Читать книгу Lang lebe die Königin! - Esmé Lammers - Страница 8

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Victors Vater schenkte Sara einen großen Becher Tee ein, und sie durfte so viele Kekse essen, wie sie wollte. Als sie den ersten Becher ausgetrunken hatte, bekam sie gleich noch mal Tee, und sie nahm sich auch noch einen Keks.

Victor klagte über Kopfweh, und sein Vater gab ihm eine kleine rosa Tablette. Sara sah, wie er sie geübt herunterschluckte. Sie konnte sich nicht entsinnen, je eine Tablette bekommen zu haben, aber sie war ja auch nicht schwer krank gewesen.

Jetzt setzte Victors Vater sich zu ihnen. Er trug dieselben Kleider wie gestern und meinte, die seien so bequem, warum sollte er denn dann andere anziehen. Ein bisschen schmutzig sei doch nicht schlimm, wenn sie nur nicht müffelten. Er fragte, ob denn der Lehrer nett sei und ob Victor einen guten Platz in der Klasse bekommen habe und ob er alles verstehen könne. Victor erzählte, dass er neben Sara hatte sitzen wollen, aber der Lehrer es nicht erlaubt hatte.

«Durftest du nicht neben Sara sitzen? Warum denn das nicht?»

«Das wissen wir nicht», antworteten die Kinder wie aus einem Mund.

«Und der Lehrer wollte es auch nicht erklären?»

Die Kinder schüttelten den Kopf.

«Na, was ist denn das für ein Blödsinn?» Victors Vater schien das alles sehr seltsam zu finden.

Es gefiel Sara, dass Victors Vater den Lehrer nicht verstand. Sonst verstanden immer alle den Lehrer, sogar ihre Mutter, nur sie selbst nicht. Mit einem Mal fühlte sie sich nicht mehr so allein.

Victor wollte Sara so gerne bei den Hausaufgaben helfen, und schließlich gab sie nach und holte ihr Rechenbuch aus der Schultasche. Während sein Vater weiter im Laden aufräumte, fing Victor an, ihr eine Aufgabe zu erklären. «Hörst du mir zu?»

«Ja … Ja.» Aber sie hörte gar nicht zu. In dem Laden gab es so viel zu bestaunen! Dort standen seltsame Autos und verrostete Eisenbahnen, und manchen Tieren fehlte ein Ohr oder ein Auge. Trotzdem fand Sara die Tiere schön.

«Zweimal dreizehn ist …»

Sara sah Victor an, und der wurde jetzt ungeduldig.

«Sechsundzwanzig. Sechsundzwanzig minus fünf ist …»

Sie hatte gar keine Lust. «Ich frage meine Mutter, ob sie mir hilft», sagte sie.

«Aber du weißt es doch, oder?»

«Nein, ich weiß es nicht!» Sara wurde böse. Jetzt glaubte Victor auch schon, dass sie nur so tat, als wüsste sie es nicht. Sie schlug das Rechenbuch zu.

Victor erschrak, er wollte ihr doch helfen.

Sein Vater drehte sich um. «Ihr könntet doch etwas tun, was Sara gefällt?»

«Aber Sara will ja gar nichts», sagte Victor bekümmert.

«Auch nicht Fahrrad fahren oder zeichnen oder ein Spiel spielen?»

Sara wollte ihre Jacke schon anziehen, aber jetzt blieb sie stehen. Ja, sie wollte gerne spielen, vor allem …

Aber nein, das durfte sie bestimmt nicht.

Victor sah seinen Vater an. «Aber du begreifst es nicht. Sie ist schlecht in der Schule, und vielleicht wird sie nicht versetzt!»

Nun sah auch Sara Victors Vater an. Nein, natürlich wusste er das nicht. Sie selbst wusste es genau, aber sie wollte trotzdem nicht rechnen.

«Und glaubst du, dass du ihr hilfst, wenn du ihr etwas beibringen willst, was sie nicht mag? Ich habe dir doch nie etwas beigebracht, was du nicht gerne getan hast.»

«Ich rechne gerne», sagte Victor betreten.

«Das war auch nicht von Anfang an so.»

Victor dachte nach, und dann erinnerte er sich, wie sein Vater ihm das Rechnen beigebracht hatte. «Soll ich dir zeigen, wie mein Vater am Anfang mit mir gerechnet hat?»

Nein … Dazu hatte Sara nun wirklich keine Lust. Sie zog ihre Jacke an.

Victor warf seinem Vater einen Blick zu, der zu sagen schien: Siehst du wohl? Aber der Vater schlug vor: «Weißt du was, Sara, du darfst selbst sagen, was du lernen möchtest. Du darfst dir alles wünschen.»

Wirklich alles? Sara hielt den Atem an und drehte sich zum Schaufenster um. Die Sonne schien herein, und das Schachspiel glänzte so schön wie noch nie.

«Möchtest du Schach spielen?», fragte Victors Vater überrascht.

Sara nickte zögernd. «Aber das ist viel zu schwer, oder?»

Victors Vater lachte. «O nein, das ist gar nicht schwer. Du wirst es bestimmt lustig finden.»

«Paps, darf ich das schöne Spiel holen?» Victor strahlte. Endlich mal jemand, mit dem er Schach spielen konnte außer mit seinem Vater.

Im Nu hatte Sara ihre Jacke wieder ausgezogen. Gleich darauf hielt sie das Schachbrett in ihren Händen. Mit Victor zusammen trug sie es ganz behutsam zum Tisch. Die Königin schaukelte sanft hin und her, und Sara sah auch jetzt wieder, wie sie lächelte!


