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Das geschichtliche Apriori

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Dies ist es, was den »griechischen« so grundsätzlich vom Taktrhythmus trennt. Aber eben nicht nur den »griechischen«, sondern alle traditionellen Rhythmiken, die einmal nicht nach Takten gingen. Dies ihr gemeinsames Kriterium, dies die zwei Welten, als welche sie und der Taktrhythmus sich unversöhnlich gegenüberstehen: dort die Proportion materialer Größen und hier das abstrakte Verlaufsgesetz, das ihnen vorgegeben wird.

In dieser Entgegensetzung spielt der Begriff des »Gesetzes« seine wichtige Rolle, und das mag irritieren: Waltet im antiken Rhythmus denn kein Gesetz? Verläuft ein griechischer Vers etwa nicht gesetzmäßig? Sagt denn »Gesetz« irgendetwas anderes als »Ordnung«, »Regelmäßigkeit«, vielleicht »Periodizität« – und sollte es die nur im Taktrhythmus geben? Nein, Regelmäßigkeit und Ordnung gibt es auch in der griechischen und in anderen Rhythmiken; trotzdem aber folgt keine von ihnen einem Gesetz. Dieser Begriff spricht sehr viel spezifischer, und es ist der Mühe wert, ihn von dem der »Regel« einmal abzugrenzen. Wir werden es später noch sehr gut brauchen können.

Bei einem Fußballspiel gilt die Regel, dass es als Tor zählt, wenn der Ball beim Verlassen des Spielfeldes die Linie zwischen den Torpfosten überquert. Als Gesetz dagegen gilt, dass der Ball, wenn er fliegt, annähernd auf der Bahn einer Parabel wieder auf die Erde zurückfällt. Ein erster Unterschied wäre demnach: Die Regel könnte auch anders lauten; kein Reglement und kein Schiedsrichter dagegen vermöchten an dem Gesetz zu rütteln. Aber das ist noch nicht das Entscheidende. Übertragen wir beides auf den Rhythmus, und zwar der leichteren Darstellung wegen wieder auf die Verse. Für ein Stück griechischen Rhythmus, einen alkäischen Vers, gilt beispielsweise die Regel, er habe folgende Reihenfolge langer und kurzer Silben aufzuweisen:

lang lang kurz lang lang lang kurz kurz lang kurz lang/kurz

Bei einem anderen, dem Galliambus, sieht die Regel, vereinfacht, diese Reihenfolge vor:

kurz kurz lang kurz lang kurz lang lang kurz kurz lang kurz kurz kurz kurz kurz/lang

Und so gibt es unzählige weitere Regeln, nach denen antike Verse gebaut sein konnten – ohne irgendein Gesetz, das noch über all diesen Regeln walten würde. Vergleichen wir damit »unsere« Versmaße nach betont und unbetont aus der neuzeitlichen Ära. Zum Beispiel an den Versen:


Oder:


Oder:


Auch hier könnte eine lange Liste weiterer Muster und Regeln folgen, nach denen diese Verse, die Verse nach betont und unbetont, gebaut sein können. Ein Unterschied zu den antiken Verhältnissen wäre aber stets der folgende: Für jedes von den Akzentvers-Maßen gilt vorweg eine und dieselbe Gesetzmäßigkeit. Wir kennen sie inzwischen, aber sie lässt sich leicht auch an den Beispielen ablesen – nämlich erstens: Betonte und unbetonte Elemente müssen abwechseln; und zweitens: Von unbetonten Elementen können auch zwei aufeinander folgen. So lautet das Gesetz, dem alle weiteren möglichen Regelungen in den uns rhythmischen Versen unterstellt sind – wir wissen bereits, wodurch. Nichts dergleichen gibt es folglich in der Antike oder in irgendeiner anderen Rhythmik als der unseren. Eine Notwendigkeit wie die, dass dort etwa auf ein langes Element stets ein kurzes folgen müsste und auf ein kurzes ein langes oder allenfalls ein zweites kurzes, damit es rhythmisch wird, eine solche verpflichtende und allgemeine Notwendigkeit hat nicht bestanden – man vergleiche das alkäische und galliambische Versmaß – und hätte keinen Sinn gehabt.

