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Gesetz vs. Proportion
ОглавлениеDie klare Überzeugung, die wiederum jeder haben wird – und die selbstverständlich auch ich lange Zeit gehegt habe –, Musik müsse nach Takten gehen und zwar, dank deren schlagender Einfachheit, gerade am »Ursprung« und je primitiver umso zwingender, diese Überzeugung zeigt sich stets ungetrübt von aller genaueren Kenntnis der Musik und ihrer Geschichte – übrigens auch bei Musikwissenschaftlern. Weidlich hat man sich einmal über die Scholastiker lustig gemacht, die behaupteten, Fliegen hätten acht Beine, nur weil es bei Aristoteles – ipse dixit – so stand; wie dumm von den Scholastikern, nicht einfach selber nachzuzählen! Nun, heute ersparen es sich die Wissenschaftler des Rhythmus auf dieselbe Weise, der älteren Musik auf die Füße zu schauen, und wissen auch ohne das, einfach weil sie es wissen, wie die gegangen sein muss: »Das Vorhandensein von Schlaginstrumenten in einer Kultur beweist das taktgemäße Musizieren« – solange man zum Beispiel noch nichts Genaueres von den Afrikanern gehört hat. »Das Zusammenspiel mehrerer Musiker ohne Takt ist unmöglich« – weswegen man zum Beispiel nichts vom Gregorianischen Gesang wissen darf. »Tanzformen, die von Musik begleitet werden, erfordern den gemeinsamen Taktschlag« – weshalb wir auf alles Anderslautende verzichten können, was die Antike dazu aufgeschrieben hat. Folglich »scheint es so zu sein, dass so ziemlich jede Musikkultur der Erde das Taktprinzip kennt und anwendet.« Ja, so scheint es, solange man sich den Autismus selbstgenügsam-zirkulärer Voraussetzungen leistet – und nicht nachschaut.
Tief ist der Graben, der die Takt- von jeder anderen Rhythmik trennt, so tief, dass kaum noch von der einen zur anderen Seite zu gelangen ist. Was also liegt da drüben, fern von uns und unseren Takten, was erstreckt sich da weit in unserem Rücken? Nicht bloß die Trommeln des traditionellen Afrika erklingen dort, nicht bloß Musik und Verse der Antike, dort tönt die Rhythmik zahlloser älterer Traditionen, europäischer und außereuropäischer Kulturen, näherer und fernerer Zeiten. Das rhythmische Reich jenseits der Takte ist ja keines der einheitlich einen, »der« anderen Rhythmik, es umfasst deren viele, jede geschieden von den übrigen durch eigene Besonderheit. Aber es liegt ihnen eine wichtige Bestimmung zugrunde, die sie verbindet und die sie alle, jede für sich, gemeinsam vom Taktrhythmus unterscheidet.
Beschrieben wurde sie bisher nur ein einziges Mal – von Thrasybulos Georgiades, einem Musiktheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, und auch von ihm nur am Beispiel einer einzelnen Rhythmik, einer, die er den »griechischen Rhythmus« nannte. Damit meinte Georgiades zum einen den antiken Rhythmus, den er mit aller philologischen Schärfe aus den überlieferten Zeugnissen rekonstruiert hatte. Zum anderen aber war dem gebürtigen Griechen die gleiche Rhythmik noch unmittelbar präsent, da manche streng traditionellen Gesangs- und Tanzformen sie bis in das Griechenland seiner Gegenwart bewahrt hatten. An ihnen verfügte Georgiades, wie er nachwies, über lebendige, hörbare Beispiele eben jener Art von Rhythmik, die auch in der griechischen Antike gegolten hatte. Andererseits, als Einwohner des zwanzigsten Jahrhunderts, verfügte er selbstverständlich auch über die Taktwahrnehmung: eine Kenntnis des Alten sowohl wie des Neuen, die ihn wie keinen Musiktheoretiker zuvor befähigte zu zeigen, was die beiden Welten trennt.
Beginnen wir noch einmal mit unserer, derjenigen des Taktrhythmus. Dessen spezifische Rasterbildung macht Georgiades anschaulich im Bild eines Gerüstes.
