Читать книгу Eine Liebe in den Tagen des Lichts - Roman um Edvard Munch - Espen Haavardsholm - Страница 4

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Der Atem der Geschichte umweht Dorothys altehrwürdigen englischen Doppelnamen, aber sie ist in Norwegen zur Schule gegangen und ihre Freunde nennen sie einfach Doffy.

Sie studiert Jura und hat außerdem eine halbe Stelle in einem mausoleumähnlichen Büro in der Quadratur – und sie versucht, dort durchzuhalten, weil sie das Geld braucht. An diesem Abend trägt sie Rock, Strickjacke, Mütze, Handschuhe, alles aus Wolle, und kniehohe Stiefel. Blond und blauäugig geht sie vorbei an den winterschwarzen Bäumen des Dronningpark und schaut sich aufmerksam nach allen Seiten um.

Es wird dunkel. Sie will in ein Konzert.

Dorothys Zimmergenossin Kari besucht an diesem Tag ihre Mutter in Homansbyen zu einem Versöhnungsessen. Doffy und Kari wollen sich danach beim U-Bahn-Eingang Nationaltheater treffen, eine halbe Stunde vor Konzertbeginn. Das bedeutet, dass Doffy noch ein wenig Zeit totschlagen muss – nachdem sie die beiden Eintrittskarten abgeholt hat.

Im Schloss residieren jetzt die neuen Herren des Landes. Nach Wochen mit klirrendem Frost ist die Temperatur über Null gestiegen, und Schneematsch bedeckt den Weg. Quer vor dem Parlament hängt etwas Weißes und Widerliches, auf dem geschrieben steht: »Deutschland siegt an allen Fronten!« Das Abstoßendste an dem überdimensionalen Banner ist, dass man es nicht einmal als direkte Lüge betrachten kann.

Früher oder später wird sich das Blatt wenden, da ist sich Doffy sicher. Aber der Krieg dauert schon so lange, und noch ist es nicht so weit.

»Vielleicht nie!«

Es kommt ihr vor wie eine Art Tabubruch, das vor sich hinzumurmeln, während sie ziellos durch die Straßen schlendert. Aber es geschieht bisweilen, dass sie so empfindet – und in letzter Zeit ist es häufiger vorgekommen.

In der Stortingsgate liegt das Rekrutierungsbüro der Norwegischen Legion. Doffy presst die Lippen aufeinander und schaut weg. Ein Jugendfreund aus ihrem Heimatort hat sich anwerben lassen, einer, dem sie so etwas niemals zugetraut hätte. Unvorhersagbar ist dieser Krieg geworden, unbegreiflich, wer wo gelandet ist – bei Überläufern, Widerstandskämpfern oder den Angepassten. Die meisten ihrer Familienangehörigen sind deutschfeindlich, aber auch in ihrer Verwandtschaft gibt es diese drei Menschengruppen; und die Anpassungsfähigen sind bei weitem die größte.

Möglicherweise ist es so in allen besetzten Ländern, in diesem Winter, in dem fast ganz Europa unter dem, wie Kari es mit einer Grimasse nennt, »schwarzen Stiefelabsatz« gelandet ist, und die militärisch tadellos gelaufene Expansion, die in den dreißiger Jahren mit dem Sudetenland, dem Anschluss und den Zusammenstößen zwischen deutschen Panzern und polnischer Kavallerie im Tiefland bei Danzig begonnen hatte, scheint sich jetzt in den vierziger Jahren mit unverminderter Kraft fortzusetzen.

Wird Moskau besiegt werden? Wird Nordafrika den Achsenmächten in die Hände fallen? Wird der japanische Gottkaiser ganz Südostasien unterwerfen? Es kommt ihr wie ein Frevel vor, sich solche Fragen zu stellen, aber in einer Stimmung wie jetzt ist es trotzdem schwierig, sie zu ignorieren.

