Читать книгу Eine Liebe in den Tagen des Lichts - Roman um Edvard Munch - Espen Haavardsholm - Страница 5

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Der alte Freund Pola G. ist am Telefon und kündigt seinen Besuch an. Mit krächzender Stimme macht Herr M. ihm klar, dass sie wohl gezwungen sind, die Begegnung bis zum Sommer aufzuschieben.

Draußen am Rand des Grabens ist struppiger gelber Huflattich aufgetaucht. Winzige violette Krokusblüten ragen aus dem sonnenbeschienenen Beet neben der Veranda hervor. Doch immer noch liegt Schnee auf Ekely, dem prächtigen Besitz des verstorbenen Amtsgärtners Pettersen, oben auf der Anhöhe über der Vorstadt Skøyen in Vestre Aker.

Gegen Ende des Osterfests befällt Herrn M. erneut das Fieber. Es ist seine elendige Lunge, und der Halskatarrh ist auch zurückgekehrt. Er ist zu lange im Freien gewesen. In seinen Jagdstiefeln ist er von Bild zu Bild gelaufen, um zu prüfen, wie sie die Rosskur dieses Winters überstanden haben.

Mit den Malereien ist es wie mit den Menschen – sie müssen beweisen, ob sie zu etwas nütze sind oder nicht, sie müssen beweisen, dass sie etwas taugen. Vor fünfhundert Jahren, als der italienische Kapitän Querini Schiffbruch erlitt und sich mit ein paar Überlebenden aus seiner Mannschaft auf eine entlegene Insel weit oben bei den Lofoten rettete – und den ganzen Winter da draußen bei den Fischern auf Røst verbringen musste – konnte er bei seiner Rückkehr nach Italien in einem Bericht, den er über den Schiffbruch und die wundersame Rettung verfasste, erzählen, dass es bei Kindergeburten auf Røst üblich war, die Säuglinge für eine Zeitlang nackt in den Schnee zu legen, um zu sehen, ob sie genügend Kraft zum Überleben hätten.

Gemäß Kapitän Querini war dies eine Art, die Kinder abzuhärten. Neugeborene, die diese Prozedur nicht überstanden, hätten demnach ohnehin keine Chance gehabt, das körperlich anstrengende Leben eines Fischers auf den Lofoten zu ertragen.

Genauso, denkt Herr M., verhält es sich auch mit meinen Leinwänden. Sie müssen beweisen, dass sie stark genug sind, um Wind und Wetter zu trotzen. Wenn nicht, dann sind sie es auch gar nicht wert.

Deswegen lässt er sie eine Weile im Außenatelier stehen. Nicht alle, aber einige von ihnen. Es ist eine Prüfung, der er sie unterzieht. Nicht alle Neugeborenen auf Røst waren zum Überleben geschaffen. Dasselbe gilt für seine Entwürfe. Einige nimmt er mit herein, um vielleicht nach und nach ein wenig an ihnen zu arbeiten, wenn er denkt, dass sie genügend abgehärtet sind. Andere setzt er dem Aprilwetter aus, damit sie lernen, einen weiteren Witterungsumschwung auszuhalten. All dieses Hin- und Hergeräume der Bilder hat ihn über Ostern so ausgiebig beschäftigt, dass es seinem Altmännerkörper zu viel geworden ist.

Ein wunder und geschwollener Hals.

So ist er heute Morgen aufgewacht. Pfeifende Brust, schmerzende Bronchien, blecherner Husten, Schwindelgefühle. Fräulein Berg, sein dienstbarer Geist, klopft an die Tür.

»Herr Kunstmaler?«

»Ja.«

»Darf ich hereinkommen?«

»Bitte schön, Fräulein Berg.«

»Ich habe Ihnen etwas heißen Saft aus schwarzen Johannisbeeren mitgebracht.«

»Das ist lieb von Ihnen.«

»Ist Ihr Husten zurückgekommen?«

»Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen.«

»Sie bleiben ein paar Tage im Bett, Herr M.?«

»Ja, das ist wohl das Klügste.«

»Ich koche etwas Gemüsesuppe.«

»Sie wissen am besten, was zu tun ist, Fräulein Berg.«

Später, nach dem dampfend heißen Johannisbeersaft, zieht der Alte ein paar ungelesene Zeitungen aus dem Stapel unter dem Bett hervor, um sie durchzublättern. Anscheinend ist das Postschiff »Galtesund« – von dem man noch vor Ostern angenommen hatte, dass es irgendwo zwischen Flekkefjord und Stavanger untergegangen sei – in Wirklichkeit von ein paar jungen Leuten gekapert worden, die den Schiffsführer mit Waffengewalt zu einer Kursänderung in Richtung England zwangen.

