Читать книгу Die Falkner vom Falkenhof - Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem - Страница 10

Kapitel 8

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Die junge Herrin hatte die erste Nacht auf dem Falkenhof unruhig zugebracht. Sie lag unter den schweren Damastvorhängen ihres großen Bettes und konnte doch nicht schlafen; als aber die Müdigkeit gegen Morgen ihr die Augen schloss, hatten seltsame Träume ihr den Segen dieser kurzen Rast geraubt.

Sie war endlich spät am Morgen erschreckt emporgefahren und bedurfte einiger Zeit, sich zu sammeln und sich zu sagen, dass sie wirklich und wahrhaftig geschlafen und geträumt, und nicht, nach der Manier überspannter Leute, Geister gesehen hatte. Und doch, sie hätte darauf schwören mögen, da sich die Täfelung dort an der Wand, die die Bücherei von dem Schlafgemach trennte, verschoben hatte, und durch die entstandene Öffnung die „böse Freifrau“ getreten war, ganz so, wie sie auf dem Bilde zu sehen war, dass die schöne Ahne an ihr Bett getreten und sie geküsst und ihr zugeflüstert hatte: „Ich grüße dich, Dolores, Erlöserin! Ich werde bei dir sein, bis es erfüllt ist!“ – Dann hatte sie noch einen Kuss auf ihre Stirn gedrückt, einen langen, innigen Kuss, den Dolores bei der Erinnerung daran mit leisem Schauern fühlte, und war die Bettestrade hinabgeschritten, direkt auf ein kleines Madonnenbild zu, das über dem Betstuhl am Fußende des Bettes hing. Auf das Bild hatte sie lächelnd gedeutet und die eine Stelle des Rahmens mit der Hand berührt, dann hatte sie diese Hand zum Gruß für Dolores geküsst und war desselben Weges gegangen, den sie gekommen.

Etwas verwirrt von der Lebhaftigkeit dieses Traumes erhob sich Dolores und kleidete sich an. Drüben im Turmzimmer stand schon ihr Frühstück bereit, das Mamsell Köhler selbst zierlich arrangierte. Beim Durchschreiten der Bildergalerie warf Dolores einen forschenden Blick auf das Porträt, das sich ihr so lebhaft eingeprägt, dass sie sogar davon geträumt – die „böse Freifrau“ lächelte ebenso traurig daraus herab wie gestern.

Mamsell Köhler schien sehr erfreut, ihre Herrin heil und gesund wiederzusehen.

„Ich hoffe, gnädige Baronesse sind durch nichts belästigt worden“, sagte sie forschend und schüttelte erstaunt ihre grauen Löckchen, als sie hörte, dass keine Geister die Nachtruhe der Herrin vom Falkenhof gestört.

„Haben doch auch angenehm geträumt?“, setzte sie ihr Examen fort.

Dolores bejahte es nach einem Moment des Überlegens, denn böse war ja ihr Traum nicht gewesen – sie war geküsst und angelächelt worden.

Nach dem Frühstück kam Engels, und mit ihm arbeitete sie ein paar Stunden unausgesetzt, um sich über den geschäftlichen Teil des Falkenhofes zu informieren und Reformen ins Werk zu setzen, die Engels von dem eigensinnigen Freiherrn nie hatte erlangen können. Dann besuchte sie mit ihm die Wirtschaftsgebäude und besichtigte das Inventar des Hauses, hier den Leuten des Hofes oder ihrer persönlichen Dienerschaft Geschenke verteilend, dort ein freundliches Wort sprechend, bei allen aber die Ahnung an eine kommende gute Zeit hinterlassend.

Endlich, gegen Abend ließ sie sich bei Frau Ruß melden, die sie kühl und zurückhaltend, wie es nun einmal ihre Manier war, empfing, wogegen das Benehmen des Doktors nicht herzlicher und entgegenkommender sein konnte. Dolores empfand durchaus keine Antipathien gegen den Mann ihrer Tante, der sich ihr aufs Freundlichste als „Onkel“ empfahl, und sie schätzte das reiche Wissen des stattlichen Mannes sehr, außerdem aber war sie selbst eine viel zu ehrliche und aufrichtige Natur, um sich vorzustellen, dass von der Herzlichkeit des Doktors nicht alles Gold war, was da glänzte. Ruß hingegen war sich des Vorteils durchaus nicht unbewusst, den seine glänzenden Gaben ihm vor Dolores einräumten, und er beschloss, sich diesen Vorteil zunutze zu machen.