Ein grauer Wintertag in der von Deutschen besetzten Provinzhauptstadt, voller nebelhafter Menschen mit ausweichendem Blick und gebeugtem Nacken. Die Gesichter, die ihr auf Karl Johan begegnen, kommen ihr ebenso kalt, weiß und gespenstisch vor wie ihr eigenes Gesicht an diesem Abend.

Aber die Söhne der Witwe in Nachbarhaus in Frogner, wo Doffy und Kari ein Zimmer gemietet haben, scheinen jedenfalls in der Widerstandsarbeit gelandet zu sein. Was sie genau machen, weiß Doffy nicht. Einmal in diesem Winter konnte sie Kåre, dem älteren Bruder, aus einer Klemme helfen. Seit Doffy ihm in einer gefährlichen Situation ein Alibi verschafft hat, weiß er immerhin, dass er in der Not mit ihr rechnen, und sie weiß, dass sie sich auf ihn verlassen kann.

Dass im Februar auf den beiden Bahnhöfen der Stadt Bomben hochgingen, in der Nacht, nachdem der überhebliche norwegische Führer Quisling in der Festung Akershus seinen Staatsakt durchgeführt hatte – könnten die Brüder aus dem Nachbarhaus damit etwas zu tun gehabt haben?

Nein, so viel Mut haben sie nicht. Aber Doffy ist aufgefallen, dass die beiden trotz ihrer Jugend ziemlich viel zu wissen scheinen, wenn sie mit aller gebotenen Vorsicht ihre Fragen stellt. Vielleicht kennen sie in der Nähe jemanden, der ein heimliches Radio besitzt – oder sie helfen bei der Produktion einer illegalen Zeitung?

Ein blonder deutscher Offizier mit auffallend stechendem blaugrünem Blick spricht sie an:

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein? … Darf ich fragen, warum Sie heute Abend so melancholisch sind?«

Doffy starrt ihn eiskalt an, schüttelt den Kopf und läuft weiter.

Durch diese Episode fühlt sie sich – besudelt.

Auch die Spazierwege in Studenterlunden kommen ihr an diesem Abend widerlich vor – es wimmelt von gelben Flecken in Schneewehen und Eisbuckeln, von weggeworfenem Papier, Zigarettenstummeln, Erbrochenem und anderen Scheußlichkeiten. Wenn sie den Blick hebt, sieht sie, wie viele im Vorüberlaufen ihrem Blick ausweichen. Oslo scheint zu einem Wechselbalg von Hauptstadt verkommen zu sein, einer Stadt, um die sich niemand kümmert und auf die niemand stolz ist.

In der Stadt wimmelt es ja auch von diesen Deutschen in ihren schmutziggrünen Uniformen. Sie sind weit weg von ihren Schwestern, Freundinnen und Müttern – und ihre Augen scheinen um weibliche Aufmerksamkeit zu flehen, und sie sind auch nicht so plump wie viele junge Norweger, sie treten mit einer gewissen Eleganz auf. Es ist natürlich möglich, sich ihnen gegenüber korrekt zu verhalten. Viele sind sicher nicht einmal Nazis, unter ihren Uniformen sind auch sie Menschen. Aber ihnen deshalb ein Lächeln oder Freundlichkeit zu schenken, das wäre etwas anderes.

Plötzlich schaut ein junger Deutscher ihr ins Gesicht. Es sind dieselben blaugrünen Augen wie vorhin, oder nicht? Sie wendet sich eilig von ihm ab, tritt in ihrer Verwirrung in einen halbgefrorenen Hundehaufen, schneidet eine wütende Grimasse und eilt weiter.

Hinter einem Baum am anderen Ende von Studenterlunden versucht sie errötend, den Hundekot zu entfernen, indem sie immer wieder mit dem Stiefeln in eine Schneewehe tritt. Dann läuft sie durch eine Pfütze nach der anderen, und am Ende abermals durch zwei Schneewehen – um den widerlichen Gestank loszuwerden.

