Читать книгу MarChip und das Geheimnis um Etoile Rouge - Esther Grünig-Schöni - Страница 6
3. Kapitel
Оглавление„Vermisst wird …“, ging ihm durch den Kopf. Das war kein Film. Sie war nicht abgehauen. Sie lag da. Vielleicht war es nicht die Vermisste, aber tot. Leichen hatten die Angewohnheit, das zu sein. Seine Gedanken versuchten Clown zu spielen. Das war keine Puppe, Es war real. Ihr Haar wurde von den letzten Ausläufern der Wellen in Bewegung gehalten, strähnig wie Meer Tang. Die Farbe war nicht richtig erkennbar. Haar war nass dunkler – anders. Der eine Arm wurde von den Wellen mit bewegt. Das wirkte unheimlich. Es gab ein Gefühl von Lebendigkeit, wo nichts als Tod war. Wie sie einmal ausgesehen hatte, war erkennbar. Lange lag sie nicht hier. Sie war noch nicht verfault. Es sah nicht nach Ertrinken aus. Ertrunkene wurden oft erst nach vielen Tagen angeschwemmt. Oder nicht? Er kratzte sich am Kopf. Er war kein Experte. Die Gesichtszüge waren verzerrt, verwischt, etwas aufgedunsen. Er starrte ihr ins Gesicht. Sie war geschlagen worden oder gegen Felsen gestoßen? Felsen? Er sah sich um. Etwas weiter entfernt entdeckte er einen größeren Brocken, der ins Meer ragte. Les deux Frères? Nein, von da wäre sie bei der herrschenden Strömung nicht hierher geschwemmt worden. Und wenn sie verzweifelt gesprungen war ... Wie auch immer, das Resultat blieb dasselbe. Die Augen standen offen. Sie waren leer. Kleiderfetzen hingen an ihr. Sie stammten von einem Kleid, wie es an Bällen getragen wurde. Eine Dame? Oder eine Nutte? So genau war das nicht definierbar. Nein, irgendwie hatte er nicht den Eindruck, dass sie zum Milieu gehörte. Die Haut … nein, er mochte nicht mehr hinsehen und tat es doch. Als ob diese auf etwas schließen ließ. Doch, manchmal schon. Trotzdem waren das Spekulationen, Gedanken, die sich überschlugen.
Sie trug ein Haarband. Es sah alt und wertvoll aus, blau mit speziellen verschlungenen Mustern, die ihm bekannt vorkamen. Dann sah er den roten Stein in Sternforum in dem Band. Er war verrutscht. Normalerweise wurde der vorne getragen. Verflixt noch mal! Nun wusste er es. Das Muster hatte er bei dem Anhänger gesehen. Hatte sie ihn beim Sturz verloren? Sie war nicht mehr ganz jung, aber nicht alt. Wie alt konnte er nicht erkennen. Schön sah sie nicht aus, aber er stellte fest, dass sie es einmal gewesen war. Noch einmal sah er ihr ins Gesicht, aber er rührte nichts an. Tote waren seltsam. Ihm war kalt … unwirklich. Doch Gegenstand geworden? Nein, für ihn konnte sie es nicht werden. Er war zu wenig abgebrüht, um so zu empfinden. Was empfand jemand, der tötete? Seltsame Gedanken. Woher sollte er das wissen? Es war nicht dasselbe, wenn er zuschlug und ein Unglück daraus wurde. Bisher hatte er das Bedürfnis, bewusst töten zu wollen nie gespürt und konnte nicht sagen, wie jemand empfand, der ein Leben mit Absicht auslöschte. Er wandte sich ab.
Was ging ihm heute alles durch den Kopf. Er musste … suchte in seinen Hosentaschen nach dem Handy. Natürlich hatte er es nicht dabei. Es lag ausgeschaltet in seinem Zimmer. Er hatte sich abgeschottet. Und … was nun? Konzentration! Vielleicht hatte das Weib ihres mit dabei, sonst musste er von der Pension aus anrufen. Er rannte los und erreichte sie schnell, da sie schlenderte und mit dem Hund spielte.