Victor holte das Buch «Lang lebe die Königin». Es war ein schönes Buch mit lustigen Bildern, und darin wurde die Geschichte von der weißen Königin erzählt.

Sara sah, dass die Königin sich streckte und sie freundlich anblickte.

Victor begann vorzulesen. Er gab sich große Mühe, es spannend zu machen.

Es waren einmal ein König und eine Königin, die lebten in einem großen Schloss auf einem hohen Berg, weit weg von hier.

Sie waren eigentlich immer glücklich gewesen, bis der König eines Tages anfing, sich zu langweilen, schrecklich zu langweilen. Er saß auf seinem Himmelbett und trug einen glänzenden Morgenrock und bunte Hausschuhe. Der Bommel an seiner Schlafmütze baumelte munter um seinen Kopf, während er missmutig in einem Buch blätterte. Dann warf er das Buch fort und sah sich um, ob er nicht etwas anderes anfangen könnte.


Victor schaute auf, um zu sehen, ob Sara auch zuhörte. Und wirklich hörte sie zu, sehr gut sogar. So gut hörte sie sonst nicht einmal zu, wenn ihr Großvater ihr eine spannende Geschichte vorlas.

Plötzlich meinte der König etwas zu hören. Jawohl, er hörte Schritte. Schnell löschte er das Licht und kroch unter die Decken. Die Schritte kamen immer näher. Er hörte es schon: da kam seine Frau, die Königin. Er kroch noch tiefer unter die Decken. Er wollte ihr zeigen, wie unglücklich er war. Zwischen den Leintüchern hindurch spähte er nach der Tür.

Die Königin betrat das Zimmer. Sie sah freundlich aus, wie immer, und leise ging sie zum Fenster. Als sie die Läden öffnete, flutete das warme Sonnenlicht ins Zimmer. Sofort sah alles viel fröhlicher aus.

«Ist es nicht ein schöner Tag, ein ganz herrlicher Tag?», sagte sie, und das Licht funkelte in ihren grünen Augen. Tief atmete sie die frische Luft ein.

Der König wurde böse. Sah sie denn nicht, wie erbärmlich es ihm ging? Laut sagte er: «Es ist ja immer soo wunderschön!»

Aber die Königin überhörte sein mürrisches Gebrumme. Sie schaute hinab in das Tal, wo die Menschen am Ufer des glänzenden Flusses saßen und angelten.

«Wollen wir heute einen schönen Spaziergang machen?», fragte sie.

«Ich will nicht spazieren gehen, ich habe schon alles gesehen.»

«Alles?»

«Ja, alles. Was ist denn das für ein König, der den ganzen Tag spazieren geht. Nirgends ist Krieg, nirgends herrscht Hungersnot. Alle sind glücklich, außer mir!»

Die Königin sah ihn an und setzte sich dann auf den Rand des Bettes. Sie konnte nichts dafür, sie musste immer ein bisschen lachen, wenn ihr Mann sich so anstellte.

Der König machte ein noch kläglicheres Gesicht. «Du verstehst mich nicht. Ich langweile mich!»


«Mein armer Schatz.»

«Wenn ich einen Krieg führen könnte …», schmollte er und sah seine Frau dabei erwartungsvoll an.

«Krieg!» Die Königin lachte nicht mehr, es lief ihr kalt den königlichen Rücken hinunter.

«Ja. Ich verstehe nicht, was du gegen einen Krieg hast. Länder erobern und …»

Der König hielt inne, denn jetzt sah die Königin sehr unglücklich aus. Wieder verschwand er wie ein verwöhntes Kind unter den Decken. «Ich langweile mich so, ganz furchtbar schrecklich sehr …»

Die Königin begriff, dass er es ernst meinte. Und sie wusste auch, wenn jetzt nicht schnell etwas geschah, würde der König einen Krieg anfangen.

Auf dem großen Schlosshof saß die Hofdame und stickte. Die Hofdame war die beste Freundin der Königin, schon seit der Zeit, als die Königin noch eine kleine Prinzessin war. Seit damals erzählte die Königin ihr alles, und das tat sie auch jetzt.

Krieg! Die Hofdame erschrak so, dass sie sich in den Finger stach. Sie mochte den Krieg genauso wenig wie die Königin. Vor allem, weil der König meistens verlor und dann furchtbar zornig wurde. Und so viele verwundete Soldaten, und überall die zerschossenen Mauern … Konnten sie denn nicht einfach das Gänschenspiel oder Mensch-ärgere-dich-nicht spielen? Das war doch so geruhsam.

Aber die Königin schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust mehr auf Mensch-ärgere-dich-nicht.

«Na, weißt du nicht mehr, wie zufrieden der König war mit dem Würfel, der immer nur Sechser würfelte?» Die Hofdame entsann sich, dass der König es nicht einmal gemerkt hatte.

Tief in Gedanken ging die Königin auf und ab. Plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte sich offensichtlich etwas ausgedacht. Die Hofdame ließ ihren Stickrahmen sinken.

«Wie wäre es, wenn wir uns selbst ein Spiel ausdenken würden?», sagte die Königin. «Ein schönes und interessantes Spiel, ein Spiel, das wir auch mögen und das nie langweilig wird. Ein Spiel speziell für den König.»

Die Hofdame konnte sich ein solches Spiel gar nicht vorstellen, aber die Königin schien ganz begeistert zu sein. Sie nickte ihr aufmunternd zu.


Sara freute sich. Sie wusste, welches Spiel die Königin meinte. «Schach!»

Lang lebe die Königin!

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