Reinste Piraterie vor der frommen Küste Südwestnorwegens! Kaum zu glauben, dass das wirklich passiert ist. Andererseits ist es durchaus erheiternd, dass etwas Derartiges tatsächlich geschehen konnte und die Behörden nichts bemerkt haben, bevor sich die »Galtesund« auf der anderen Seite der Nordsee einfand. Eine merkwürdige Geschichte! Und offenbar ist niemand dabei umgekommen.

Im Laufe des Tages tritt der neue Verwalter an Herrn M.s Krankenlager. Mit seinen Sommerprossen und dem roten, in der Mitte gescheitelten Schopf steht er da, um Herrn M. davon zu unterrichten, dass die Kuh auf Ekely trächtig ist.

»Hatte wohl ein Abenteuer, bevor ich zu Ihnen kam, Herr Meister!«

»Ja, das ist mir völlig klar. Ich habe für den Zuchtochsen bezahlt. Die Affaire führt also zu einem handfesten Ergebnis?«

»Jaha.«

»Sind Sie sicher?«

»Bin auf ’nem Hof aufgewachsen.«

»Ach so. Dann wollen wir hoffen, dass Sie Recht haben!«

»Warten Sie’s nur ab, Herr M.«

Dann ist also keine erneute Tour zum Zuchtochsen nötig; falls sich der neue Verwalter tatsächlich so gut mit Tieren auskennt, wie es den Anschein hat. Im Laufe des Sommers kommt demnach ein neues Kalb, rechnet der Maler sich aus. In drei bis vier Monaten wird es eine Zeitlang keine frische Milch und Sahne mehr geben; alles geht dann nur noch an das Neugeborene.

Vom vorherigen Verwalter musste sich Herr M. notgedrungen trennen.

Das war keine leichte Angelegenheit gewesen. Aber er war der Ansicht, dass er keinen Mann bei sich angestellt haben könne, der derart fragwürdige Sympathien hegte. Nach den ersten gemurmelten Auseinandersetzungen fürchtete der Maler sehr, dass sich der Mann nun aus Rache mit den Vertretern der neuen Ordnung alliieren würde, um Ekely von der Besatzungsmacht beschlagnahmen zu lassen – so wie es schon mit dem Gut »Hoff« geschehen war, das da mitten in seiner Aussicht liegt, nur zweihundert Meter südlich von Ekely.

Wieso? Weil es unmöglich zu wissen ist, was sich solch erbärmliche Menschen ausdenken können. Außerdem war irgendetwas Niederträchtiges an diesem Mann; dieses Gefühl hatte er schon lange. Die Situation war dann so nervenzehrend geworden, dass er keinen anderen Ausweg sah, als alles seinem Anwalt zu übergeben. Das zog zwar zusätzliche Kosten nach sich, aber eine andere Möglichkeit war nicht in Sichtweite.

Und die Einigung, wie sah sie aus?

Drei Monate zusätzliches Gehalt musste der Rechtsanwalt diesem Schurken schließlich anbieten, um ihn loszuwerden. Im Gegenzug wurde vereinbart, dass er augenblicklich aufhörte, Herrn M. und seine Haushälterin zu quälen, dass er mit sofortiger Wirkung seine Bleibe in der Gesindestube räumte sowie sich schriftlich verpflichtete, auf alle rechtlichen Schritte gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber zu verzichten.

Diese aufreibende Angelegenheit kam noch zu all den anderen Dingen hinzu, mit denen er sich im neuen Jahr herumplagen musste – das Fieber, die Influenza, die Hustenanfälle, die Bronchitis, der Halskatarrh, die düstere Kriegsentwicklung sowie sein anhaltendes Unvermögen, als Maler zu arbeiten.