Schwerer, feuchter Schnee fällt jetzt vom tiefhängenden Himmel. Endlich erscheint Kari beim vereinbarten Treffpunkt. Sie umarmen einander.

»Tut mir leid, Doffy.«

»Macht doch nichts. Hier ist deine Eintrittskarte.«

»Danke, was bin ich dir schuldig?«

»Eins fünfzig.«

»Mehr nicht?«

»Die zu zwei Kronen waren ausverkauft. Riechst du etwas?«

»Wieso das denn?«

»Ich bin in einen Hundehaufen getreten.«

»Lass mal sehen.«

Verlegen hält Dorothy ihr den Stiefel hin. Die Freundin beugt sich darüber, mustert ihn, schnuppert.

»Ich glaube, das ist in Ordnung.«

»Nichts?«

»Ich rieche jedenfalls nichts.«

Sie überqueren Karl Johan, um sich der langen Schlange anzuschließen, die sich schon unterhalb der Säulen von Domus Media im Schneegestöber aufgestellt hat. Doffy murmelt:

»Mir ist ein Mann nachgestiegen.«

»Wer denn?«

»Ein deutscher Offizier, igitt.«

Kari nickt und mustert sie aufmerksam. Um das Thema zu wechseln, fragt Dorothy:

»Na, hast du dich mit deiner Mutter und deinem Stiefvater versöhnt?«

»Irgendwie schon.«

»Wie geht es denn deiner Mutter?«

»Ach, sie wird jetzt ganz schön umfangreich.«

»Was für eine Vorstellung, schwanger zu sein, in ihrem Alter!«

»Sie war ja erst achtzehn, als ich mich angemeldet habe.«

»Trotzdem. Noch ein Kind zu bekommen, nach so langer Zeit …«

»Jetzt hör aber auf, Doffy. Da höre ich mich doch furchtbar alt an.«

Sie sehen einander an und lachen.

»Aber das bist du doch nicht, Kari. Alt bist du nicht. Das ist das Letzte, was ich über dich sagen würde. Dein Vater, gibt es über den was Neues?«

»Er kommt jedenfalls nicht zurück.«

»Wissen sie denn mehr drüber, was passiert ist?«

Kari schüttelt den Kopf und wirft sich Dorothy in die Arme. Auch ihr, Doffy, treten Tränen in die Augen. Die Menschen in ihrer Nähe blicken zu Boden. Dicke Schneeflocken legen sich auf Mützen und Schultern.

»Verzeih mir, Kari. Das war eine so dumme Frage.«

»Wer hier dumm ist, das bin ich, Doffy.«

»Es ist ja wohl nicht dumm, dass du um deinen Vater trauerst.«

»Ich wünschte nur, er wäre nicht so mutig gewesen.«

Weit vorn werden jetzt die Türen der Aula geöffnet. Unter dem Vordach schütteln sie den Schnee ab. Beim Eingang zeigen sie dem Kontrolleur ihre Karten, dann dürfen sie den vollbesetzten Saal betreten. Wie beim vorigen Besuch hier kommen ihnen die nackten Wände seltsam fremd vor – ohne Alma Mater, den Eichbaum mit dem Großvater und dem Knaben, und ohne das farbensprühende Sonnenbild an der Rückwand hinter dem Orchester. Alle die mächtigen Wandgemälde hier wurden zusammengerollt und weggebracht, nachdem die Deutschen in Oslo einmarschiert waren. Die Aula wirkt seltsam kahl und ausgeraubt ohne die Monumentalgemälde. Warum wurden diese Bilder entfernt? Gerüchte wollen wissen, dass sie an irgendeinem unzugänglichen Ort versteckt worden sind, um nicht zu riskieren, dass sie beschädigt oder von der Besatzungsmacht als »entartete Kunst« beschlagnahmt werden.

Kari und Doffy gehen zu ihren Plätzen weiter hinten im Saal.