„Hey, hast du dein Handy dabei?“
Er brüllte es ihr laut zu, bevor er sie erreichte. Sie fuhr herum und blieb erstaunt stehen, als er vor ihr anhielt. „Dort hinten liegt eine Tote und …“
„Willst du mich Verschleißern?“
„Sehe ich so aus, dumme Kuh. Hast du eines oder muss ich weiter, um ein Telefon zu finden? Ich habe keine Zeit für lange Diskussionen. Das muss gemeldet werden.“
Sie holte es hervor. Seine Grobheiten überhörte sie. Er ließ sie nicht zu Wort kommen: „Ruf die Flics an und sag das denen! Da liegt eine am Strand. Nicht sehr schön.“
Sie schaute ihn böse an, ließ sich weder gerne Kuh schimpfen, noch herum befehlen, aber sie rief an. Nachdem sie es durchgegeben hatte, sagte sie zu ihm: „Du sollst an der Stelle warten.“
„Na toll! Merde!“
„Stampf auf dazu. Das würde zum Gesamtbild passen. Na los. Was dachtest du, was die sagen?“
„Spar dir deine Kommentare. Merde bleibt es, ob dir das passt oder nicht. Der Anblick am Morgen ist wenig erheiternd. Danke für den Anruf.“
„Ein Wunder.“
„Was ist nun wieder?“
„Du kannst danke sagen.“ Er fuhr sich genervt durch die Haare. Er hasste dieses besser Wissen und ach so anständig sein und andere belehren wollen. Dass ihn das nicht beruhigte, war offensichtlich. „Lass mich bloß mit dem Blödsinn in Ruhe. Erziehen kannst du einen armen Dummkopf. Geh suche dir einen. Davon laufen genug herum. Bei mir bist du falsch damit. Blödes Weibsbild!“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht im Sinn, dich zu erziehen. Das wäre vergebene Mühe. Aber ich lasse mir deinen Ton nicht gefallen. Klar? Wie käme ich dazu, an dir herum zu mäkeln? Ich kenne dich nicht. Aber du reizt mich. Das gebe ich zu.“
Sie sah ihm zu, wie er nach Worten suchte und keine fand. Das versöhnte sie. Er schaute nicht einmal mehr so ärgerlich wie zuvor. „Soll ich dir beim Warten Gesellschaft leisten? Ich bin Marie.“
„Wozu?“
„Weil ich nichts Eiliges vorhabe. Aber es muss nicht sein. Das war nur ein Vorschlag. Ich ahne, dass dir der Fund zu schaffen macht. Du bist nicht so Taff wie du tust.“
Sie schien ihn dauernd zu erstaunen. „Du kannst mit dem Hund nicht zu nahe ran und außerdem … es hat schon mir gereicht. Ja, das stimmt. Ich rate ab.“
Er sah sie an. Sie konnte nichts für seine Erfahrungen. Wenn er sich mit ihr unterhielt, hieß das nicht, dass er sich mit ihr einließ. „Okay, wir können hier warten. Ich renne rüber, wenn sie ankommen. Das war wirklich nicht das schönste Erlebnis heute.“
Reden mochte er nicht. Die Gesellschaft war ihm recht, sonst wäre er zu sehr ins Grübeln verfallen. Er sah hinüber zu der Toten, halb an Land und halb im Wasser. Es schüttelte ihn. Sie hatte Recht und er benahm sich dumm. Er streichelte den Hund, hob ein Stöckchen auf, warf es ihm, sah ihm zu, wie er hin rannte, es packte und ihm wiederbrachte, ihn erwartungsvoll ansah und eifrig wedelte. „Netter Hund.“ Entspannend.