Dieses Gerüst kann man sich als ein System von Punkten in gleichen Abständen vorstellen. Einige besondere Punkte darunter werden durch ihr höheres Gewicht hervorgehoben. […] Ähnlich gliedert man subjektiv ein objektiv gleichmäßiges Schlagen (tik-tik) in tik-tak oder gar in tik-tak-tok. Die Auswahl findet nämlich nach einem Gesetz statt, das auch subjektiv als Gesetz auffassbar ist. Es kann nichts anderes als die Ordnung der Abwechslung der Punkte mit verschiedenem Gewicht bestimmen. […] Es kann sich auf höhere Überordnungen ausdehnen, wenn nur das Prinzip der gleichen Abstände bei der jeweiligen Überordnung gewahrt bleibt. Das bedeutet, dass als Generationsprinzip höherer Ordnung nur Vielfache von 2 und 3 (z. B. 2x2, 2x3, 3x3, 3x2) angewendet werden können, dass also die höheren Rangordnungen durch Multiplikation von 2 und 3, durch zusammenfassende Unterordnung, nicht aber durch Addition (wie 2+3), durch Nebenordnung entstehen können. Durch dasselbe Prinzip werden auch die Unterteilungen der ursprünglichen Einheiten ersten Grades möglich, also die Achtel, Sechzehntel usw., sei es in der üblichen Form, durch Zweiteilung, oder in Triolenform, wenn die 3 als Grundlage verwendet wird.33
Wir kennen diese Verhältnisse bereits, zur besseren Anschauung aber hilft vielleicht eine kleine Grafik. Sie zeigt das »Gerüst« mit vier übereinander liegenden Ebenen, an die nach oben und nach unten jeweils noch einige weitere anzuschließen wären. Auf jeder dieser Ebenen werden durch Punkte in gleichen Abständen Elemente gleicher Länge abgeteilt, und diese Elemente – Georgiades spricht nur von den Punkten, da die Elemente ja nicht durch Klang gefüllt sein müssen, da die Markierung der Trennpunkte also genügt – werden verbunden, indem sie gegeneinander hervorgehoben werden. Die Grafik zeigt dabei allein den Fall, dass auf jeder Ebene die Zweier-Gruppe wirksam ist; die Dreier-Gruppierung bedürfte einer entsprechend veränderten Darstellung. Jedes Element wird »nach unten« in derselben Weise in zwei verbundene und gegeneinander hervorgehobene Elemente aufgeteilt, wie es »nach oben« mit einem benachbarten Element zur Gruppe aus hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben verbunden wird. Die Hervorhebung selbst ist angedeutet durch eine stärkere Linie auf Elementenebene, das Einwirken der Synthesis durch die gebogenen Linien, die sich von Element zu Element spannen, das Ergebnis ihres Einwirkens aber durch die Senkrechten: die vielfache Rasterung der Zeit in abwechselnd gegeneinander hervorgehobene Elemente gleicher Dauer.
Diese Ordnung oder das System, die auf diese Weise entstehen, nämlich in die Zeit gewirkt werden, sind in ihrer Gesamtheit die Leistung unserer taktrhythmischen Synthesis – sie sind das, was sie leistet. Und Georgiades sagt nun zu Recht, all das finde nach einem Gesetz statt, einem Gesetz, das er richtig auch mit dem Reflex des tik-tak in Verbindung bringt und als subjektiv erkennt, als Leistung des Subjekts, nicht objektive Gegebenheit im rhythmischen Klang. Es ist das Gesetz, als welches die Synthesis wirkt.
So weit also die uns geläufigen und wohl bekannten Verhältnisse. Wie aber verhält es sich mit der anderen Rhythmik?
Hier verlangt das zugrundeliegende Prinzip nicht eine Differenzierung der Betonungen, sondern die der Dauer, der Quantität, wie man sagt. Genauer ausgedrückt: hier liegen zugrunde nicht untereinander gleich entfernte Punkte als bloße Abgrenzungen der Zeiteinheit, sondern die Dauer der Zeiteinheit selbst, die erfüllte Zeit. Während vorher ein fertiges aber neutrales, gleichmäßiges Maschensystem als Punktnetz vor mir lag, das ich durch die Schwergewichtsdifferenzierung gliederte, bin ich hier an ein solches Netz nicht gebunden. Vielmehr, da ich hier erfüllte Zeiten selbst untereinander vergleichen soll, muss ich verschiedene Dauer verwenden. Es werden in erster Linie die einzeitige Kürze, deren Dauer Chronos protos genannt wird, und die zweizeitige Länge benützt. Ihre Aufeinanderfolge unterliegt keinem Zwang einer periodischen Wiederkehr, denn dieser besteht nur bei Voraussetzung des Prinzips der bloßen Zeitabsteckung durch Punkte in gleichen Abständen und der damit verbundenen Schwergewichtsdifferenzierung. […] Bei der Quantitätsrhythmik […] erfasse ich die aus dem Nebeneinanderstellen von Längen und Kürzen entstehende Gestalt, indem ich von der einen zu der nächsten erfüllten Zeit fortschreite, ohne dass damit ein Bedürfnis nach zusammenfassender Unterordnung unter höhere Einheiten entsteht, ja, bei der Eigenart des Ausgangsprinzips, entstehen kann.
