Читать книгу Lang lebe die Königin! - Esmé Lammers - Страница 7

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Am nächsten Tag zeichnete Sara in der Schule das Schachbrett fertig. Sie malte das Schwarz noch schwärzer, die Linien noch klarer, und sie radierte aus den weißen Feldern alles weg, was nicht hineingehörte.

Der Lehrer hatte schnell gemerkt, dass Sara ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Die Provinz Groningen war für sie immer noch ein Rätsel. Vielleicht hat sie Rechnen geübt, dachte er und fragte: «Sara, wie viel ist sieben mal neun?»

Sara zuckte zusammen. Zum Glück öffnete sich in diesem Augenblick die Tür des Klassenzimmers, und der Schulleiter trat mit einem neuen Jungen ein. Sie erkannte den Jungen sofort, schon weil er dieselbe Mütze trug. Das war der Junge, den sie gestern bei dem Spielwarenladen gesehen hatte. Es war der Junge mit dem Schachspiel.

«So, Kinder, dies ist Victor. Er kommt zu euch in die Klasse», sagte der Schulleiter. Er wechselte einen Blick mit dem Lehrer und verließ den Raum wieder.

Der Lehrer legte eine Hand auf Victors Schulter und sagte: «Guten Tag, Victor, schön, dass du zu uns kommst. Such dir nur schnell einen Platz, wir rechnen gerade.»

Victor schaute sich in der Klasse um und entdeckte Sara. Vergnügt ging er auf sie zu und setzte sich auf den Stuhl neben sie. Sara wagte nicht, ihn anzusehen, so froh war sie.

Der Lehrer klatschte in die Hände. «Also, Sara, glaub nicht, dass du schon fertig bist. Sag mir, wie viel ist sieben mal neun?»

Sara wusste es nicht, wirklich nicht. Sie duckte sich noch tiefer und starrte in ihr Rechenbuch. Nie mehr wollte sie aufblicken, nie mehr. Sie hörte, wie der Lehrer näher kam. «Nun, ich warte. Diese Aufgaben habe ich euch gestern noch erklärt.»

Sara wagte auch nicht, die Antwort zu raten, was sie sonst manchmal versuchte. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Mariette sich meldete. So ein Glück! Aber der Lehrer blieb neben ihrem Tisch stehen. Die Zahlen im Buch tanzten vor ihren Augen.

Endlich nickte der Lehrer Mariette zu.

«Dreiundsechzig», sagte Mariette mit ihrer klaren Stimme. Mariette wusste immer alles. Mariette war die Beste in der Klasse. Und sie? Sie war strohdumm, die Dümmste in der Klasse. Das würde auch Victor jetzt begriffen haben.

Der Lehrer schrieb etwas an die Tafel. Saras Blick wanderte hinaus zu den Vögeln auf dem Schulhof. Sie sah Bertje, den kleinsten Spatz, der überall hinterher hüpfte und immer zu spät kam, wenn es etwas Leckeres zu picken gab. Er flatterte ans Fenster und setzte sich zu ihr auf die Fensterbank.

«Macht jetzt die zehnte bis fünfzehnte Aufgabe», sagte der Lehrer und kam an ihren Tisch. «Du kannst diesmal bei Sara hineinschauen, Victor.» Der Lehrer schob das Rechenbuch in die Mitte des Tisches. Victor öffnete sein Heft, nahm den Füller aus dem Mäppchen, warf einen Blick in das Rechenbuch und begann ohne zu zögern, die Antworten der Reihe nach aufzuschreiben.

Sara versuchte es gar nicht erst. Sie zeichnete weiter, aber sie merkte, dass Victor aufgehört hatte zu schreiben und sie ansah. Nein, sie konnte nicht rechnen. Na und? Sie drückte den Bleistift tiefer in das Papier. Jetzt verdarb sie auch noch die schöne Zeichnung vom Schachbrett. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass Victors Augen noch immer auf sie gerichtet waren. Plötzlich schob er ihr sein Heft hin. Sie konnte die Antworten, die er säuberlich untereinander aufgeschrieben hatte, gut lesen. Erstaunt sah sie ihn an. Er sah gar nicht aus, als ob er sie strohdumm fände, sondern als hoffte er, dass sie lesen konnte, was er aufgeschrieben hatte.

Jetzt zögerte Sara nicht länger. Nach einem schnellen Blick auf den Lehrer, der zum Glück in die andere Richtung schaute, schrieb sie rasch und sauber die Ergebnisse von Victor ab. Nachher wollte sie die Zeichnung von dem Schachbrett aus dem Heft herausreißen, dann sah ihre Arbeit genau so aus wie die Hefte der anderen Kinder. Sie merkte nicht, dass der Lehrer sich umgedreht und alles gesehen hatte.

Bald darauf waren alle mit den Aufgaben fertig, und der Lehrer ließ sie die Ergebnisse vorlesen.

Sara kam auch an die Reihe. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie die richtige Antwort. Sie fand das selbst so komisch, dass sie nur ganz leise sprach.

«Was sagst du, Sara? Ich kann dich nicht verstehen.»

«Zweiunddreißig», wiederholte sie etwas selbstsicherer.

Der Lehrer nickte: «Gut, sehr gut, Sara.»

Die anderen drehten sich erstaunt um. Meinte er etwa Sara?