Ist es da so ungewöhnlich, dass er sich elend fühlt? Ist es so seltsam, dass dieser Winter ihn beinahe völlig zerbrechen ließ? Ist es verwunderlich, dass er sich in regelmäßigen Abständen entweder für die Irrenanstalt oder das Leichenhaus bereit fühlte?

Der Alte schlummert erneut auf seinem Lager ein. Als er wieder erwacht, lässt das Sonnenlicht die Äste draußen in einem regenbogenfarbenen Schimmer aufleuchten. Alles wogt und glänzt, so als befände er sich an der Himmelspforte und die Bekümmernisse des Erdenlebens wären vorüber.

Nur ein Tagtraum. Denn falls es wirklich irgendeine Form des Weiterlebens nach dem Tode gäbe, dann wäre es wohl eher wahrscheinlich, dass er dort unten in den Flammen enden würde, bei seinen alten Freunden aus der Boheme. Zumindest wäre ihm ein Aufenthalt im Fegefeuer beschieden. Eine direkte Himmelfahrt könnte es wohl nicht geben; nicht nach allem, was er erlebt hat.

Es klopft an der Tür. Er zuckt zusammen.

»Herr Kunstmaler?«

Natürlich ist nur sie es, die Haushälterin aus der Küche. Wie gut, dass er ihr endlich beibringen konnte anzuklopfen – immer anzuklopfen –, bevor sie hereinkommt.

»Ja.«

»Störe ich?«

»Ein wenig.«

»Dann gehe ich wieder.«

»Nein, schon gut.«

»Ich habe etwas warme Suppe für Sie.«

»Ja, vielen Dank, Fräulein Berg. Was ich noch sagen wollte – schön, dass Sie nach Ekely zurückgekommen sind.«

»Natürlich bin ich zurückgekommen.«

»Hatten Sie schöne Osterferien?«

»Ja, danke der Nachfrage. Während der Messe zu Hause verkündete der Pastor, dass er sein staatliches Amt abgegeben habe, aber der Gemeinde weiterhin dienen wolle.«

»Tja, er muss ein mutiger Mann sein.«

»In vielen anderen Kirchen soll dasselbe passiert sein.«

»Tatsächlich, Fräulein Berg?«

»Ja, um die Bischöfe zu unterstützen. Der Herr Meister war also nicht beim Ostergottesdienst?«

»Aber nein, wo denken Sie hin?«

»Sie sollten ein wenig die Bibel lesen, bei dem schrecklichen Winter, den Sie hatten.«

Der Maler zuckt mit den Schultern und antwortet schließlich, mit einem Grinsen:

»Da müsste es dann wohl das Buch Hiob sein.«

»Sicher, warum nicht? Ich suche Ihnen gleich die alte Familienbibel heraus, dann können Sie es nachlesen.«

»Das ist wirklich nicht nötig, Fräulein Berg.«

»Wenn Sie sich weigern, nehme ich die Suppe wieder mit.«

»Tja, dann habe ich wohl keine andere Wahl.«

»Das haben Sie richtig erkannt, Herr M.«

Manchmal erlaubt er sich, auf diese Weise mit ihr zu scherzen. Nicht immer gefällt es ihm, aber in diesem Fall lässt er zu, dass sie die alte Bibel seines Vater hervorholt und auf den Nachttisch legt.

Er isst ein wenig Gemüsesuppe. Dann räumt er das Tablett beiseite und kauert sich unter der Decke zusammen.

Als er wieder erwacht, ist der Tag weit fortgeschritten.

Was ist mit ihm? Das Tablett ist weggeräumt. Dann war sie also hier drinnen, ohne dass er etwas gehört hat. Auch das mag er nicht, dass sie so einfach kommt und geht, wie sie will. Er räuspert sich.

»Fräulein Berg?«

Kein Laut aus der Küche. Er hustet und ruft noch einmal, jetzt etwas lauter:

»Fräulein Berg?«

Noch immer keine Antwort. Nervös schaut der Bronchitiker unter das Bett, um sich zu vergewissern, dass sein Verteidigungswerkzeug noch immer da liegt, wo es liegen soll.

Unmöglich zu wissen, wer hier auftauchen kann, wenn auf Ekely sonst niemand in der Nähe ist. Die Hunde unten – normalerweise kann sich Herr M. darauf verlassen, dass sie einen Höllenlärm machen, wenn ein Fremder einzudringen versucht. Aber was, wenn irgendwer das Futter für die Hunde mit Betäubungsmitteln versetzt hat; oder mit Gift?

