Читать книгу Die Falkner vom Falkenhof - Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem - Страница 8

Kapitel 6

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Das ist eine traurige, schreckliche Stunde, wenn wir die irdischen Überreste derer, die wir geliebt, hinausgeleiten müssen zur letzten Ruhestätte unter dem grünen Rasen. Wem Gott noch diese Stunde erspart hat, der kann es auch nicht ermessen, wie es tut, wenn der Sarg, den liebende Hände mit Blumen geschmückt, hinausgetragen wird über die heimische Schwelle, wenn er langsam hinabgleitet in das frisch gegrabene Grab und so allmählich den Blicken entschwindet – für immer. Das ist fast der bitterste Augenblick bei dem bitteren Scheiden, das wir den Tod nennen, und doch werden wir geboren, um zu sterben, und keiner weiß, wann ihm sein Stündlein schlägt.

Als man den schweren eichenen Sarg des Freiherrn Gustav von Falkner hinabließ in die Familiengruft der Falkner, die so friedlich und schön dicht am „vielgrünen“, rauschenden Walde lag, da war es anders. Es hatte niemand den boshaften Krüppel geliebt, der jedem mit seiner bösen, scharfen Zunge eine Wunde beizubringen trachtete. Mit Hass und Rache im Herzen stand das Rußsche Ehepaar und sah dem hinabgleitenden Sarge nach. Ohne Trauer, aber auch ohne Groll stand Alfred Falkner neben ihnen. Der Tote hatte ihn als Kind erschreckt, als Jüngling eingeschüchtert und entrüstet, als Mann abgestoßen, dennoch aber hatte er ein viel zu großmütiges Herz, um kleinlich zu denken und Groll hinter dem Sarge des Mannes herzutragen, der im Grunde doch sein Wohltäter gewesen war.

Mit unbeschränkter Dankbarkeit im Herzen folgte ihm Karl Engels, aber dass er den Toten geliebt hätte, damit konnte er sich selbst nicht betrügen; denn Dankbarkeit und Liebe sind zwar Geschwister, aber auch solche gehen gern jedes seine eigenen Wege.

Als Fünfter in diesem kleinen Trauergefolge stand Justizrat Müller, der oft nahe daran gewesen war, seinem unleidlichen Klienten den Kram zu kündigen, und als Sechste und doch Erste, allen voran stand die Erbin des Falkenhofes, Dolores Freiin von Falkner, im schwarzen Kleide, den schwarzen Kreppschleier über dem prachtvollen, goldroten Haar und dem heute besonders marmorbleichen, klassisch schönen Antlitz, auf dem ein solch tiefer Ernst lag, dass Alfred Falkner vergebens den berückenden Satanella-Ausdruck darin suchte.

Wie oft hatte der Tote da unten sie „Teufelsbrut“ genannt, ein herzloses, boshaftes Ding, auf das er am liebsten die Hunde gehetzt hätte, wie oft hatte er den Zorn, den er für ihren Vater, und den Hass, den er für ihre stolze, indolente Mutter gehegt, an ihr ausgelassen und ihr alle Seuchen der Erde angewünscht – und heute stand sie als seine Erbin an der offenen Gruft, und ein wehes Gefühl ging durch ihr Herz, dass der liebesarme, reiche, böse Mann dort zwischen den feuchten, dumpfen Wänden ruhen sollte, anstatt unterm grünen Rasen, und dass keine arme kleine Blume von liebender Hand gespendet hinabfiel auf sein letztes, enges Haus –!

Es war vorüber, und die Leidtragenden sowie die Dienerschaft machten der Erbin Platz zum Hinausgehen. Allein schritt sie durch die Reihen, allein schritt sie voraus der Pforte zu, wo die Wagen hielten, auf fünf Schritt Distanz folgten ihr die anderen. Die Frau Doktor Ruß hatte sich bei der Herfahrt geweigert, mit der „Komödiantin“ zu fahren, sie hatte es so auffallend getan, dass in das bleiche Antlitz der Donna Dolores eine feine Röte gestiegen war – natürlich weigerte sie sich auch, an der Seite der Nichte zu den Wagen zurückzukehren, und da sie sich sofort auf den Arm ihres Gatten lehnte, so ward es diesem auch unmöglich, der Erbin den Arm zu reichen, des Anstandes wegen. Da es Alfred Falkner durchaus nicht versuchte, sich zum Sklaven derselben zu machen, und Engels in sehr richtigem Taktgefühl es nicht für seines Amtes hielt, so musste Donna Dolores allein schreiten, aber zwei Schritt hinter ihr folgte Senor Ramo Granza, ihr Sekretär, Verwalter und Kammerdiener in einer Person, der getreue Ramo, der sie als Kind auf dem Rücken getragen und sie niemals verlassen hatte.