An diesem Abend sind drei große Klassiker aus Deutschland und Österreich angekündigt. Zuerst kommt Johann Sebastian Bachs feierliche »Suite in C-Dur«. Dann Wolfgang Amadeus Mozarts bekannte Perle »Eine kleine Nachtmusik«. Danach die dramatische fünfte Symphonie von Ludwig van Beethoven, angesetzt als musikalische Schlussfanfare – die sogenannte »Schicksalssymphonie«. Im aufgeregt tuschelnden Saal, der sich erst beruhigt, als der Dirigent den Taktstock hebt, gibt es so viele unterschiedliche Menschen. Was ihnen gemeinsam ist, allen gemeinsam, ist ihre Liebe zur klassischen Musik. Zugleich gibt es im Programm dieses Abends Dinge, die die verschiedenen Teile des Publikums ganz unterschiedlich deuten werden.

Alle hören zu. Man kann den Rücken der Zuhörer ansehen, wie aufmerksam sie lauschen.

Manches davon, was in einem besetzten Land vor sich geht, spielt sich ab in dem gefährlichen Spielraum zwischen dem Angedeuteten und dem Ungesagten – so kommt es doch oft?

Bei Dorothy ist es an diesem Abend jedenfalls, als öffnete das Orchesterbrausen bei Bachs Suite ihre Ohren auf eine aufmerksamere Weise als zuvor. Bei Mozarts elfentanzhafter Nachtmusik schließt sie die Augen und lässt sich einfangen, wie von einem schönen Traum. Aber der alternde, halbtaube Beethoven lässt sie rein körperlich zusammenfahren.

Ta-ta-ta-dam!

Satz für Satz lässt sie sich mitreißen von der guten alten Schicksalssymphonie, die sich durch das, was in Europa geschehen ist, verändert und doch wieder nicht verändert hat.

Weg, sie wünscht sich weg. So weit weg wie möglich aus diesem trostlosen Winteroslo mit Eisbuckeln, verstohlenen Blicken, deutschen Soldaten, geknechteten Norwegern, Ruß, Hundedreck und Pissflecken in den Schneewehen. Einige Minuten lang hat sie das Gefühl, in der Musik zu verschwinden – fort aus ihrem Leben, so, wie es ist, und hinein in das, was sein könnte.

Die Symphonie erhebt sie.

Und dann passiert etwas Seltsames.

Je länger sie die Rückwand hinter dem Philharmonischen Orchester anstarrt, um so klarer sieht sie das Bild vor sich, das früher hier gehangen hat – nicht nur in großen Zügen, sondern mit einer Reihe von kleinen und großen Details, die lebensspendende Sonne da draußen am Horizont, die kleinen und großen Inseln in dem unbewohnten Teil des Schärengürtels, das Licht, in dem die vielen Farben sich brechen, die schnurgeraden Linien, die auf die Zuschauerin zuführen.

Es ist wie eine Vision – sie hat das Gefühl, das Bild haargenau neu erschaffen zu können, so wie es ist, oder jedenfalls mit einem so großen Grad der Genauigkeit, dass es wirklich erscheint.

Im selben Moment scheint durch die Musik eine Stimme zu ihr zu sprechen.

»Gib dich nicht mit Kleinigkeiten zufrieden«, flüstert diese Stimme.

Woher kommt sie?

Kann das leise Flüstern von Kari stammen, die neben ihr sitzt? Nein, so kommt es ihr nicht vor, möglicherweise ist es gar keine menschliche Stimme, vielleicht ist es ihr Schutzengel, der ihr diesen Rat gibt, oder ein anderes Wesen, irdisch oder nicht-irdisch.

Das alles füllt ihre Brust – der letzte triumphierende Satz der Schicksalssymphonie, das prachtvolle Bild der Sonne im Schärengürtel, das durch die Kraft ihrer eigenen Phantasie die Rückwand füllt, die flüsternde Stimme.