Denn dies »Bedürfnis nach zusammenfassender Unterordnung unter höhere Einheiten« wäre ja bereits wieder jenes Andere, das subjektive Gesetz, welches in der Taktrhythmik herrscht.
Aber noch einmal: Was also ist der entscheidende Unterschied zwischen beiden Arten von Rhythmus, zwischen der Takt- oder »Schwergewichtsrhythmik« auf der einen Seite und der »Quantitätsrhythmik« auf der anderen?
Das wesentliche Kriterium […] ist, ob die Gliederung als durch die bloße Zeitabsteckung oder durch die erfüllte Zeit stattfindend empfunden wird.
Bei der Quantitätsrhythmik wird die Zeit durch die verwendeten Elemente, Längen und Kürzen, völlig bestimmt. Indem sie primär durch die körperhafte Ausdehnung der Elemente erfüllt wird, wird sie durch deren Grenzen – Beginn und Ende – auch abgesteckt, gegliedert. Hier gehen wir gleichsam mit undurchdringlichen festen Körpern um. […] Anders bei der Schwergewichtsrhythmik [sc. der Taktrhythmik]. Ihre Durchführung ist nicht, wie bei der Quantitätsrhythmik, identisch mit der Verwirklichung einer besonderen Gestalt, sondern bedeutet zunächst weiter nichts als die Festlegung einer abstrakten, allgemeinen Gesetzmäßigkeit. Wenn ich z. B. im Sinne der Quantitätsrhythmik von Trochäen spreche, stelle ich mir ebensowohl die Zeitgliederung (durch drei Einheiten) als auch ihre Erfüllung [durch eine lange und eine halb so lange Einheit] vor. Wenn ich aber von 3/4-Takt spreche, stelle ich mir nur ein Gesetz der Zeitgliederung, ein noch leeres Schema vor, das über einen wirklichen, die Zeit erfüllenden Rhythmus nichts aussagt. Es liegt ein Punktnetz vor, worauf ich die verschiedensten Zeichnungen durchführen kann. Diese Scheidung zwischen Gesetz und besonderer Ausfüllung entspricht der Schwergewichtsrhythmik.
Also der Taktrhythmik: Durch das Hinzutreten der Rasterung scheidet sie, was vorher untrennbar Eines war, das eine nicht anders denkbar als im anderen. In eins mit der »Zeiterfüllung« war die »Zeitgliederung« gegeben, sie bestanden nicht getrennt, und daher fehlte auch die Begriffsunterscheidung, hatte die Abgrenzung der einen von der anderen kein Recht und keinen Sinn. Es gab nicht »Zeiterfüllung« als etwas, was in eine andere, leer zu denkende Zeit eintrat, als Material, das ein vorgegebenes Hohlmaß erst noch mit Körper, mit Füllung versah, es gab die Zeit nicht als etwas, was absolut für sich bestand und dann eben gefüllt werden konnte oder nicht.
Hier also stoßen wir auf den subjektiven Grund von Zeit: Nur ein zeiterfüllter Vorgang selbst war Zeit, sie war Körper, war Substanz.
Eine Grafik, die dem gerecht werden will, hat es daher einfach. Sie hat nichts weiter zu tun, als Körper nebeneinander zu setzen und allenfalls darauf zu achten, dass deren Größen in Proportion zueinander stehen. Diese drei Quader-Reihen beispielsweise sind so gewählt, dass sie den Tondauern dreier synchron gespielter Trommeln afrikanischer Tradition entsprechen. Eine leichte Verzeichnung entsteht nur dadurch, dass die einzelnen Blöcke zur Verdeutlichung des Körperhaften ein wenig auseinander gerückt sind, anstatt jeweils unmittelbar aneinander anzuschließen. Im proportionalen Verhältnis erschienen sie so:
Diese materiale Zeit aber, wie ich sie nennen möchte, wird zerfällt in dem Moment, da die Takt-Synthesis hinzutritt, und die ehemals körperlichen Zeitteile in ihre Raster einspannt. So wird die Zeit selbst in etwas verwandelt, was sie vorher nicht war und nicht sein konnte. Wenn sich sonst die Gliederung der Zeit in eins mit den erfüllten Zeitgrößen ergab, so kehrt sich dies Verhältnis nunmehr um, indem es überhaupt erst zu einem Verhältnis auseinandertritt, ja, aktiv aufgespalten wird: Die Subjekte geben nun gesetzmäßig eine Zeitgliederung vor, ein Raster leerer Zeitelemente, geschieden nach hervorgehoben und nicht-hervorgehoben; und die Zeitgrößen, die Klangelemente, haben sich nun, getrennt davon, jenem Raster als Füllung einzufügen und sich dessen Gesetzmäßigkeit anzupassen. In der Taktrhythmik gilt:
Die Zeitgliederung verwirklicht sich als abstraktes, vorhergegebenes Gesetz. Sie hat sich von der besonderen, sichtbaren Gestalt freigemacht und in unsichtbare, »entmaterialisierte« Gesetzmäßigkeit verwandelt. Die Zeiterfüllung muss sich nun diesem Gesetz fügen; sie kann nicht mehr wie bei der Quantitätsrhythmik frei walten […]. Sie muss die höhere Instanz der Zeitgliederung, die von der Zeiterfüllung abstrahierte Schwergewichtsordnung anerkennen.