Er war es, der ihr jetzt in den Wagen half und sich dann mit unveränderlichem Ernst auf dem Kutscherbock postierte, zum Ärger der deutschen Diener, die den „brasilianischen Affen“ schon vor Jahren, als er mit seiner Herrschaft nach dem Falkenhof gekommen war, zum Kuckuck gewünscht hatten.

So musste sie denn allein zurück, musste sie allein hinaufsteigen nach dem Bibliothekszimmer, wo der Freiherr vorher aufgebahrt gewesen war und wo jetzt das Testament verlesen werden sollte.

Während sie in dem für sie bestimmten Sessel Platz nahm, den Schleier zurückschlug und die Handschuhe von den viel bewunderten, herrlich geformten Händen streifte, musste sie an die Kindertage zurückdenken, die sie hier, in den Räumen des Falkenhofes, verlebte. Damals, in dem sorglosen Dahingleiten der Zeit, hatte sie denselben beherrscht durch das goldene Königstum früher Jugend, wo man die ganze Welt sein eigen nennt und speziell für sich geschaffen glaubt. Mit den Hunden um die Wette war sie durch die Kreuzgänge des Hauses und durch die schattigen Alleen des Parkes geflogen und hatte hellauf gelacht im kostbaren Übermut der Jugend, wenn sie dabei strauchelte und fiel; aber sie hatte auch gelacht, wenn sie bei der wilden Jagd jemand an- und umrannte. Was man anderen Kindern ihrem Frohsinn zugute hält, wurde ihr aber als Verbrechen ausgelegt, als der Vorsatz, andere zu schädigen, und aus Trotz und Übermut hatte sie sich nie verteidigt. Da gab es dann immer bittere Reden über die „Satansbrut“ und den „brasilianischen Teufel“, den man sich auf dem Falkenhof entschieden schwärzer dachte als den des Nordens. Zuletzt gefiel sich die Kleine darin, den Teufel zu spielen, und jagte einmal der Dienerschaft einen tödlichen Schrecken ein, als es ihr einfiel, sich einen ausgehöhlten Riesenkürbis mit gräulich ausgeschnittener Fratze über den Kopf zu ziehen und in dieser Toilette, einen roten Schal um die Schulter geschlagen, im Mondschein in den Kreuzgängen spazierenzugehen. Sie erinnerte sich noch deutlich, dass der Kürbis wohl leicht über den Kopf gegangen war, aber nicht wieder zurück wollte, sodass Ramo ihn erst aufschneiden musste, um sie von ihrem geborgten Schädel zu befreien. Und wie Dolores daran dachte, musste sie lächeln – es war ein ganz flüchtiges Lächeln nur, aber es wurde doch bemerkt, denn Frau Doktor Ruß sagte halblaut und entrüstet zu ihrem Sohne: „Hast du sie lachen sehen, die herzlose Person? Sie freut sich ihrer Erbschaft so, dass sie nicht einmal imstande ist, ihr Vergnügen in diesem ernsten Augenblick zu beherrschen, wie es die Sitte heischt!“

Alfred Falkner nickte – er hatte nur halb hingehört, aber das Lächeln hatte er auch gesehen, weil – nun ja, weil er die Augen nicht fortwenden konnte von dem bleichen Antlitz mit den tiefen dunklen Augen, von diesem Antlitz, das ihm so „antipathisch“ war, wie er dem Maler Keppler gesagt. Vielleicht sah er nur zu ihr hinüber, weil das Gesetz der „Anziehungskraft des Abstoßenden“ auf ihn wirkte – so erklärte er sich's wenigstens selbst.