Als sie wieder zu sich kommt, hat sie das Gefühl, dass der Entschluss gefasst worden ist – nicht so sehr von ihrem alltäglichen Selbst wie von der stolzen Dorothy, zu der sie zu werden schien, als sie sich von dieser kraftvollen inneren Welle erheben ließ.

»Bravo!«, ruft sie spontan, als in der Aula der Applaus losbricht und die Menschen in ihrer Begeisterung aufspringen. Kari und Doffy wechseln einen Blick, als sie dort stehen, mit Schweißperlen auf der Oberlippe und glühenden Wangen.

Die Temperaturen draußen sind inzwischen unter Null gesunken. Eine neue Schneeschicht hat sich auf das Eis gelegt und alles ist etwas glatter geworden. Als sie Slottsbakken hochgehen, wendet Doffy sich zu Kari um und murmelt durch den blaugrauen Stadtnebel:

»Weißt du, was?«

»Nein?«

»Da drinnen ist etwas passiert.«

Der Nebel hängt jetzt so tief über dem Park, dass sie kaum vom einen Baum zum anderen sehen können.

»Was denn?«

»Naja, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. In diesem Winter hatte ich das Gefühl, das Leben sei so ungeheuer grau geworden, und gegen Ende des Konzerts wurde ich irgendwie von mir selbst weggerissen.«

»Wie denn das?«

»Hast du mir da drinnen etwas zugeflüstert?«

»Wann denn?«

»Beim letzten Satz?

»Nein.«

»Dann muss das eine Art Halluzination gewesen sein. Ein Trugbild, wie das unser alter Klassenlehrer genannt hat.«

Kari lacht ihr perlendes Lachen und fragt mit Norwegischlehrerstimme:

»Hast du tatsächlich ein Trugbild erlitten, Dorothy?«

»So kam es mir jedenfalls vor. Eine flüsternde Stimme und eine Vision von etwas, das nicht da war.«

Die beiden jungen Studentinnen wechseln einen raschen Blick.

»Ta-ta-ta-tam!«

»Ta-ta-ta-tam!«

Für einen Moment singen sie zusammen und dann brechen sie beide in überschäumendes Gelächter aus.

Spontan berührt Dorothy Karis Hände mit ihren behandschuhten Fingern, jetzt, da sie den dunkelsten Teil des Schlossparks erreicht haben. Das tun sie ab und zu – ein Ausdruck der Wärme und Vertraulichkeit. Außerdem fällt es Doffy leichter, das zu sagen, was sie sagen will, seit sie die Aula verlassen haben, jetzt, wo ihre Gesichter im Schatten liegen.

»Sowie es Frühling wird, finde ich, sollten wir zum Großmeister fahren. Oder was sagst du?«

»Welchen Großmeister meinst du denn?«

»Den in Skøyen natürlich.«

»Und was wollen wir da?«

»Modell stehen. Darüber haben wir doch geredet.«

»Geredet, ja.«

»War das denn nicht dein Ernst?«

Die beiden Freundinnen schauen verlegen ihre Stiefelspitzen an. Sie rutschen auf dem eisglatten Schnee aus und packen einander, um nicht zu stürzen. Sie schweigen, während sie den Straßenbahnschienen der Riddervoldsgate folgen, dann murmelt Kari:

»Das ist vielleicht leichter gesagt als getan, Doffy.«

»Warum sagst du das?«

»Das war doch nur Gedankenspinnerei. Glaubst du, er kann überhaupt noch malen?«

»Kann er bestimmt.«

»Na, ich bin mir nicht so sicher.«

»Willst du damit sagen, dass du dich nicht traust?«

»Was heißt schon, nicht traust.«

»Er wird im Dezember neunundsiebzig. Es muss in diesem Frühling passieren, oder nie, Kari. Das ist dir doch auch klar, oder?«

»Er wird uns doch nur vor die Tür setzen, Doffy.«

»Na und? Wenn wir es jetzt nicht versuchen, werden wir es unser Leben lang bereuen. Das ist unsere letzte Chance, oder was?«