„Ich hoffe, dass, da Sie uns gestattet haben, den Falkenhof bis auf Weiteres zu bewohnen, wir auch recht gute Freunde werden“, sagte er in seiner sanften, leisen und sympathischen Art. „Wenigstens wäre das Gegenteil für beide Teile höchst unerquicklich und fatal.“

„Sie müssen nicht von Erlaubnis sprechen“, erwiderte Dolores, und einem ihrer raschen Impulse folgend, schlang sie ihren Arm um den Hals der Frau Ruß und küsste die Wange der kalten Frau. „Ginge es nach mir, so wärst du heute Herrin im Falkenhofe, liebe Tante, aber dein Sohn hat es nicht gewollt, und er hat mir sehr weh damit getan.“

Frau Ruß wechselte mit ihrem Manne einen bedeutungsvollen Blick.

„Gutes Kind“, sagte sie, Dolores die Hand drückend, und das meinte sie wirklich so, wie sie es sagte, in ihrer kalten, harten Weise.

„So bleibt mir nur, den Falkenhof gut und im Hinblick auf deines Sohnes Deszendenz zu verwalten“, fuhr Dolores fort, „und das will ich treulich tun, bis mein Tod die Annahme des Erbes seinem Stolze nicht mehr widerstrebt!“

„Nun, mein seliger Schwager hat ja noch einen anderen Weg zur Ebnung dieses Streites gebahnt und angedeutet“, bemerkte Doktor Ruß.

„Je weniger wir von diesem Wege sprechen, desto besser“, entgegnete Dolores ruhig, aber sehr fest, obgleich sie es nicht hindern konnte, dass ein heißes Erröten sich dabei über ihr Antlitz ergoss.

Natürlich bemerkte Ruß auch das und registrierte es in den Annalen seines Gedächtnisses. Es wurde nun verabredet, die Hauptmahlzeit des Tages, das Diner, gemeinschaftlich im Speisesaale des Südflügels einzunehmen und sich zum Tee abends bei Dolores einzufinden.

„Ich hoffe dabei viel von Ihren reichen Kenntnissen zu profitieren“, sagte sie zu Doktor Ruß, und dieser erwiderte sofort: „Da können wir uns ergänzen, denn ich liebe die Musik leidenschaftlich, und namentlich übt Gesang einen großen Zauber auf mich aus!“

„Va bene“, rief Dolores munter. „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“

Mit der ihr eigenen Lebhaftigkeit machte sie sofort ihre Arrangements und bestimmte den großen Balkon des Rokokosalons zu dem Raume, in dem an schönen Abenden der Tee genommen werden sollte, während die Bildergalerie an trüben und kühlen Tagen zu diesem Zwecke dienen sollte, denn das Turmgemach reservierte sie sich als Buen Retiro, während der Salon allein der Musik geweiht werden sollte. Sie erließ sofort ein Schreiben an Ramo und beauftragte ihn, ein bewegliches Tee-Ameublement anzukaufen zum beliebigen Aufstellen auf dem Balkon oder in der Galerie, und bestellte für diese selbst Etablissements, Blumentische und Konsolen mit Figuren in Elfenbeinmasse darauf, „die wir später mit schönen Marmorbüsten vertauschen können“, sagte sie sich, als sie diese Vorbereitungen zur Wohnlichmachung der leeren und öden Galerien getroffen.

Dann, nach einem kurzen Nachsinnen, setzte sie abermals die Feder an und schrieb an den Professor Balthasar.

