Читать книгу Lang lebe die Königin! - Esmé Lammers - Страница 6
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ОглавлениеDas große, gelb getünchte Haus, in dem Sara mit ihrer Mutter und ihrem Großvater wohnte, hatte früher als Einziges am Deich gestanden. Später waren dann auf beiden Seiten einige Häuser dazugekommen. Hinter dem Haus war ein kleiner Spielplatz mit einer Schaukel, die aber so schrecklich quietschte, dass Sara sich fast nie draufsetzte.
Ihr Großvater arbeitete jeden Morgen in dem großen Garten, außer wenn es eiskalt war oder stark regnete. Dann arbeitet die Natur für mich, sagte er. Im Garten blühten viele Rosen, weil er die am meisten liebte, knallrote und milchweiße Rosen. Auch ein Apfelbaum stand dort, der grässlich saure Äpfel trug. Einmal hatte Saras Mutter einen Apfelkuchen mit den Äpfeln gebacken, aber der schmeckte so widerlich, dass sogar der Großvater nach einigen Bissen streikte, obwohl er sonst alles aß, weil er wusste, was es hieß, hungern zu müssen.
Im Haus war es still, man hörte nur das Ticken der großen Wanduhr. Die breiten, hölzernen Treppenstufen knarrten, wenn man darauf trat, aber das war noch nichts gegen das Krachen der Dielen auf dem oberen Flur.
Auf halbem Wege blieb Sara auf der Treppe stehen und betrachtete die lebensgroßen, dunklen afrikanischen Statuen, die ihr Großvater oben am Geländer aufgestellt hatte. Oft versteckte sie sich vor den stieren Augen der Figuren, aber heute achtete sie nicht darauf. Sie dachte an die Schachkönigin.
Schach spielen … Wenn das ein Spiel war, vielleicht war es dann nicht so schwer, und sogar sie könnte es lernen. Das Gänschenspiel und Mensch-ärgere-dich-nicht hatte sie schließlich auch gelernt.
Auf Zehenspitzen schlich Sara zu der Rumpelkammer, damit ihr Großvater, der unten in seinem Zimmer an dem Stammbaum arbeitete, sie nicht hörte. Er achtete zwar sowieso nicht auf sie, aber sie machte sich öfters einen Sport daraus, leise zu gehen.
Sie durchstöberte die ganze Rumpelkammer, den Schrank, die Schachteln, alte Koffer und Blechdosen. Es lagen viele Spiele dort, manche waren kaputt oder nicht mehr vollständig, aber ein Schachspiel war nicht dabei.
Sie hörte ihren Großvater in der Küche und ging nach unten.
«Opa, haben wir ein Schachspiel?», fragte sie.
Erstaunt blickte ihr Großvater auf. «Ein Schachspiel?»
Sara nickte.
Großvater setzte sich an den Tisch und öffnete erwartungsvoll die Keksdose. Sie war bis zum Rand gefüllt … mit trockenen, harten Keksen. Enttäuscht nahm er einen. Er grübelte über das Schachspiel nach und sah Sara mit gerunzelter Stirn an, wie immer, wenn er meinte, dass sie etwas Schwieriges gefragt hatte.
«Ich weiß es nicht, Sara. Deine Mutter mag das Spiel nicht mehr. Früher konnte sie sehr gut Schach spielen, aber das war plötzlich vorbei. Sie wollte kein Schachbrett mehr sehen.»
Ihre Mutter, die spielte? Sara hatte noch nie gesehen, dass ihre Mutter spielte. Großvater schenkte den Tee ein, und Sara nahm einen Keks. Sie hoffte, dass er noch mehr erzählen würde.
«Ist in der Dachkammer kein Schachspiel?», fragte er schließlich.
Sara schüttelte den Kopf; sie hatte ja gerade nachgeschaut. Die Falten auf Großvaters Stirn wurden noch tiefer, aber er sagte nichts.
«Warum möchte Mama nicht mehr Schach spielen, Opa?»
Plötzlich lächelte er. «Na ja, die Frauen, nicht wahr? Manchmal sind sie seltsame Wesen.»