»Naja, mal sehen …«

Sie gehen schweigend weiter, durch den Briskebyveien. Bei der Ecke Eilert Sundts gate ruft Doffy:

»Ich tu es, egal, was du sagst.«

»Wann denn?«

»Sowie es Frühling wird.«

»Traust du dich denn wirklich?«

»Das kannst du mir glauben.«

Der Springbrunnen in der Senke liegt kalt und winterlich abgesperrt da. Sie überqueren die Gyldenløves gate und gehen weiter den schlecht gestreuten Hang vor den Mietshäusern der Lille Frogner allé hoch, wo sie in einem idyllischen, aber ein wenig zu schlecht isolierten Gartenhaus oberhalb der Treppen zur Straße ihr Zimmer haben.

Schon als junge Mädchen haben sie beide unabhängig voneinander für den Meister auf Ekely und seine wundervollen Bilder geschwärmt.

Es war damals auf der kleinen Ausstellung von Graphik und Gemälden bei Holst-Halvorsen, unmittelbar vor dem fünfundsiebzigsten Geburtstag des Malers. So fing es an zwischen der blonden Doffy und der dunklen Kari. Ein einziges Mal haben sie den Meister von Ekely dort gesehen, in eigener Person tauchte er auf, um dann sofort wieder zu verschwinden. Und den Eindruck eines schüchternen älteren Herrn mit Adlernase zu hinterlassen.

Aber das war genug. Sie hatten ihn gesehen. Den beiden Freundinnen war aufgegangen, dass er ein Mensch war, nicht nur ein gespenstisches Gerücht, dass er wirklich rein physisch vorhanden war, gleich in ihrer Nähe. Ein hochgewachsener Mann mit kräftigem Kinn, der in einem Moment an einen gebieterischen alten Häuptling erinnern konnte, um im nächsten Moment dann empfindsam und nervös zu wirken.

Sie hatten den Meister mit eigenen Augen gesehen und sie waren hingerissen von seinen farbenstrahlenden, grob gezeichneten und ungeheuer ausdrucksvollen Bildern.

Nach dieser Fast-Begegnung fingen sie an, Zeitungsartikel und Postkarten mit seinen Bildern zu sammeln. In der Bibliothek fanden sie eine Biographie über ihn, von einem Maler und Kritiker namens Pola Gauguin – sie lasen beide und diskutierten darüber, so sehr, dass sie glaubten, mehr darüber zu wissen, wer dieser alternde Großmeister war und warum er im Laufe der Jahre da draußen auf Ekely zu einer Art Einsiedler geworden war.

Zutiefst ungerecht war er von seinen Landsleuten behandelt worden, vom ersten Augenblick an!

Oft kehrten die beiden Freundinnen zurück in die Nationalgalerie oder zu anderen Orten in der Stadt, wo es Gemälde, Zeichnungen und Graphiken gab – ob nun von ihm oder anderen Künstlern, die sie besonders schätzten. Das mit den Bildern ist ein Interesse, das sie verbindet. Es ist nichts Neues in diesem Leben. Ein Grund, aus dem gerade sie zusammengezogen sind, war, dass sie beide so gern zeichnen. Seit sie zusammen in der Lille Frogner allé wohnen, zeichnen die Freundinnen immer weiter, wenn der Frühling kommt und sie das Bedürfnis verspüren, sich nicht nur in ihren dicken Lehrbüchern zu vergraben – sie machen Skizzen von Bäumen im Park, von Tierjungen und malerischen Häusergruppen.

Manchmal fertigen sie sogar kleine Tierskulpturen aus Ton an, die sie im Ofen eines Keramikers in Briskeby brennen können. Sie zeichnen sich gegenseitig mit Kohlestift oder Farbstiften in gemeinsamen Freistunden während ihrer harten und disziplinheischenden Studien an der Königlichen Frederiks Universität.