Er warf wieder, setzte sich in den Sand, behielt die Stelle mit dem Fund im Blick und wurde von dem erneut heran stürmenden Tier umgeworfen. Es machte ihm Spaß, sich mit ihm zu balgen. Er befreite sich, sprang auf, rannte mit ihm um die Wette, rollte mit ihm im Sand, warf noch einmal Stöckchen und musste lachen. Sie sah ihm zu und stellte fest, dass er doch nicht so ein Kotzbrocken war. Einen Moment vergaß er Ärger, Vorsicht, Zweifel und spielte. Schließlich setzte er sich hin, schüttelte den Kopf, versuchte sich und sein Haar etwas zu entsanden, beruhigte den Hund. „Jetzt ist genug. Aus! Sitz!“
Er sah die Frau an: „Ich bin Fabien. Die meisten nennen mich allerdings Chip, ist mein Spitznamen.“
„Chip? Wie kam es dazu?“
„Wenn ich das wüsste! Freunde fingen damit an und es blieb an mir haften. Och, irgendwie passt es zu mir.“
Sie lächelte. „Sehr erfreut, mein Herr. Du magst Hunde wirklich. Und sie dich.“
„Ja. Sieht so aus.“
Sie malte mit ihren Fingern Muster in den Sand und genoss die friedliche Stimmung zwischen ihnen. Wer weiß, wie lange sie anhielt. Sie sah ihm in die hellen grünen Augen oder betrachtete sein Profil. Das war keiner von diesen hübschen und doch faden Strandboys. Er wirkte nicht oberflächlich. Im Moment war er angenehm. Aber sie wusste, dass sich das schnell ändern konnte. Er war ein interessanter und nicht einfacher Mann.
Sie sahen beide zu dem dunklen Umriss am Ufer. Es schauderte ihn. Von weitem war eine Sirene zu hören. „Die Flics“ Er schnitt eine Grimasse. „Da kommen sie.“ Das Geräusch wurde lauter. Zwischen den Dünen, bei einem befahrbaren Durchgang brachen Fahrzeuge durch. Keine Service-Fahrzeuge, nicht die Müllabfuhr oder die Sanität. Die Polizei. Er stand auf und rannte los. „Bleib mit dem Hund hier.“ Der angenehme Moment war verflogen.
Sie hatte Lyria festgehalten und sah, wie er die Fahrzeuge zu der Stelle winkte und wartete. Einer stellte Fragen, machte Notizen und ließ Fabien gehen. Als er wiederkam hatte er wieder sein verdrießliches Gesicht. „Du magst die nicht.“
„Nein. Du etwa? Meistens hat man doch nur Ärger mit den Jungs. Wer mag die schon. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich habe denen gesagt, was ich wusste und was ich nicht wusste, die Personalien angegeben und soll vorläufig verfügbar bleiben. Das übliche. Aber ich hoffe, ich höre nichts mehr von ihnen.“
„Du kennst das?“
„Wieso? Wegen meiner Aufzählung? Oder weil ich sagte: das übliche? Wieder legst du einfach etwas in meine Worte hinein. Schaust du keine Krimis? Es könnte aber auch sein, dass ich es aus eigener Erfahrung kenne. Du hast es mit einem Räuber zu tun. Sieh dich vor.“ Er spottete und sie schwieg diesmal.
„Das hier scheint mächtig spannend für dich zu sein, dass du immer noch hier bist.“
„Du hast gesagt, ich soll hier bleiben.“
„Oh … aha. Auf einmal hörst du auf mich?“ Er stichelte, merkte es jedoch selbst früh genug. „Nein, lassen wir das, sonst kriegen wir uns in die Haare. Wohnst du in der Nähe?“
„In der Pension „Etoile Rouge“. Das ist nicht weit von hier.“
„Dass es nicht weit ist, brauchst du mir nicht zu sagen. Das weiß ich. Vergessen? Da bin aus meinem Zimmerfenster gesprungen, weil mir danach war. Seit ein paar Tagen wohne ich dort.“
„Das ist deine Art, ein Haus zu verlassen?“
„Es gibt mehrere Arten, das zu tun. Manchmal. Es bot sich an. Unten der weiche Sand und …“
Er stutzte – ihm war etwas aufgefallen -, er dachte an den Anhänger, an den Stein des Bandes, an die Sternenform, an … „Weißt du, weswegen die Pension einen solchen Namen trägt?“
Seltsam die Frage auf einmal. Sprunghafte Gedankengänge.