Diese Antwort gefiel Sara gar nicht. Sie wollte wissen, warum ihre Mutter nicht mehr Schach spielte. «Ich bin auch eine Frau, Opa», sagte sie empört.
Aber ihr Großvater verstand sie nicht. Er zwickte sie in die Nase. «Das weiß ich. Und wenn ich später groß bin, heirate ich dich.»
Er stand auf, schnappte sich noch einen Keks und verließ die Küche.
Saras Großvater zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er liebte seine Enkelin sehr und hielt sie für gescheit, ungeheuer gescheit, denn es entging ihr nichts, und sie hatte viel Phantasie. Aber sie konnte auch lästige Fragen stellen und gab sich nicht leicht mit einer Antwort zufrieden. Er merkte wohl, dass sie mehr über ihren Vater wissen wollte, aber er wusste ja selbst nichts. Einige Male hatte er Susan, Saras Mutter, vorsichtig danach gefragt, aber sie hatte geantwortet, dass ihn das nichts angehe.
Er war froh, dass sie bei ihm wohnte, und wollte sie nicht vergraulen, deshalb sagte er lieber nichts. Aber die Frage, weshalb niemand wissen durfte, wer Saras Vater war, beschäftigte ihn mehr, als er zeigen wollte.
Sara fing an, die Königin zu zeichnen. Das sollte die schönste Zeichnung werden, die sie jemals gemacht hatte, und sie nahm sich vor, sie ihrer Mutter zu schenken. Eben wollte sie die kleine Krone zeichnen, als ihr einfiel, dass sie eine solche Krone schon mal gesehen hatte, auch auf einem Brett mit schwarzen und weißen Feldern …
Sie rannte die Treppe hinauf, ging in das Zimmer ihrer Mutter, fischte den Schlüssel aus einer Vase auf dem Schrank, schloss die Überseekiste auf und holte den knisternden Briefumschlag mit dem Foto heraus. Das Brett auf dem Foto sah ganz anders aus als Victors Brett, aber nur, weil es viel größer war und wie eine Schultafel hinter ihrer Mutter und dem Mann aufgebaut stand. Sara erkannte das Pferd wieder und den Turm und das Krönchen der Königin. Jetzt wusste sie: Ihre Mutter und der unbekannte Mann standen vor einem Schachbrett.
An diesem Abend kam Saras Mutter müde nach Hause. Sara zeigte ihr die Zeichnung mit der Schachkönigin, aber die Mutter warf nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte, Sara solle das Bild Großvater schenken, der werde sich bestimmt darüber freuen.
Sara hoffte, dass es nicht stimmte, was der Großvater ihr erzählt hatte, und sagte zögernd: «Mam, ich habe heute ein wunderschönes Schachspiel gesehen.»
«O ja?», sagte die Mutter kurz und drehte sich zur Spüle um. «Du weißt, dass ich heute Abend nicht zu Hause bin, Sara?»
Sara war enttäuscht. Sie wollte erzählen, wie schön sie das Schachspiel gefunden hatte.
«Wo gehst du denn hin?», fragte sie mürrisch.
«Ich habe doch Gesangsunterricht, wie jeden Mittwoch.» Ihre Mutter räumte die Einkäufe in den Schrank. Als sie sah, dass Sara bedrückt auf die Zeichnung starrte, legte sie einen Arm um ihre Schulter und gab ihr einen Kuss, aber Sara wich ihr aus.
«Komm, kannst du noch das Lied, das ich dir beigebracht habe?»
Sara nickte. Sie sangen es oft zusammen. Sara fand, dass ihre Mutter sehr gut singen konnte.
Die Mutter fing an und tanzte nach dem Takt durch die Küche. Sara sang mit und klatschte in die Hände.
An den Brief des Lehrers dachte sie schon lange nicht mehr. Sie hatte auch nicht gemerkt, dass er ihr aus der Jackentasche gefallen war. Aber ihr Großvater, der durch den Flur ging, um die Zeitung zu holen, entdeckte ihn sofort.
Großvater kam mit dem Brief in die Küche. Sara erkannte den Umschlag gleich und schwieg, auch ihre Mutter hörte auf zu singen. Sie wischte sich die Hände am Küchentuch ab und nahm den Brief. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ihn geöffnet hatte. Aber dann war klar, dass ihr ganz und gar nicht gefiel, was sie las.