Nein … diesmal wohl nicht.

Er hört ein wenig Gekläff von draußen. Nichts Ernstes. Nur jemand, der am Tor vorbeiläuft und weitergeht. Aus den Geräuschen der Hunde kann er schließen, dass niemand stehen geblieben ist, um ihn zu plagen, weder das Nachbarpack noch sonst irgendwer. Aber wo kann das gute Fräulein Berg nur hingegangen sein?

Grübelnd sieht er auf die Uhr. Ist die normale Arbeitszeit der Haushälterin gar schon vorüber?

Könnten vielleicht doch die Herren vom Reichskommissariat wieder aufgetaucht sein, die beiden, die ihn davon unterrichtet hatten, dass sein Besitz in Nedre Ramme aus militärischen Gründen beschlagnahmt war – und damit gedroht hatten, vielleicht zurückzukommen, um auch Ekely an sich zu reißen, zur freien Nutzung durch die Männer der neuen Zeit?

Sogleich spürt er die unglückselige alte Mischung aus Furcht und Zorn in seiner Brust aufkeimen.

Den beiden Uniformierten konnte er den Gratulationsbrief zeigen, den er vom deutschen Herrn Minister Goebbels zu seinem siebzigsten Geburtstag bekommen hatte. Ein Glück, dass er den Brief nicht weggeworfen hatte, so wie es ihm spontan in den Sinn gekommen war, als er ihn erhielt. Irgendetwas hatte ihn daran gehindert.

Wurde er in Deutschland nicht als einer der destruktiven modernen Maler betrachtet? Was bewegte bloß diesen Minister Joseph Goebbels, ihm einen Gruß zu seinem Jubiläumstag zu senden?

Das ist wirklich nicht leicht zu sagen. Könnte Doktor Goebbels womöglich ein klügerer Mann als dieser größenwahnsinnige Zwerg Adolf Hitler sein?

Nein, eine sichere Antwort darauf ist beileibe nicht einfach. Doch anstatt diesen Gruß von Goebbels in den Ofen zu stopfen, hatte er ihn immerhin aufbewahrt, in einem Stapel obskurer Papiere auf dem Flügel. Dort hatte er ihn schließlich gefunden – nach einigen Minuten intensiver Suche – und mit ein paar höflichen, auf Deutsch geäußerten Phrasen den beiden Offizieren vom Reichskommissariat überreicht.

Mehr war nicht nötig gewesen. Die Herren warfen einen Blick auf das Papier, nickten, knallten die Stiefelabsätze zusammen, salutierten und zogen sich zurück. Bis jetzt hatte er nichts mehr von ihnen gehört. Doch Nedre Ramme war und blieb beschlagnahmt, wie ihm schriftlich mitgeteilt wurde.

Nein, er kann nicht glauben, dass die Offiziere vom Reichskommissariat Fräulein Berg belästigt haben. Wahrscheinlicher ist es wohl, dass sie mit dem Fahrrad davongefahren ist, um irgendwo anzustehen, angelockt von dem Gerücht, dass die eine oder andere Kostbarkeit irgendwo aufgetaucht ist.

Echter Kaffee vielleicht? Krabben? Hummer? In diesem Fall müsste das Gewicht wohl mit Gold aufgewogen werden, aber zur Abwechslung von der alltäglichen Kost würde ihm ein kleines gastronomisches Feuerwerk durchaus kein Unbehagen bereiten.

Fräulein Berg muss also unterwegs sein, um einzukaufen. Nichts Schlimmeres. Er muss dem Rat des Arztes folgen – er darf die Nervosität keine Macht über ihn gewinnen lassen und muss vermeiden, dass ihn Angstgefühle übermannen. Der Alte steht auf und läuft ein paar Mal durch das leere Haus. Kein anderer Trost ist ihm in diesem Winter geblieben, als von Zimmer zu Zimmer zu gehen und seine Bilder zu betrachten – oder Fräulein Berg zu bitten, einen der Hunde hereinzulassen und ein wenig mit ihm auf dem Teppich zu spielen; ihn vielleicht in sein Skizzenbuch zu zeichnen.