„Wenn Sie, teurer Freund, mit Ihrer so werten und lieben Gemahlin noch nicht wissen sollten, wohin Sie diesen Sommer zur Erholung gehen, so kommen Sie hierher, kommen Sie als meine hochwillkommenen Gäste auf den Falkenhof. Sie müssen dabei bedenken, dass Sie damit ein gutes Werk tun, denn ich bin nicht mehr ganz ich selbst, seitdem ich mich hier befinde. Nicht, dass mich das Erbe selbst aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, ich schätze Geld und Gut dazu nicht hoch genug, aber, aber werter Freund, es gibt doch Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen lässt, und von denen ich früher nichts geahnt – kurz, ich sehne mich nach Ihrer, dem Dasein Inhalt verleihenden Gesellschaft, nach Frau Annas herrlichem Gleichgewicht und der Liebenswürdigkeit, die sie Ihnen und anderen zum Schatze macht. Die Schönheiten des Falkenhofes, seine herrliche grüne Waldeinsamkeit brauche ich Ihnen nicht lockend zu schildern, die kennen Sie schon, und so bemerke ich nur, dass Ihre Künstlerseele auch noch in einer Menge von Porträts von Kneller, Holbein, van Dyck, Pesne und wie sie alle heißen, schwelgen kann, wenn es ihr beliebt notabene. Schreiben Sie nur, ob Sie kommen und wann!

Dolores.“

Es war spät, als sie endlich müde, nachdem sie eine Menge Briefe geschrieben, in ihr Schlafzimmer trat. Heute werde ich gut schlafen, dachte sie, als sie ihr Haar löste und dabei die Abwesenheit Terezas bedauerte, die es so gut verstand, die goldigen Massen zu glätten. So gut es ging, versuchte sie selbst mit der Bürste Ordnung in die bis ans Knie reichenden, sich rebellisch kräuselnden Haare zu bringen und summte dabei leise ein Lied vor sich hin.

Mit einem Male aber ließ sie den Arm mit der Bürste sinken und hörte auf zu singen – der Traum der vorigen Nacht war ihr eingefallen. Unwillkürlich sah sie nach der Stelle, wo sie die „böse Freifrau“ hatte eintreten sehen, und schritt derselben zu, mit dem Lichte genau die Täfelung beleuchtend. Aber so genau sie es auch tat, sie entdeckte keinen Ritz, der auf eine eingefügte, geheime Tür hätte schließen lassen können.

Natürlich nicht, dachte sie, es war eben ein Traum, wie man ihn in solchen alten Häusern leicht träumt, da man sie ohne geheime Gelasse, Türen und so weiter nicht denken kann, schon des Reizes wegen, den solcher Humbug in unseren Tagen immer noch ausübt!

Und ihr Lied wieder aufnehmend, wendete sie sich von der Wand ab, überzeugte sich, dass die Türen innen verschlossen waren, und wollte die Bürste wieder ergreifen, als ihr Auge auf das kleine Madonnenbild fiel, auf das ihr Traum sie gewiesen. Wieder nahm sie den Leuchter auf und schritt darauf zu. In einem goldenen, spitzen, gotischen Rahmen mit kleinen Ecktürmchen und aufzumachender, durchbrochen gearbeiteter Tür war hier ein liebliches Madonnenbild über dem Betstuhl aufgehängt, und Dolores erkannte es sofort als eine uralte Kopie der „Madonna mit dem Stern“ des Fra Angelico, genannt „il Beato“ im San-Marco-Kloster zu Florenz – sogar der Rahmen war getreu nachgemacht mit seinem zierlichen Schnitzwerk. Die kaum einen Fuß hohe Gestalt der Gottesmutter steht auf goldenem Grunde, umflossen von zartrotem Gewande, umwallt von dem dunkelblauen, goldgesäumten Mantel, der auch ihr Haupt nonnenartig einhüllt. Das Haupt nach dem süßesten Jesuskinde, das je gemalt wurde, hinneigend, steht sie mit sinnendem Ausdruck in den überirdischen Augen, mit einem wunderbaren Zug von Schmerz, Trauer und halbem Lächeln um den lieblichen Mund, umflossen von der holdesten Anmut, dem keuschesten Liebreiz, und über ihrem Haupte flammt ein strahlender Stern – der Morgenstern für den Tag der Glorie, da Jesus, der Retter, kam, die Welt zu erlösen und die Macht des Todes zu brechen. Und wie malte Fra Angelico dieses göttliche Kind auf den Armen der Jungfrau! Es lehnt sein Köpfchen mit dem sinnenden Ausdruck an ihr Antlitz und berührt mit dem Zeigefinger der Linken ihr Kinn, als flüsterte er ihr zu vom Kreuz und von Golgatha und der Erlösung – –