Sara rannte aus der Küche, stürmte die Treppe hinauf und wäre am liebsten noch weiter gelaufen, aber sie kam nur bis in ihr Zimmer. Sie ließ sich aufs Bett fallen und kroch unter die Decke.
Sie hörte, wie jemand die Treppe heraufstieg und ins Zimmer kam.
«Warum hast du mir nicht erzählt, dass du Probleme in der Schule hast?», fragte ihre Mutter und setzte sich auf den Rand des Bettes.
Sara verkroch sich noch tiefer.
«Was ist mit dir los?» Jetzt klang die Stimme ihrer Mutter ärgerlich.
Sara antwortete nicht. Sie wollte alles wissen von dem Schachspiel und von dem Mann auf dem Foto. War das ihr Vater, und wollte die Mutter deshalb nicht mehr Schach spielen? Aber sie wagte nicht zu fragen. Ihre Mutter war sowieso schon böse. Schließlich erzählte sie, immer noch unter der Decke, dass Mariette nicht glaubte, dass ihr Vater in Südafrika wohnte.
«Das ist ihre Sache», antwortete ihre Mutter spitz.
Sara kroch hervor.
«Stimmt es denn?»
«Natürlich stimmt es! Hör zu, Sara, es gibt viele Kinder, die nur eine Mutter haben. Und du hast dazu noch einen Großvater.»
«Aber mein Papa ist doch nicht tot?»
«Nein, aber du bist noch zu jung, um alles zu wissen.» Sie sah Saras unglückliches Gesicht. «Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde, nur jetzt noch nicht.»
«Wann denn?» Sara schöpfte neue Hoffnung: vielleicht schon nächste Woche?
«Wenn du älter bist», sagte ihre Mutter entschlossen.
«Wenn ich neun bin?»
Aber die Mutter hörte nicht mehr zu. Sie faltete den Brief des Lehrers wieder auseinander. «Mal sehen. Du musst Erdkunde nachholen und Rechnen.»
Sara wollte nicht über Schularbeiten reden. Sie schaute auf das bunte Armband am Handgelenk ihrer Mutter. Es stammte aus Südafrika, hatte Opa gesagt.
«Hast du das Armband von ihm bekommen?», fragte sie vorsichtig.
Ihre Mutter steckte den Brief weg und stand auf. «Sara, hör auf, bitte!»
«Du trägst es doch immer, nicht?»
Sara wusste, dass die Mutter das Armbändchen oft betrachtete und damit spielte. Einmal hatte sie es abgelegt, als sie die Küche frisch gestrichen hatte. Als sie es dann wieder anlegen wollte, war es verschwunden. Alle Küchenmöbel waren vom Platz gerückt worden, sogar Großvater, der sich sonst um nichts kümmerte, hatte beim Suchen geholfen. Schließlich hatte Sara es unter dem Kühlschrank gefunden. Ihre Mutter hatte sie umarmt und immer wieder gesagt, wie tüchtig sie sei, schrecklich tüchtig, und dann hatte sie den ganzen Abend immer wieder nachgefühlt, ob das Armbändchen noch an ihrem Handgelenk war.
«Ja, ich trage es immer», sagte die Mutter und fasste Sara an der Hand.
«Erzähl doch noch mal von damals. Als du es verloren hattest», bat Sara, obwohl sie genau wusste, dass das Gespräch vorbei war.
«Ein anderes Mal.» Ihre Mutter zog sie hoch. «Komm, wir essen jetzt. Weißt du was? Ich gehe heute Abend nicht in den Gesangsunterricht. Ich helfe dir bei den Hausaufgaben. Dann bleibst du nicht sitzen. Du willst doch nicht dumm bleiben?»
«O doch!», sagte Sara. Alles war besser als lernen müssen.
Zum Glück schlief ihre Mutter ein, als sie sich hingelegt hatte, um Saras Rechenaufgaben nachzusehen. Sara saß am Tisch und sollte eigentlich Erdkunde lernen, stattdessen fing sie an, ein Schachbrett zu zeichnen, ein schönes großes Schachbrett mit sauber quadratisch gezogenen schwarzen und weißen Feldern.