Mit Ölfarben kann er nicht mehr arbeiten. Holt er ein seltenes Mal die Pinsel hervor, kommt früher oder später ein neuer Hustenanfall; fast so, als sei er ein wenig allergisch geworden, sowohl gegen Farbtuben als auch gegen Terpentingeruch. Der Arzt ist gnadenlos.

»Bettruhe«, verordnet er.

Und das, obwohl Doktor Schreiner ausgiebig darüber informiert wurde, wie sehr Herr M. es verabscheut, einen Monat nach dem anderen als Patient zu vergeuden. Zumindest ein wenig Zeit muss er jeden Tag außerhalb des Betts verbringen. Es gibt so viel, was zu erledigen ist. Nur er allein weiß, welche Ordnung im Hause herrscht.

Geduld!

Nichts anderes ist nötig. Ruhe! Ausdauer! Das behauptet Schreiner. Er kann es leicht sagen.

Der Bronchitiker zieht Pantoffeln an und wirft sich den Schlafrock über, wickelt einen Schal um den Hals und tappst in den Pantoffeln ein wenig umher. Andere mögen die Villa vielleicht als unordentlich betrachten – oder vielleicht sogar als chaotisch. Sollen sie nur. Er selbst weiß sehr genau, wo was zu finden ist und welchen Pfaden er durch die elf Arbeitsräume oben und unten folgen muss, um alles zu vermeiden, worauf er nicht treten darf, seien es nun Mausefallen, halbfertige Leinwände oder graphische Blätter.

Schon als junger Kunststudent zog er sich im Karneval eine Mönchskutte über – und auf dieselbe Weise lebt er nun. Eine Jungfrau ist er nicht, bei weitem nicht, auch wenn er noch ein Novize war, als Frau Thaulow ihn auf ihre Mondscheinspaziergänge lockte, damals im Wald zwischen Borre und Åsgårdstrand. Sie lehrte ihn das Küssen, auf eine Art, bei der man nicht mehr weiß, wer eigentlich wer ist; und danach war das Leben verändert.

Seitdem hat er Lithographien und Graphiken von dieser Umarmung angefertigt – die Küssenden vor den halb zugezogenen Gardinen am Fenster, so, dass ihre Gesichter zu einem verschmelzen. Frau Thaulow und er sind es, in seinem Atelier in Hammersborg, in jenem Herbst. Zwei Mal pro Woche kam sie zu Besuch, versteckt hinter ihrem Schleier.

Kurz vor Weihnachten machte sie Schluss mit ihm.

Offenbar wurde er ihr zu intensiv und fordernd. Und doch brauchte sie immer ein wenig Ablenkung, um eine Ehe mit einem Mann auszuhalten, der sie seinerseits betrog, und legte sich daher einen jungen Offizier zu, mit dem sie spielen konnte. Stundenlang streifte der verschmähte Liebhaber M. im folgenden Halbjahr durch den Studenterlunden, in der Hoffnung, Frau Thaulow zu begegnen – bis er sie schließlich wiedersah, in ihren feinen Kleidern; ihr glattes, ausdrucksloses Gesicht neben dem Gatten in Gehrock und Zylinder. Eine ganze Bildserie, Zeichnungen und Malereien, hat er von dieser Situation gefertigt – die weißen Spukgeister inmitten der anderen Promenadengespenster auf der Karl Johan.

Auch die anderen Frauen, in die er sich in seiner Jugend unvorsichtigerweise verliebte, hatten eine andere Seite gezeigt. Schwierig waren sie gewesen. Unergründlich, voller Widerspruch und treulos.

So viel falsches Spiel!

So viel Verwirrung! So viel Wankelmut!

Ja, auch er selbst war wankelmütig. Ja, auch er selbst verhielt sich unbegreiflich. Ja, auch er selbst war verwirrt, und hat gezweifelt.

Aber dennoch …

Dennoch!

Haben diese Schicksalsfrauen etwa nicht versucht, ihn seiner Vitalität und Manneskraft zu berauben? Muss er etwa nicht mit seiner halbverkrüppelten linken Hand leben, dieser ewigen und beschämenden Erinnerung an die schlimmste von allen – damals, als sie auf höchst ausgeklügelte Weise erneut versuchte, ihn zu einer Boheme-Ehe zu verleiten?