Eines Abends, kurz nach dem Konzert in der Aula fragt Doffy:

»Skizze?«

Die Freundin sieht sie nur an. Dorothy schlägt verlegen die Augen nieder. Ehe sie an diesem Abend ihre Zeichenarbeit beenden, murmelt Kari:

»Nein, ich glaube nicht, dass ich mich traue.«

»Was denn?«

»Skizze.«

»Warum nicht, Kari?«

»Heute jedenfalls nicht.«

Doffy zuckt mit den Schultern.

Sie üben sich nicht nur an ihren eigenen Gesichtern, wenn sie diese Zeichenabende abhalten. Auch die schwarze, goldäugige Katze der Vermieterin, eine Vase mit getrocknetem Heidekraut, eine Schüssel mit Winteräpfeln, ein Leuchter mit drei brennenden Kerzen und geschmolzenem Stearin – kleine alltägliche Dinge, die sich mit unterschiedlichen Lichtquellen und variierter Schattenlegung abbilden lassen.

Langweilig? Nein, für eine, die gerne Bilder erschafft, gibt es immer Herausforderungen. Am nächsten Abend ist es Kari, die fragt:

»War das dein Ernst?«

»Was denn?«

»Was du gestern gefragt hast. Oder wolltest du mich nur auf die Probe stellen?«

»Wie das denn?«

»Sehen, wie spießig ich bin.«

»Nein, jetzt hör aber auf.«

»Warum hast du dann gefragt?«

»Das war nur so eine Idee.«

»Sag es nur, Doffy, du findest mich spießig.«

»Nein, jetzt hör wirklich auf, Kari.«

An diesem Märzabend sind nur die beiden und die Katze zu Hause. In der Küche pfeift der Wasserkessel. Doffy geht hinüber, um ihre bescheidene Abendmahlzeit zuzubereiten. Als sie mit Tassen, Schiffszwieback mit Ziegenkäse und der dampfendheißen Kanne mit Lindenblütentee zurückkommt, schaut Kari zu ihr auf und murmelt:

»Ich habe mir überlegt, was du gesagt hast, und ich meine, wir sollten es darauf ankommen lassen.«

»Findest du?«

»Ja, warum nicht?«

»Du meinst, wir sollen …«

»Ja. An der Südküste baden meine Mutter und ich immer ohne Kleider.«

»Aber euer Haus liegt ja auch ganz abgelegen, oder?«

»Na und? So sind wir nun mal geschaffen, nicht wahr?«

Sie schweigen für einen Moment, dann murmelt Dorothy:

»Ja, aber …«

Kari zuckt mit den Schultern. Dann schweigen sie wieder eine Weile, trinken Tee und reden schließlich über andere Dinge. Endlich legt Kari den Kopf schräg und sagt mit der Andeutung eines Lächelns:

»Na, wenn du nicht willst, dann …«

Es kommt vor, dass es zwischen ihnen etwas Angespanntes gibt. Es ist schwer zu sagen, was das ist. Vielleicht liegt es daran, dass keine von ihnen so recht weiß, wozu es führen kann – dieses Ungesagte in der Atmosphäre zwischen ihnen, das sie diese Zeichenabende miteinander teilen lässt. Weiche Bleistifte, Kohlestifte, Skizzenblöcke; ab und zu Wasserfarben und Pinsel, ein anderes Mal Farbstifte.

Der Tee ist getrunken, sie holen alles hervor, um anzufangen. Doffy bringt das Tablett in die Küche. Als sie zurückkehrt, dreht sie den Schlüssel im Türschloss um und fragt:

»Bist du sicher, dass du das willst?«

»Ja, warum nicht?«

»Halbakt?«

Kari nickt nachdenklich. Gemeinsam schließen sie die Vorhänge, so dicht, dass nicht der kleinste Spalt bleibt, und werfen eine Münze, um zu sehen, wer anfangen soll.

»Kopf!«

»Dann entscheidest du.«

»Dann entscheide ich, dass …«

Sie wechseln ein verlegenes Lächeln.