Sie reagierte leicht zögerlich mit ihrer Antwort, so als wäge sie ab, was sie sagen wollte und was nicht. Ihr fiel auf, dass ihn daran etwas besonders beschäftigte. „Nein. Ich bin heute erst angekommen. Aber das ist bestimmt herauszufinden und es interessiert mich. Warum fragst du das so plötzlich?“
„Es fiel mir plötzlich ein. Darum.“
„Aufschlussreich Chip, sehr aufschlussreich. Wenn ich etwas erfahre, verrate ich es dir, wenn du willst.“ Sie musterte ihn noch einmal.
„Ich will frühstücken gehen. Es wird Zeit. Ich habe Hunger. Magst du mit mir zurückgehen oder verträgst du nach dem Fund nichts, weil dein Magen zu empfindlich reagiert?“
„Hör auf.“
„Womit?“ Musste sie das nun tun, wenn schon er etwas vernünftig geblieben war? „Mich zu reizen.“
„Reizmagen? Das ist bedenklich.“
„Es ist mir ernst.“
„Okay, okay. Langweiler!“
„Wie bitte?“
„Du gehst wegen jedem Kinkerlitzchen in die Luft.“ Sie lachte und er wehrte sich gegen das Bedürfnis, sie zu packen und ihr eine kleine Lektion zu erteilen von wegen Langweiler. Am meisten jedoch wehrte er sich gegen sein aufkommendes Begehren. Er wollte es nicht und doch ließ es seine Augen glitzern. Er hasste es. Er hasste sein Feuer, manchmal, nicht immer, heute wohl, und seine Wirkung. Schroff fuhr er sie an: „Ich bin nicht an dir interessiert.“
„Oh ja, das sehe ich.“
„Marie, lass es! Lass es um Himmels Willen sein!“
„Ich muss dich enttäuschen. Wenn du denkst, du bist der einzige Rebell hier, liegst du falsch. Ich tu’ und lasse und denke und rede, was ich will. Keiner hat mir zu sagen, was ich soll und nicht soll und du schon gar nicht! Ich habe es dir schon einmal gesagt. Lass es endlich bleiben.“
Sie sah ihn kampfeslustig an und steigerte damit sein Verlangen. „Was versprichst du dir davon? Warum gehst du so schnell ran? Das ist nicht normal.“
„Du willst mir Maßstäbe setzen, was normal ist und was nicht? Wir haben in dem Punkt wie in anderen sehr unterschiedliche Ansichten.“
„Bist du dauergeil?“ Es war nahe daran mächtig zu krachen. Sie vergaß die angenehmen Aspekte. Er war zu schwierig. Ungehobelt. Der war nichts für sie. Sie war wütend und musste sich sehr zurück halten, atmete tief ein und aus, bevor sie darauf antwortete. „Willst du eine gelangt? Bist du darauf aus? Oder was ist es? Sieh dich an. Nach unten. Schau, wie du reagierst oder auch nur in dich hinein, dann frag mich noch einmal. Das bin nicht ich. Es hat noch nie jemand so auf mich gewirkt wie du das tust. Entschuldige, wenn ich dir zu direkt bin. Wir kennen uns nicht und fordern uns gegenseitig dauernd heraus. Verrückt. Es ist besser, wenn wir uns aus dem Wege gehen. Was weiß ich, was sonst geschieht. Genieße den Tag Fabien und vergiss den Morgen.“ Sie wandte sich ab. „Komm Lyria.“
Wer war diese Frau, die auf einmal wie ein Ereignis in sein Leben einfuhr? Er räusperte sich und fand, dass er sich albern benahm. Sie hatte Recht. Seine eigenen Reaktionen machten ihm Probleme. Er mochte, dass sie sagte, wie es war. Außerdem fühlte er sich in ihrer Nähe nicht nur herausgefordert. Da war mehr. Unangenehm war es nicht. „Hey, es war nett, dass du mit mir gewartet hast.“
„Nett? Was für ein Wort aus deinem Munde. Zwing dich nicht zu Floskeln. Das passt nicht zu dir.“
Fabien seufzte. „Dir kann man es nie recht machen. Und außerdem - Woher willst du wissen, was zu mir passt und was nicht?“
„Wieder Herausforderung. Woher weiß ich es? Ich taxiere, ordne ein und könnte dabei ganz falsch liegen. Stimmt. Entschuldige.“ Er musste lachen, ging an ihrer Seite zurück, auch wenn er bestimmt besser Bogen gemacht hätte. „Eine ziemlich explosive Begegnung.“
Sie lächelte. Was für eine Mischung. Der Mann war herausfordernd, sexy, gut aussehend und schien doch mehr im Kopf zu haben als ein nächstes Abenteuer. Es gefiel ihr. „Stimmt.“ Wieder überwogen die guten Dinge. Und er kämpfte die Gefühle, die bei ihrem Lächeln aufkamen nieder.