Diese verwöhnte Bürgertochter aus Homansbyen! Diese durchtriebene kleine Füchsin!

Danke, oh Herr, dass du mir genügend Scharfblick gabst, um vor ihr zu türmen, noch vor dem Besuch beim norwegischen Konsul, damals in Nizza!

Er ballt die rechte Hand zur Faust und hämmert sie auf den Nachttisch, mit aller Kraft.

Nein, Einsamkeit ist wohl das Beste für einen Mann seines Schlags. Natürlich kann Ekely als recht geräumige Mönchszelle betrachtet werden, aber eine Mönchszelle ist der Ort dennoch geworden. Insbesondere um all seine Malereien unterzubringen, hat er hier für so viel Platz gesorgt – mit hohen Bretterzäunen zum Schutz vor seinen Feinden, die sich im Prinzip zu jeder Zeit zwecks eines neuen Angriffs auf ihn sammeln könnten.

Ist es eine Art von Irrsinn, dass er so denkt?

Nein, Irrsinn … Man muss ja wirklich nicht geisteskrank sein, um die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

Damals in Åsgårdstrand, als er Rüben auf die Zaunpfähle unten am Fjord steckte, diesen Stangen die Namen seiner meist verhassten Feinde gab und mit seiner Kleinkaliberpistole auf die Köpfe feuerte – da war er vielleicht nicht ganz gesund. Aber das war ja ohnehin nicht ganz ernst gemeint. Er tat es nur, um sich von all dem Gift zu befreien, mit dem seine Lebenserfahrungen ihn angefüllt hatten. Ein richtiger Genuss war es, die durchbohrten Köpfe in den Kristianiafjord zu werfen.

Hiob …

M. holt seine Lesebrille hervor und setzt sich auf die aus Familienbesitz stammende Chaiselongue – »das Konversationssofa«, wie es damals genannt wurde. In den Jahren nach dem Tod seiner Mutter, saß sein Vater, falls er nicht gerade bei der Arbeit war, immer auf dieser Chaiselongue, um den Kindern in der Dämmerung etwas vorzulesen – Dickens, wenn er in seiner Armenarztstimmung war, Marryat, wenn den ehemaligen Schiffsarzt das Temperament überkam, und die Bibel, wenn ihm alttestamentarisch zumute war.

Das waren Abende, die er niemals vergessen wird; und tatsächlich hat er diese Angewohnheit hier auf Ekely wieder angenommen – sich niemals schlafen zu legen, ohne zuerst eine Weile gelesen zu haben, gern auf dieser Chaiselongue, auf der sie sich einst alle an ihren grauhaarigen Arztvater schmiegten, die drei Schwestern, der kleine Bruder und er.

Jaja. Die Seiten sind so dünn, und die Schrift so klein, aber es hilft, wenn er den Zwicker aufsetzt. Zunächst liest er schweigend, doch im dritten Kapitel – als das Resultat der Wette zwischen Satan und Jehova den getreuen Hiob trifft – lässt er sich hinreißen und liest mit erhobener Stimme Vers für Vers:

Und Hiob begann und sagte: Vergehen soll der Tag, an dem ich geboren wurde, und die Nacht, die sprach: Ein Junge wurde empfangen! Dieser Tag sei Finsternis! Gott in der Höhe soll nicht nach ihm fragen, und kein Licht soll über ihm glänzen! Dunkel und Finsternis sollen ihn für sich fordern, Regenwolken sollen sich über ihm lagern, Verfinsterungen des Tages ihn erschrecken! Diese Nacht – Dunkelheit ergreife sie! Sie freue sich nicht unter den Tagen des Jahres, in die Zahl der Monate komme sie nicht! Siehe, diese Nacht sei unfruchtbar, kein Jubel soll in sie hineinkommen! Es sollen sie die verwünschen, die den Tag verfluchen, die fähig sind, den Leviatan zu reizen!

Als er über die alte Familienbibel gebeugt dasitzt, überkommt ihn ein Niesanfall.

Herr M. wird verlegen. Winzige ekelhafte Speichel- und Schleimperlen haben sich wie ein gräulicher Regen auf die dünnen Buchseiten gelegt. Er versucht, sie mit einem Taschentuch abzuwischen – so vorsichtig wie möglich, da er fürchtet, die Bibelseiten könnten einen Riss bekommen.