Ein Gesetz wirkt, was Rhythmus betrifft, allein bei den Takten. Zwar kann eine Tonfolge auch dann noch zusätzlich nach Regeln festgelegt sein, doch damit sie sich in den Taktrhythmus fügt, also wirklich taktrhythmisch gehört werden kann, muss sie selbst und müssen auch diese Regeln dem taktrhythmischen Gesetz gehorchen. Regeln gelten stets nur von Fall zu Fall, für eine bestimmte Versart, für einen bestimmten Einzelrhythmus, ebenso wie sie beispielsweise auch für Sprachen und ihre Grammatik einschlägig sind. Im Deutschen etwa besteht die Regel, Adjektive seien vor ein dazugehöriges Substantiv zu stellen. Aber es gibt kein Gesetz, das Sprachen allgemein darauf festlegen würde, einem Substantiv ein Adjektiv vorangehen zu lassen oder auch nur überhaupt Adjektive zu haben. Es gibt in der Sprache oder über alle Sprachen hinweg keine Gesetze, die für alle gelten würden und die es den Einzelsprachen nur noch überließen, innerhalb solcher Gesetzmäßigkeit ihre je eigenen Regeln aufzustellen. Nach solchen Universalien der menschlichen Sprache wurde lange, lange gefahndet; gefunden haben sie sich nicht.

Der Begriff des Gesetzes ist in diesem Sinn also sehr genau zu nehmen und durchaus genauer, als es einer gängigen Verwendung entspricht. Mit ihm ist etwas sehr Spezifisches gesagt. Gerade deshalb aber hat ihn die Wissenschaft, interessierte Ungenauigkeit walten lassend, geschickt missbrauchen können für ihren haltlosen Beweis, Rhythmus könne grundsätzlich und überzeitlich nur der eine sein, müsse nach Takten gehen und wäre nie nach etwas anderem gegangen.

Gottfried Hermann, einer der großen klassischen Philologen, hat diesen Beweis zu Beginn seines Hauptwerks angestrengt, in den »Elementa doctrinae metricae« aus dem Jahre 1816.34 Das Eingangskapitel handelt explizit »De numero et versibus in universum«, von Rhythmus und Versen im allgemeinen: Es soll eine allen Versen und dem Rhythmus überhaupt gemeinsame Bestimmung festgestellt werden. Dafür geht Hermann von einem zu rhythmisierenden Substrat aus; dies sei entweder eine Abfolge von Zeiteinheiten oder, räumlich gedacht, eine zusammenhängende Folge von Abständen: »vel successio temporum vel continuitas spatiorum«. Damit diese Folgen rhythmisch werden und nicht bloß irgendwelche Folgen sind, müssten sie geordnet sein – und wenn aber geordnet, so würde man fragen wollen: wie? Hermann aber fragt: wodurch? Und schon, allein damit, ist alles entschieden und Hermann hat sich die gewünschte Antwort unvermerkt bereits in die Tasche gespielt: Ja – jeder Rhythmus müsse nach Takten gehen.

Wie das? Die Frage: »Wodurch wird Rhythmus überhaupt geordnet?« macht zwei falsche, aber scheinbar unvorgreifliche Voraussetzungen, die dem Fragenden alles fertig an die Hand liefern, was er für seinen Irrtum braucht. Die erste Voraussetzung: Es gibt so etwas wie Rhythmus überhaupt – Rhythmus wäre grundsätzlich einer, transzendentale Einheit, keiner Veränderung unterworfen und keiner Geschichte. Die zweite Voraussetzung: Es gibt etwas, wodurch dieser Rhythmus überhaupt geordnet würde. Was kann das sein? Da dies Etwas »Rhythmus überhaupt« bestimmen soll, muss es also »dem« Rhythmus insgesamt vorgeordnet sein und damit jeder möglichen Ausformungen von Rhythmus die ihm, diesem Etwas eigene Ordnung bestimmend vorgeben. Ein solcherart bestimmendes Etwas aber kann tatsächlich nur eines sein: »Id autem apertum est non nisi in lege quadam inesse« – es kann offensichtlich nur in einem Gesetz bestehen. Durch ein Gesetz aber wird einzig und allein der Taktrhythmus bestimmt, kein anderer. Also braucht Hermann, sobald er nur den Begriff des Gesetzes in Händen hält, die Sache lediglich fertig durchzubuchstabieren, kommt dann vom Gesetz folgerichtig und zielgenau auf die Takte und damit, nach der scheinbar unverfänglichen Voraussetzung Nr. 1, zu dem strahlend falschen Ergebnis: Rhythmus überhaupt ginge, qua Gesetz, nach Takten.