Sie saßen sich später im Speisesaal gegenüber. Um zu frühstücken war es nicht zu spät. Sie waren ziemlich früh morgens unterwegs gewesen. Sie mochte Frühstück. Es zauberte eine entspannte Ambiance. Aber entspannt mit ihm am Tisch?
Draußen bewegten sich die Bäume selbstverständlich im Wind, die Sonne fragte keinen um Erlaubnis zu scheinen und er brauchte keinen anzutippen, um den zu löchern, ob seine Existenz eine Berechtigung hatte oder nicht. Er saß hier. Das reichte. Vis-à-vis diese in jeder Hinsicht und in jeder Bedeutung des Wortes aufregende Frau. Er versuchte leichte Konversation zu machen und Café und Croissants zu genießen. Zum Teufel, er benahm sich nicht normal. Die Spannung zwischen ihnen stieg an. Ein Wort, ein Blick, eine Geste und es war soweit. Die Worte platzten aus ihm heraus. „Was willst du von mir Marie?“
„Nichts.“ Er war sich nicht sicher, ob ihr Erstaunen echt war. Es gab Verlogenheit, Heuchelei, List, Tücken. Die Frauen waren damit gut ausgestattet. Sie war eine davon. Am Ende wurde er in die Pfanne gehauen und bei lebendigem Leibe gebraten. Es ärgerte ihn. Der gute Moment schien tatsächlich vorbei.
„Bist du zufällig hier oder hat dich jemand auf mich angesetzt? Bleib bei der Wahrheit. Das ist im Umgang mit mir zu empfehlen, sonst landest du eines Tages angeschlagen auf dem Boden und wunderst dich, was geschehen ist.“
Was war jetzt wieder los? Sie hätte sich beinah an einem Bissen Brot verschluckt, spülte ihn mit einem Schluck Café runter, räusperte sich und betrachtete ihn mitleidig.
„Leidest du unter Verfolgungswahn? Wenn ja, solltest du dich behandeln lassen. Das kann gefährlich werden. Außerdem solltest du dir bei dieser Gelegenheit dein Gift mit entfernen lassen. Es erschwert dir dein Leben und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich denke nicht, dass du so viel Bedeutung hast. Ziemlich eingebildet oder krank. Meine Diagnose. Ich muss ausrechnen, was ich dafür verlange.“
„Und? Was tust du hier?“
„Was du?“
„Du weichst aus, wenn solche Fragen kommen. Sicheres Zeichen, dass etwas nicht stimmt. Was ich hier tue, ist meine Sache und geht dich nichts an.“
Sie schüttelte sorgenvoll den Kopf. Die Stimmung war endgültig gekippt. Dem war nicht zu helfen! Was tat sie hier mit dem Proleten am Tisch? Um solche hatte sie bisher weite Bogen gezogen. Doch an diesem war etwas anders. Ob es sich lohnte, herauszufinden, was anders war? Vielleicht besser nicht.