Dann holt er sich ein Glas Wasser und trinkt.

Es ist lange her, dass er so viel gesprochen hat. Das laute Vorlesen hat ihn heiser und seinen Hals wund werden lassen. Fast fühlt es sich an, als hätte er die Stimme seines Vaters angenommen. Er kann sich noch lebhaft erinnern, wie sein Vater ihnen aus dem Buch Hiob vorlas; und tief in seinem Innern spürt er, dass es gut war, die Zeilen laut zu deklamieren – auch wenn kein Mensch gehört hat, was er zu sagen hat.

Ist es ihm in diesem Winter wirklich wie dem armen Hiob ergangen? Vielleicht nicht ganz so schlimm. Ganz im Gegenteil, als er auf seine Malereien schaut, an all den Wänden, kommt es ihm vor, als habe ihm Hiobs Wehklagen neuen Lebensmut gegeben. Was hier an den Wänden hängt, ist ein Teil von ihm selbst. Die Malereien handeln von dem, was ihm selbst im Leben widerfahren ist.

Das Buch der Bücher.

Viele Jahre hat er es nicht angerührt. Das war ein Fehler. Jugendliche Hybris war das, in seiner Bohemezeit.

»Ja, Mama!«

Das hatte er als Fünfjähriger zu seiner schwarzhaarigen Mutter gesagt, als sie ihre Kinder fragte, ob sie fest an Gott glaubten, damals, kurz bevor sie sie verließ, – und dasselbe Versprechen hatte er seinem grauhaarigen Vater am Weihnachtsfest gegeben, als er dreizehn Jahre alt war.

»Ja, ich glaube an Gott, Papa!«

Ein zweifaches Versprechen, an das er sich gleichwohl nicht hielt – nach der Begegnung mit Hans Jæger und seiner Wolfsmeute, als er noch Student an der Zeichenschule war.

Man kann seine Eltern nicht schlecht genug behandeln!

Pah, die Boheme!

Wenn er – der herausragende junge Doktor Faustus der norwegischen Kunst – in seiner Jugend jemals einen Mephisto hatte, dann muss es wohl Hans Jæger gewesen sein. Plötzlich sieht er die Augen der halbwüchsigen Ingeborg K. vor sich; ihren bohrenden Blick.

Wieso? Und weshalb ausgerechnet jetzt?

Sie war die Tochter des Modells, das er als Alma Mater der Auladekoration benutzt hatte, dieses dunkelhaarige kleine Muskelbündel Ingeborg K., mit Augen so schwarz wie ein Waldsee – wie verspielt sie war. Und gleich hatte sie begonnen, ihn in den Nächten aufzusuchen, weil sie sich vor der Dunkelheit fürchtete.

Wie klein sie war!

So warm! Und gleichzeitig so scheu!

Es war, als hätte er ein junges Tier bei sich gehabt. Ein ängstliches Wesen, das gleichzeitig über eine starke innere Hitze verfügte – eine halb erwachte Leidenschaft, zu der sie sich bei Tageslicht nicht ganz bekennen wollte, die jedoch in den ängstlichen Stunden der gemeinsamen Nächte erblühte.

In all diesen Jahren hatte er Nedre Ramme eigentlich nur ihretwegen behalten. Er konnte die gemeinsame Zeit nicht vergessen. Natürlich gab es einen erheblichen Altersunterschied, sie war erst siebzehn, als sie zum ersten Mal in Ramme auftauchte, und er schon über fünfzig.

Man stelle sich vor, dass sie die Ehe mit diesem alten, abgehalfterten Dromedar einging, das sich nun zur kommissarischen Leitung der Nationalgalerie hat missbrauchen lassen!

Allerdings hatte sie Verstand genug, um sich rechtzeitig vom Dromedar scheiden zu lassen.

Aber wie dem auch sei – die arme kleine Ingeborg! Da ist es einerlei, dass die Deutschen Nedre Ramme beschlagnahmt haben. Herr M. wickelt sich in seine Wolldecke ein und legt sich schlafen, zusammengekauert auf dem alten Konversationssofa seines Vaters.

Eine Liebe in den Tagen des Lichts - Roman um Edvard Munch

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