann.
Die taktrhythmische Synthesis ist das Neue und bewirkt das Neue. Der Taktrhythmus setzt sich so unwillkürlich durch, wie die Synthesis wirkt. Und so unwillkürlich sie als solche wirksam ist, so unwillkürlich muss sie auch beginnen, wirksam zu werden. Genausowenig, wie wir selbst üblicherweise etwas vom Wirken dieser Synthesis in uns wissen und ebensowenig davon, wann sie in uns zu wirken beginnt, so wenig wissen auch diejenigen davon, in denen es mit dieser Synthesis historisch überhaupt erst seinen Anfang nimmt. Das bedeutet aber, dass der Taktrhythmus von Anfang an nicht als das Neue empfunden wird, das er ist, sondern als ewige Natur: so, wie er inzwischen uns erscheint – hinauf bis in die potenzierte, für den Taktrhythmus so charakteristische Gruppenbildung:
Schon 1752 erklärte Joseph Riepel, ausgehend vom Menuett, eine Taktordnung nach Potenzen der Zahl 2 als die »natürliche«: »Denn 4, 8, 16 und wohl auch 32 Täcte sind diejenigen, welche unserer Natur dergestalt eingepflanzet, dass es uns schwer scheinet, eine andere Ordnung (mit Vergnügen) anzuhören«. 50
So wird Geschichte zu Natur.