„Ja Fabien. Warum ich hier bin, was ich tue und lasse, geht dich nichts an. Ich breite nicht vor jedem dahergelaufenen Flegel meine Lebensgeschichte und meine Projekte aus.“
„Das ist typisch für Euch dumme Weiber. Ausflüchte, noch und noch und immer wieder.“
„Solltest du nicht dein Frauenbild überdenken?“
„Nichts Neues.“
„Lass deine Macho-Sprüche! Damit lockst und beeindruckst du mich nicht. Ich bezweifle das Bild von dir, das du mir vermitteln willst. Das bist du nicht. Du spielst etwas vor und trägst Masken und erzählst mir alle naselang wie direkt du angeblich tickst. Wo? Ich sehe es anders und lasse mich nicht veralbern. Du bist durchschaubar. Dein Gepolter ist nichts als Show. Lass es!“
„Ich sage, was ich will und wie ich es will. Klar?“
„Aber ja, das steht dir zu. Nun spielst du den pubertierenden Trotzkopf. Wenn es dir Spaß macht, bleib dabei. Was lässt du dir einfallen? Ich bin gespannt. Hast du doch mehr zu bieten oder bleibt es dabei? Das könnte auf die Dauer langweilig werden.“
Ihre Augen blitzten nicht weniger als seine. Sie teilte aus. Das geschah, wenn sie sich genug geärgert hatte. Dann konnte sie sehr bissig werden und sie fuhr ihre Krallen aus.
„Wer ist denn hier nun eingebildet?“
„Deine Nase siehst du schlecht. Stimmt. Die sitzt ungünstig, das gestehe ich dir zu. Lass sehen … ein langer Zinken ist es nicht. Benehmen kennst du nur vom Hören sagen. Daran musst du arbeiten. Dir Schliff geben. Das rate ich dir. Dann wird etwas aus dir.“
„Ich muss? Ich muss gar nichts. Vortrag beendet?“
„Das gefällt dem Herrn nicht? Soll ich dir stattdessen zu Füssen liegen und dich dümmlich anschmachten? Ist es das, was du dir von einer Frau erhoffst? Ziemlich erbärmlich und kein Wunder, dass du nicht fündig wirst. Mein Interesse an dir ist bei null angekommen. Das verdirbt dir alles. Schade eigentlich. Es gibt gute Ansätze. Aber bei diesen Ansätzen bist du stehen geblieben.“
„Das …“
„Ja? War noch etwas?“
„Es reicht du Tusse! Eine Zicke, wie sie im Buch steht. Musste ich heute Morgen ausgerechnet auf dich stoßen?“
„Nun also wieder die primitive Tour. Die kenne ich bereits. Nichts Neues.“
Er sprang auf und wischte mit einer heftigen Armbewegung alles vom Tisch, was da stand. Er sorgte dafür, dass das meiste davon in ihrem Schoss landete, polterte in Richtung Türe, beschleunigte, floh aus dem Raum in sein Zimmer und ließ alle Türen knallen, denen er habhaft wurde. Abgang nach seinem Gusto. Es versöhnte ihn und er lachte, sein Ärger verrauchte. Nein, die war nichts für ihn. Selbst Spaß war bei so einem eingebildeten Weib nicht möglich.
Marie räumte so gut sie konnte auf, brachte die Überreste des Geschirres zur Küche, übergab es dort, entschuldigte sich, obwohl sie es nicht verursacht hatte und ging ebenfalls. Sie war wütend und sah diese Angelegenheit nicht als erledigt an.
***
In der Küche schüttelte Arnaud, der auf den Lärm hin aus dem Büro geeilt war, um einzugreifen, wenn einer Krawall machte, den Kopf und versuchte, den aufgebrachten Koch, Jean und vor allem seine Frau zu beruhigen.