Ja, nur Angelico da Fiesole, il Beato, war dazu berufen, wahrhaft göttliche Madonnen zu malen, und man weiß, dass er sie kniend, ein Gebet auf den Lippen, malte – all seine Epigonen malten nur schöne Mütter mit ihrem Kinde, selbst Raffael, der alle Hoheit und Majestät in seiner Sixtina verkörperte, aber nicht das Göttliche, das nur über den Madonnen des Florentiners schwebt. Tizian in seiner „Assunta“ hat einen Strahl dieser Göttlichkeit in der zur Glorie des Himmels mit ausgebreiteten Armen emporschwebenden Gestalt der Muttergottes verkörpert, doch soviel man auch sucht, man wird diesen Strahl bei späteren Meistern nicht mehr finden, außer vielleicht geteilt in dem wunderbar ergreifenden Muttergottesbilde Lefévres, und voll in der schlichten, rührenden Madonna Defreggers.

Dolores kannte die liebliche Madonna mit dem Stern wohl, sie besaß ja selbst eine moderne Kopie derselben, die ihre Mutter ihr als Riccordo di Firenze geschenkt – vor Jahren. Sie betrachtete lange das schöne Bild und schloss dann wieder die geschnitzten Türflügel des Rahmens. In ihrem Traume, da hatte die „böse Freifrau“ darauf gedeutet und das obere rechte Türmchen berührt, sie erinnerte sich dessen genau. Getrieben von einem wunderbaren Gefühl, das sie selbst nicht hätte bezeichnen können, trat sie auf das Kniepult des Betstuhles und berührte das Türmchen, indem sie es vorsichtig zu bewegen versuchte – es gab nicht nach. Ob es sich drehen lässt? dachte sie. Nein, es rührte sich nicht nach rechts und –

Sie trat mit einem Male erblassend von dem Kniepult herab, denn bei einer leichten Linksdrehung des Türmchens hatte es nachgegeben, und langsam drehte sich der Rahmen mit samt dem Bilde – eine kleine, in Angeln gehende Tür, die eine tiefe, sich nach innen erweiternde Nische maskierte.

Das war ja nichts Seltsames, denn dergleichen gibt's in alten Häusern, besonders in alten Herrenhäusern, die der Landstraße nahe liegen, genug, denn man musste seine Kostbarkeiten gut verbergen vor etwaigen Überfällen, besonders in der Zeit der schweren Not des Dreißigjährigen Krieges, wo wildes, hungriges Gesindel genug herumzog und manches einsame, nicht befestigte Landhaus brandschatzte. Aber wie sie diese geheime Nische fand, das machte Dolores für den Augenblick betroffen, doch schon im nächsten Moment überwand sie es.

„Zufall“, sagte sie sich und trat dem Versteck wieder nahe. „Was mag darin sein?“ – Sie leuchtete in den finsteren kleinen Raum – er war mit Backsteinen ausgesetzt, sein Boden mit Holz bekleidet. Es lag nichts darin als ein Buch, in roten Samt gebunden, und auf dem Buche lag eine runde Kapsel in der Größe einer großen Taschenuhr. Etwas zaghaft nahm Dolores beides heraus und trug es auf den Tisch vor dem Ruhelager, indem sie sich darauf niederließ. Erst nahm sie die Kapsel auf – es war ein schön gearbeitetes Stück von mit Kupfer legiertem Golde, bedeckt auf der Vorderseite mit einem kunstvollen Netze von erhaben gearbeiteten Arabesken, die als Früchte bunte Edelsteine und kleine Bündelchen oval geformter Perlen trugen. Es mochte italienische Arbeit sein, reinste Renaissance war es jedenfalls. Auf Dolores' Bemühen öffnete sich die Kapsel leicht – sie enthielt zwei sich gegenüberliegende Miniaturporträts, die sich wiederum an kleinen Angeln in ihren goldenen, kaum nadelbreiten Rahmen herumdrehen ließen und rückwärts auf Pergament geheftete Haarlöckchen nebst Namen zeigten.