Der Lehrer wandte sich jetzt an Victor. «Mir scheint es besser, wenn du dich dort hinsetzt», sagte er plötzlich und zeigte auf einen Tisch vorne in der Klasse.

Victor verstand rein gar nichts. «Aber ich möchte doch neben Sara sitzen!»

Die Kinder fingen an zu kichern.

«Und ich möchte, dass du dich dorthin setzt», sagte der Lehrer bestimmt. Er wollte Sara keine Strafarbeit geben, aber wenn Victor weiterhin neben ihr säße, würde sie vielleicht überhaupt nichts mehr tun.

Victor fand es sonderbar.

«Victor ist in Sara verknallt, Victor ist in Sara verknallt!», tuschelten die Kinder, als er langsam zu dem anderen Tisch ging.

Zum Glück ließ der Lehrer Sara den Rest der Stunde in Ruhe, und sie konnte ungestört die Vögel auf dem Schulhof beobachten. Aber sie fand es nicht so lustig wie sonst.

Sara holte ihre Jacke von der Garderobe. Sie wollte gerade hinausrennen, als der Lehrer sie zurückrief.

«Hast du deiner Mutter den Brief gegeben, Sara?»

Sie nickte.

«Und warum hattest du die Aufgaben trotzdem wieder nicht gemacht?»

«Meine Mutter ist eingeschlafen», antwortete sie.

«Ach so. Na, weißt du, was? Sag deiner Mutter, dass ich dir selbst Nachhilfeunterricht geben will, wenn sie keine Zeit dazu hat.»

Nachhilfe beim Lehrer! Noch länger in der Klasse sitzen, noch mehr Fragen beantworten. Wenn sie Nachhilfe vom Lehrer bekäme, würde sie davonlaufen und nie wiederkommen!

Sara nickte und wusste gleich, dass sie es ihrer Mutter nie ausrichten würde. Sie drehte sich um.

Weiter vorne im Flur stand Victor, er hatte seine Jacke schon angezogen. Ob er auf sie wartete? Bestimmt nicht.

Sara ging ohne aufzuschauen an ihm vorbei. Aber er kam hinter ihr her und blieb dann neben ihr. Sara freute sich.

Zusammen gingen sie durch das Dorf, und Sara zeigte Victor, wo man das beste Brot kaufen konnte, wo die Entenmutter mit ihren Küken die Straße überquerte, wo sie mal die Birne in einer Straßenlaterne kaputt geschmissen hatte und wie man quer durch die Hausgärten zur Schule rennen konnte, wenn man zu spät dran war. Victor, der meistens etwas blass aussah, bekam rote Backen vor Aufregung.

Sie gingen in den Friseurladen, und Sara fragte ihre Mutter, ob sie bei Victor spielen durfte.

«Ja, geh nur mit, aber komm pünktlich nach Hause. Du musst noch Hausaufgaben machen.»

Bäh, Hausaufgaben, dachte Sara.

Die meisten Umzugskisten waren ausgepackt, und der Laden von Victors Vater war voll gestellt mit Spielsachen. Alles stand kreuz und quer, nur das Schaufenster war schon fertig gestaltet. Sara sah das schöne Schachspiel im Schaufenster stehen. Daneben lag ein Preisschild, auf dem 75,00 hfl stand. Sara verstand nichts von Geld, aber sie fand, fünfundsiebzig Gulden waren nicht viel.

Victor sah das Schachspiel auch, aber er dachte wohl an andere Sachen. Er hatte Sara gerade erzählt, dass seine Mutter gestorben war, als er noch ein Baby war. Er wusste gar nicht, wie sie in Wirklichkeit ausgesehen hatte, er kannte sie nur von Bildern.

«Ich kenne meinen Vater auch nur von einem Foto», wollte Sara sagen, aber sie unterließ es, denn ihr Vater war nicht tot, und sie wusste außerdem nicht, ob der Mann neben ihrer Mutter auf dem Foto wirklich ihr Vater war.

Victor hatte plötzlich eine blendende Idee. «Soll ich dir bei den Aufgaben helfen?»

Jetzt? Das war wohl das Letzte, wozu Sara Lust hatte. «Nein, ich kann es ja doch nicht.»

«Natürlich kannst du.» Er wollte es ihr so gerne zeigen.

«Ich habe aber keine Lust», sagte Sara ehrlich.

Aber Victor meinte, dass Rechnen ihm Spaß mache.

Wie kann Rechnen denn bloß Spaß machen?, fragte sich Sara.

Aber Victor ließ nicht locker. «Es ist doch lustig, wenn du etwas ausrechnen kannst.»

«Was denn?» Sara begriff nicht, was daran so lustig sein sollte.

«Na, wie lang du schon lebst und wie lang du schon zur Schule gehst.»

Wer kam denn auf die Idee auszurechnen, wie lang man schon zur Schule ging! «Du musst doch immer zur Schule gehen», sagte sie lachend.

Aber Victor schüttelte energisch den Kopf. «Ich nicht, weißt du, ich bin nur selten zur Schule gegangen.»

Sara sah ihn forschend an. Wie konnte es sein, dass er nur selten in der Schule gewesen war? Er war doch so klug.

Er steckte die Hände in die Taschen. «Ich bin krank gewesen.»

Sara nickte verständnisvoll, wagte aber nicht zu fragen, was er denn gehabt hatte.

Da erschien Victors Vater in der Tür und fragte, ob sie Tee trinken wollten.

Lang lebe die Königin!

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