Sie beide saßen sich später bei einem Café gegenüber. Mireille sah ihren Mann an. „Du bist dir ganz sicher?“
„Ja. Es besteht kein Zweifel.“
„Ich sehe keinerlei Ähnlichkeiten.“
„Das täuscht. Warte ab. Ich gebe zu, dass es nicht einfach ist. Manieren hat er keine guten - manchmal. Zugegeben. Ich habe mich erkundigt und weiß, dass es schwierig mit ihm ist. Es war wichtig ihn zu finden. Lass uns Zeit. Ich möchte nicht so schnell aufgeben, nur weil er als Flegel erscheint.“
„Als Flegel erscheint ist gut. Er ist ein Flegel. Keine Manieren hat der Kerl. Ich habe ihn bisher nicht anders erlebt.“
„Die hat ihm keiner beigebracht.“
„Oder er ist resistent.“
„Für Erziehung ist er zu alt.“ Arnaud schmunzelte. Da sah sie es - in seinem Schmunzeln. Trotzdem hatte sie Zweifel. „Was versprichst du dir davon?“
„Ich will ihn kennen lernen und vielleicht … ach, wohin es schließlich führt, weiß ich nicht.“
„Mir reicht das Bisherige“
„Ich bin überzeugt davon, dass da mehr ist.“
„Na Mahlzeit!“
„Nein, das meinte ich nicht -, nicht nur Unangenehmes. Bestimmt. Geduld liebe Mireille. Ich bitte dich darum, so schwer es ist. Wenn es soweit ist, wird es sich zeigen. Ich denke nach wie vor, dass es sich lohnt. Bitte, lass es mich versuchen...“
„Wenn der so weiter macht, dreh ich eines Tages durch. Was dann geschieht kann ich nicht steuern. Ich hatte noch nie solche Gelüste ...“
„Wenn er übertreibt, stoppe ich ihn. Dazu bin ich in der Lage.“
Sie seufzte und sehnte sich nach der bisherigen Ruhe. Sie konnte Arnaud zwar verstehen und wollte ihm die Chance einräumen, aber sie hatte es sich einfacher vorgestellt und nicht mit jemandem gerechnet, der so einen Wirbel in ihr Leben brachte. Arnaud war es vielleicht zu ruhig. Zuerst, als er angekommen war, hatte sie gedacht. „Was für ein schöner Junge!“ Aber sein Verhalten war anstrengend. Er war wild und frech wie sie noch keinen erlebt hatte.
Sie ging an ihre Arbeit zurück, besprach mit dem Koch die Rezepte und bereitete alles für den Mittag vor. Sie mochte die kleine Pension, war zufrieden mit dem, was sie damit gewannen. Es reichte gut zum Leben. Manchmal fragte sie sich, ob sie Arnaud so gut kannte, wie sie es bisher gedacht hatte.
Was ihr Mann vor einigen Wochen herausgefunden hatte, begann ihr Leben zu verändern. Sie sah in Richtung des Hauses, um das es ging, um die Familie, die Geschichte. Es war von hier aus nicht zu sehen. Da lebte eine Vergangenheit, die begonnen hatte, nach ihnen zu greifen. Sie fragte sich, wozu das gut war. Sie hätte es lieber gehabt, wenn sie nie aufgetaucht wäre. Eifersüchtig darauf war sie nicht. Sie hatte mit denen dort drüben nichts gemeinsam. Auch Arnaud nicht. Ja gut, es wäre schön gewesen, wenn … aber doch nicht dieser Flegel! Vielleicht war sie ungerecht. Sie nahm sich vor abzuwarten und zu dulden, Arnaud zuliebe.
***
Fabien schmunzelte. Es war für andere bestimmt nicht lustig, wie er sich verhielt. Der Traum jeder Schwiegermutter stellte er nicht dar – eher Albtraum. Er riss sich sein Zeug runter und ging unter die Dusche. Trotziges Kind? Na und!
Wieder sah er die Leiche vor sich und es schauderte ihn erneut. Er duschte lange. Sand und Salz hatten sich auf seine Haut gelegt – eine Schicht gebildet. Doch schlimmer war der Anblick. Den wollte er wegschrubben, wegspülen. Der blieb in seinen Gedanken haften. Was hatte die Frau gedacht, als jemand ihr Leben ausgelöscht hatte? Oder hatte sie nichts mehr gedacht, nur Schmerz und Angst gefühlt? Es war kein Unfall gewesen. Die Verletzungen, die er gesehen hatte, deuteten auf etwas anderes, auch wenn gerade er darin kein Experte war. Vielleicht war sie tatsächlich die Vermisste aus der Zeitung. Er erinnerte sich weder an den Namen noch an die Beschreibung. Und nun? Die Gegend erkunden? Ausfahren? Trainieren? Nein, das ging nicht. Seine Maschine war nicht hier. Er wusste nicht wie es kam, dass er hier war, warum er hier war. Er war eingeladen. Die Rechnung ging auf den, der einlud. Aber er konnte sich keinen Reim auf nichts machen und es zeigte sich keiner, der sich zu erkennen gab. Er trocknete sich ab. Im Grunde war er ein Idiot. Er ließ sich auf alles ein, selbst wenn er nicht wusste, worauf. Neugierig war er schon immer gewesen.