So machtvoll ist der Begriff des Gesetzes. So genau nämlich lässt sich allein unter der Voraussetzung, dass Rhythmus durch ein Gesetz geregelt sei, schließen und feststellen, dass er dann notwendig Taktrhythmus sein müsse. Dieser Beweisgang ließe sich nunmehr sehr fruchtbar zu einem ganzen kleinen Kurs in Logik entfalten, doch werden wir zu diesem Thema ohnehin zurückkehren müssen, und deshalb deute ich die Beweisschritte nur in aller Kürze an:35 Falls Rhythmus nach einem Gesetz verläuft, muss er – erstens – auf gleichen, leeren Zeiteinheiten beruhen; denn ein Gesetz bedingt Elemente, auf die es zugreift, die als solche keine Unterschiede aufweisen dürfen, also zum einen einheitlich und zum anderen inhaltlich unbestimmt sein müssen. Zweitens müssen diese Zeiteinheiten durch Hervorhebung von jeweils einer gegenüber den benachbarten zu größeren Einheiten geschlossen werden; denn nur so werden gleiche Zeiteinheiten als solche, nicht erst durch ihren zusätzlichen Inhalt, durch das Gesetz bestimmt, nämlich unterschieden; anders gäbe es überhaupt keine Einwirkung des Gesetzes. Und schon hat man die Grundbestimmungen des Taktrhythmus beisammen.

Nun aber ein wenig weiter. Hermann macht sich anlässlich des rhythmischen Gesetzes auch Gedanken darüber, wie es dazu kommt, woher es stammt. Und er findet: »lex illa, quod attinet ad rationem, qua constituit atque ordinat tempora vel spatia, innata nobis sit necesse est, quam a priori definitam philosophi vocant« – jenes Gesetz muss darin, wie es Zeiteinheiten oder Abstände festlegt und ordnet, uns notwendig angeboren sein, philosophisch gesprochen a priori.

Übertragen wir diesen Schluss einmal vorsichtig darauf, was wir inzwischen vom Rhythmus wissen: Der taktrhythmische Reflex gibt diesem Rhythmus tatsächlich ein Verlaufsgesetz vor und er wirkt, als dieses Gesetz, zweifellos a priori im Subjekt. Denn a priori heißt im erkenntnistheoretischen Sinn: von vornherein, vor aller Erfahrung gegeben, aller Wahrnehmung und allem Denken vorgeordnet – etwas, was auf den Taktreflex zweifellos zutrifft. Wir entnehmen ihn nicht dem Wahrgenommenen, sondern er gibt sich, wo er denn wirkt, unserer Wahrnehmung jeweils wie schon immer vor, wie angeboren. Noch bevor wir das tok tok unserer Absätze wahrnehmen, ist da der Reflex, der es uns ins betont/unbetont eines tik-tak verwandeln wird. Er liegt, wo er in den Subjekten wirkt, apriorisch in ihnen; und muss sie so dazu verleiten, Taktrhythmus insgesamt zum rhythmischen Apriori zu erheben: zur Bestimmung von Rhythmus überhaupt.

Und doch ist er eben dies nicht, gibt es nicht diesen »Rhythmus überhaupt«, der zu allen Zeiten und in universum der grundlegend selbe gewesen wäre, gibt es ältere Rhythmiken, die jenes Gesetz nicht kannten und also nicht Taktrhythmus waren. Folglich hat es auch dieses Gesetz nicht immer gegeben. Und folglich – und jetzt wird es langsam gefährlich –, gab es auch nicht immer schon diesen Reflex: Er ist den Menschen nicht angeboren – dieses Apriori selbst ist geschichtlich entstanden.

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