Das erste Porträt stellte niemand anderen dar als die „böse Freifrau“ – es war eine Kopie des Bildes in der Galerie bis unterhalb des Kragens, nur dass hier das schöne Antlitz noch lieblicher aussah, da ein leichtes Lächeln den wunderschönen Mund umschwebte. Auf dem die Rückseite des Bildes deckenden Pergamentblättchen war mit blauer Seide ein goldrotes Haarlöckchen angeheftet, und ringsherum war in zierlicher Rundschrift mit Tusche gemalt: Maria Dolorosa, Freyfrau von Falkner, gebohrene Freyin von Falkner, anno domini 1618.

Das gegenüber, an der Rückwand der Kapsel angebrachte Bild zeigte einen schönen, wettergebräunten Männerkopf, um den eine Fülle schwarzen Haares nach der damaligen Mode sich bis auf den weißen, spitzenbesetzten Linnenkragen herablockte. Kühn blitzten die dunklen Augen, über dem stolzen Munde kräuselte sich ein feines Bärtchen – es war ein schönes Bild, und Dolores dachte, wie ähnlich ihm der Freiherr Alfred sei, nur dass dieser einen Vollbart trug und ihm die kleidsame Tracht jener Tage mangelte. Auf der Rückseite war dem Bilde mit roter Seide ein schwarzes Löckchen angeheftet, und darum stand die Inschrift: Lupold Freyherr von Falkner, Kayserlicher Reuter-Hauptmann, anno domini 1618.

Dolores sah lange auf diese zwei Bildchen nieder, die so lebensvoll und liebevoll gemalt waren, und manche Frage stieg dabei in ihr auf. Waren die beiden hier ein Ehepaar? Und für wen war diese Kapsel hergestellt worden? Wer war der Maler dieser kostbaren Miniaturen? Alles dies waren ungelöste Fragen, denn die sie hätten lösen können, waren längst gestorben oder – verdorben. Seufzend schloss Dolores die Kapsel, da gewahrte sie auf der glatten Rückseite derselben eine Gravierung – zwei brennende, mit einem Bande verknüpfte Herzen und darunter die Worte:

Das Band, das der Hertzen zwo Verbindet

Lös't keiner, ob auch das Leben Schwindet.

Jahrhunderte waren darüber hingegangen, „der Hertzen zwo“ hatten Ruhe gefunden – war es vielleicht die „alte Geschichte“ gewesen mit den beiden?

Dolores legte die Kapsel zur Seite und nahm das Buch, löste dessen goldene Klammer und schlug es auf – es war ein Missale mit vielen bunten, jetzt verblichenen Bändern als Buchzeichen, mit mühsam gemalten Initialen und Kopfleisten. Es war ein viel benutztes Gebetbuch, das sah man einzelnen der vergriffenen Blätter an; hatte sie daraus gebetet, die schöne, böse Freifrau? Doch da stand etwas geschrieben auf dem leeren weißen Blatt, das dem Titel angeheftet war. Es waren energische, steile und kleine Schriftzüge einer nicht ungelenken Hand, und Dolores las, nachdem sie sich daran gewöhnt, fließend folgendes:

Wenn sich die Bas' dem Vetter soll vermählen,

Wird sich der Falk' ein dauernd Nestlein wählen.

Die letzte Falkin muss in Schmerzen büßen,

die Grabesruh' der Ahne zu versüßen.

Wenn neu sie auflebt in der Huldgestalt,

die einst im Brautgewande ward gemalt,

Kann diese Falkin siegen ob dem Bösen.

Wird meine arme Seele sie erlösen,

Wird sie des Falken Herz zu sich bekehren,

Werd' ich der Engel Alleluja hören.

Dann ist ein tausendjährig Blühn beschieden

Dem Stamm der Falkner auf der Erd' hinieden.

Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,

So wird ihr Stamm erlöschen und verschwinden.

Geschrieben am St.-Johannis-Abend bei klarem Bewusstsein. Also hat Gott es mir gewiesen, auf dass ich nicht verzweifle, und mich hellsehend gemacht für eine Stund'.

Im Falkenhof, am 23. Juni a. d. 1620.

Maria Dolorosa, zwiefach verwittibte

Freyfrau von Falkner.

Die Falkner vom Falkenhof

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