»Ich entscheide, dass ich …«

Sie verstummt. »Ich entscheide, dass du …«

Beide lachen. Die Katze mustert sie mit ihrem dunkelgelben Blick aufmerksam. Doffy geht wieder zum Fenster und zieht die Vorhänge noch fester zu.

»Sollen wir auch die Wolldecke aufhängen?«

»Warum denn?«

»Mir kommt das ein bisschen wärmer vor.«

Sie helfen sich gegenseitig dabei. Wenn es draußen richtig friert, kommt ein eiskalter Windhauch vom Fenster her. Im Winter haben ihnen die Wolldecken gute Dienste geleistet – in der Nacht über ihren normalen Bettdecken und zum Schutz gegen den Luftzug.

An der Schranktür in ihrem Zimmer gibt es einen großen Spiegel. Davor stehen sie oft und machen sich bereit, um zusammen ins Theater, Kino, Konzert oder zum Tanzen zu gehen. Immer kommen sie sich ein wenig älter, ein winziges bisschen reifer vor als andere in ihrem Alter. Auch jetzt, mit dreiundzwanzig, fühlen sie sich erwachsener als die meisten aus ihrem Freundeskreis – die blonde und zielbewusste Doffy, die schon die letzte Studienphase erreicht hat, während die schwarzhaarige und eher nervöse Kari ihr Medizinstudium gerade erst aufgenommen hat, nachdem sie Hungerjahre in Paris und die gnadenlose Bombardierung von Rotterdam erlebt hat.

»Ich will dich im Spiegel zeichnen«, sagte Doffy jetzt.

»Warum denn das?«

»Mit dem Rücken, im Spiegel.«

»Mit dem Rücken zum Spiegel oder mit dem Rücken zu dir?«

»Mit dem Rücken zu mir. Du betrachtest dich im Spiegel, ja?«

»Ach so.«

Doffy tritt vor sie hin, fragend. Sie sehen einander an. Zögernd öffnet Kari die obersten Blusenknöpfe.

»Du willst nicht?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Das macht nichts, Kari.«

»Kannst du mich so zeichnen, einfach mit offener Bluse?«

»Ja, das geht gut. Aber die Haare?«

»Was ist damit?«

»Wenn du willst, kannst du sie fallen lassen?«

Sie sehen einander einen Moment lang an, dann zieht Kari die Haarnadeln heraus, eine nach der anderen.

»So?«

»Ja? Und wenn du sie ein wenig verteilst: Sie sehen so schön aus, deine Haare, wenn du sie offen fallen lässt.«

»Findest du?«

»Findest du nicht?«

Die Freundin zuckt mit den Schultern. Und so entsteht er – der erste Viertelakt, den sie von Kari zeichnet – im Spiegel, mit Haaren, die offen über die Schultern fallen, den Rücken zur Betrachterin, mit halb geöffneter Bluse und einem Gesicht, das unter dem halblangen Pony sein eigenes Spiegelbild ansieht. Es dauert seine Zeit, bis dabei eine Zeichnung entsteht; viele Entwürfe werden aus dem Skizzenblock gerissen, es gibt neue Versuche mit Radiergummi und weichem Bleistift, ehe sie etwas erreicht hat, mit dem sie wenigstens ein bisschen zufrieden sein kann.

Vielleicht ist es nur ein dummer Traum, auf Ekely Modell stehen zu wollen, denkt Dorothy. Vielleicht werden sie es niemals wagen, bei dem alten Großmeister anzuklopfen. Wenn sie sich wirklich trauen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie verjagt werden. Trotzdem kann sie sich den Entschluss, den sie beim Konzert in der Aula gefasst hat, als dieses seltsame Gefühl sie überkam, nicht aus dem Kopf schlagen – dieses Gefühl, aus ihrer jugendlichen Schüchternheit herausgerissen zu werden und für einen Moment eine höhere und weniger kleinkarierte Welt zu erblicken.

Eine Liebe in den Tagen des Lichts - Roman um Edvard Munch

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