Vielleicht stand morgen etwas über die Tote in der Zeitung. Er sah ihr Gesicht vor sich. Ihre Augen ließen ihn nicht los. Warum war ihr das angetan worden? Ach, was ging es ihn an. Natürlich hatte er es melden müssen. Wer weiß, wer sonst noch darüber gestolpert wäre. Aber an sich vermied er Kontakte mit den Behörden, wenn es möglich war. Sie mochten ihn nicht und er sie noch weniger.
Sein Aufenthalt hier. Seines Wissens hatte er an keinem Wettbewerb teilgenommen, nirgends an einer Ausstellung für Motorräder einen Wisch ausgefüllt. Ab und zu schickte ihn der Chef zu einer Messe, weil er sich auskannte, Kontakte hatte und gut verkaufen konnte. In diesen Kreisen kam Fachwissen gut an und das besaß er. Aber ihm war nichts bewusst. Und unter Gedächtnisschwund litt er bisher nicht. Neugierig war er angerückt, hatte sich eingelebt, auf den Putz gehauen, einige genervt und hatte nirgends etwas Bekanntes oder Verdächtiges wahrgenommen. Keine Hinweise. Nichts. Wurde er beobachtet? Die Leiche. Davon war in der Einladung keine Rede gewesen. Er grinste. Ein Kriminalspiel, in dem er mitwirken sollte und die Leiche nicht echt? Er sah sich um. Versteckte Kamera? Filmteam irgendwo? Verstecktes Mikrofon oder seltsame Gestalten? Alles ein Spiel? Nichts deutete darauf hin. Mist! Das hätte ihm Spaß gemacht. Aber die Leiche war echt. Spiel konnte das nicht sein. Oder der Fund heute Morgen gehörte nicht dazu. In was war er geraten?
„Hey Du, Unbekannter. Nicht mit mir. Ich bin kein Schaf, das sich abschlachten oder irgendwo hin dirigieren lässt. Sieh dich vor. Wer es mit Chip zu tun bekommt, wenn er sauer ist, der hat schlechte Karten.“
Er reckte sein Kinn kämpferisch vor, nahm Kampfhaltung ein und schaute grimmig in alle Richtungen. „Wo bist du? Zeig dich! Was bezweckst du?“ Er vollführte einige Karate Kicks und Drehungen „Schau her und pass auf!“
Auf einmal schepperte es. Eine große Vase war zu Bruch gegangen. Er schob die Teile kurzerhand unter das größte Möbel und wischte die Pfütze auf, die entstanden war. Die Blumen stellte er in ein anderes Gefäß und dieses wieder dorthin, wo zuvor die Vase gestanden war. Er hatte keine Lust zu beichten. Jetzt nicht. Die Putzfrau fand es, wenn sie ihre Arbeit richtig erledigte. Wenn nicht, war sie schlampig. Und was sie über ihn dachte, war ihm egal. Beinah hätte er sich umgesehen, ob ihn jemand beobachtet hatte, dabei war er hier doch in seinem Zimmer. Wer hätte das nun sein sollen? Also litt er an Verfolgungswahn. Das konnte heiter werden. Marie hatte ihn durchschaut. Sie meinte sowieso ihn zu kennen und alles zu wissen. Wie sie sich aufgespielt hatte! So etwas hatte er gerade nötig!
Heute Morgen hatte er seinen Körper gespürt, seine Muskeln. „Ich bin in Form. Also überlege dir gut, was du tust!“
Wenn ihn einer so hörte und sah, dachte er mit Recht, er sei ein Verrückter und aus einer Anstalt ausgebrochen. Er lachte. Vielleicht war er endgültig Gaga geworden oder war es schon immer gewesen.