»Abstrahiert« ist diese taktrhythmische Ordnung nach betont/unbetont tatsächlich, nämlich abstrahiert von den Elementen erfüllter Zeit. Aber nicht in dem Sinn, dass sie an ihnen als Abstraktion gewonnen, dass sie also deren Abstraktion wäre, so wie der Begriff »Pferd« von den Pferden abstrahiert ist, die sich auf Erden tummeln. Sondern so, dass die Schwergewichts- oder Taktordnung als Gesetzmäßigkeit für sich besteht, nämlich unabhängig von den materialen Elementen, absolut von ihnen, die sie nunmehr an sich bindet.
Indem der Takt-Reflex eben diese abstrakte Ordnung hervorbringt, scheidet er den Rhythmus in zwei »Komponenten« oder »Faktoren«, wie Georgiades sie nennt: in den vorgängigen »Hintergrund«, das gesetzmäßige Elementeraster, das rhythmische Metrum, das der Reflex hervorbringt; und in einen »Vordergrund«, die Klangelemente, die sich auf dieses Raster verteilen müssen, ihm dadurch erst Körper verleihen und so den bestimmten, besonderen Einzelrhythmus innerhalb des Rasters ergeben.
Die einzelnen Elemente des Vordergrunds müssen sich dem dynamischen Prinzip [sc. des Taktrhythmus] unterordnen. Das bedeutet aber nicht, dass Zeitgliederung [= das Takteraster] und Zeiterfüllung [= die erklingenden Töne, die »Elemente des Vordergrunds«] zusammenfallen müssen [dass zum Beispiel ein Vier-Viertel-Takt immer buchstäblich mit vier Viertelnoten gefüllt sein müsste]. Die Zeiterfüllung kann sich vielmehr die mannigfaltigsten Zusammenstellungen erlauben [in einem Vier-Viertel-Takt zum Beispiel die Zusammenstellung einer punktierten Halben mit zwei Achteln]. Denn wir erfassen die zwei Komponenten als zwei selbständige Faktoren, die oft sogar einander widerstreiten. Hier eröffnet sich die Welt der Synkopen, der Punktierungen, die Welt der Polyphonie, der komplementären Rhythmik.
Und die Welt der taktrhythmischen Notenteilungen:
Hier ist der einzelne Zeitwert unbegrenzt teilbar oder multiplizierbar, als Teil eines größeren fassbar.
Was er – man beachte – nach der anderen Rhythmik nicht war und wiederum nicht sein konnte:
In der Quantitätsrhythmik sind die einzelnen Elemente in sich geschlossene rhythmische Glieder […]. Deswegen sind sie auch nicht nach Belieben teilbar und kontrahierbar (Prinzip der Unteilbarkeit des Chronos protos). Hier entsteht kein Ineinander von Zeitwerten, wie bei den synkopischen Bildungen; denn hier fehlt die höhere vorhergegebene Einheit, die ihnen Sinn verleihen würde.
Dass sie hier fehlt, entscheidet: sie, die jeweils »höhere vorhergegebene Einheit«, bestimmend in der Form des Rasters, vorgegeben durch Reflex. Er fehlt in der Quantitätsrhythmik, und durch sein Fehlen fehlte ihr, was er und was also das Subjekt, in dem er wirkt, reflexhaft leistet, die Rasterung der Zeit nach dem Hervorhebungsverhältnis. Deshalb baut diese ältere oder »andere« Rhythmik ihre Gestalten notwendig aus körperlich gefassten Gliedern auf.
Das bedeutet umgekehrt: Da, wo es nach Takten rhythmisch wird, muss dieser Reflex hinzugetreten, muss er im Subjekt wirksam sein. Sobald er aber wirksam ist, verkehrt er die älteren rhythmischen Verhältnisse, zu denen er hinzutritt, ins Gegenteil: Dort baute sich Rhythmus von unten auf, hier leitet er sich von oben ab. Dort waren es feste Elemente, die sich variabel verbinden ließen, hier ist fest die Verbindung, in welche die Elemente variabel eingehen. Dort fügten sich Bausteine zu einer Ordnung, hier fügen sich Variablen einem Gesetz.