So brach denn die sicher nicht an Herzüberfluss leidende Frau Doktor Ruß den Stab über die „lachende Erbin“, und damit tat sie nur, was alle Welt tut, die ja so gern nach dem Schein richtet, wenn die Wahrheit nichts zum Richten bietet. Vielleicht wäre die Frau Doktor noch empörter gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass Donna Dolores während dieser ernsten Stunde an einen ihrer Kinderstreiche, an einen Kürbis gedacht. Da war es schon noch besser, an eine reiche Erbschaft zu denken, denn das war doch wenigstens herzloser, wie es ja nicht anders von dieser „brasilianischen Person“ zu erwarten war. O über diese lieben Nächsten, die so gern für uns denken und stets bemüht sind, uns ihre eigenen niedrigen oder schmutzigen Gedanken unterzuschieben! Denn das sind weiße Sperlinge in der Gesellschaft, die ihre eigenen freundlichen und herzenswarmen Ideen auch anderen zutrauen!

Nur der Doktor Ruß beobachtete Donna Dolores scheinbar nicht. Er saß, das Haupt gesenkt, auf seinem Sessel und nickte manchmal seinen Gedanken Beifall zu. Seine Ruhe war durch die entschlüpfte Erbschaft nicht getrübt worden, wenigstens hatte niemand davon etwas gemerkt. Es war so recht der Moment für ihn, allen zu beweisen, wie uneigennützig er war und wie er sich der älteren Frau nicht aus Spekulation vermählt hatte. Im Gegenteil, er hatte die Tage vorher im Schoße seiner Familie, vor den Beamten und Dienstleuten die Vorteile eines Kunkellehens genau erörtert und bewiesen, wie viel gerechter ein solches sei als ein Majorat, und endlich die Interessen der Erbin warm verfochten. Was er wollte, hatte er damit bewirkt. Frau Ruß pries laut den edeldenkenden Sinn ihres Gatten. Alfred Falkner wusste nicht, was er von alldem halten sollte, denn er begriff die Motive seines Stiefvaters noch nicht, die andern äußerten sich beifällig über ihn, und der Justizrat Müller sagte sich in seinem Innern: Ich habe mich in dir getäuscht, Freund Ruß, und sage peccavi! Man denkt eben immer an solche Motive, wenn ein jüngerer Mann eine ältere Frau heiratet. – Sela!

Nur einer stimmte in den allgemeinen Lobgesang über den „herrlichen“ Doktor Ruß nicht ein, das war der alte Engels. Der strich sich seinen mächtigen Vollbart, kniff ein Auge zu und pfiff, wenn Doktor Ruß dozierte.

„Mir machst du keine Wippchen vor“, konnte man sich das leise Pfeifen ins Deutsche übersetzen.

Endlich, nachdem die Beteiligten in drückendem Stillschweigen eine Zeitlang in der Bibliothek gewartet, erschien der Justizrat mit dem Testament und nahm an dem für ihn in den Halbkreis gerückten Tischchen Platz. Nach den einleitenden Formalitäten erbrach er das Siegel, entfaltete das Dokument und begann zu lesen.

Es kamen, nach den einleitenden Worten des Erblassers, zuerst die bekannten Lehensbestimmungen zur Verlesung, an die der Genannte eine Ermahnung an seine Nichte knüpfte, den Falkenhof in Ehren zu halten und dem großen Besitz eine treue Verwalterin zu sein im Hinblick auf künftige Generationen. Hieran fügte er eine genaue Berechnung der jährlichen Einkünfte und überließ im übrigen alles den Falkenhof Angehende der Weisheit und Einsicht der Erbin, dieser den Wunsch ans Herz legend, den Verwalter, Herrn Engels, entweder in seinem Amte zu belassen oder aber entsprechend zu pensionieren.

„Ein Wort, Herr Justizrat“, unterbrach den Vortragenden hier die klare, deutliche Stimme der Donna Dolores. Sie hatte sich halb aufgerichtet und stützte sich auf die Armlehne ihres Sessels. „Steht es mir frei, zu jeder Stunde auf das Erbe des Falkenhofes ein für alle Mal zu verzichten?“

„Sicher, meine Gnädigste“, begann der Jurist, aber er wurde wieder unterbrochen.

„Gewiss steht Ihnen das frei“, ertönte die Stimme Alfred Falkners, „geradeso wie es mir freisteht, Ihren Verzicht ein für alle Mal zurückzuweisen.“

Dolores hatte sich halb erschreckt nach dem Redner umgewendet – sie wurde um einen Schatten bleicher und ließ sich wieder in ihren Sessel fallen.

„Ich danke“, sagte sie ruhig. „Wir finden wohl noch Gelegenheit, die beiden soeben aufgestellten Möglichkeiten zu erörtern. Wollen Sie die Güte haben fortzufahren, Herr Justizrat?“

Der Angeredete verbeugte sich und nahm sein Dokument wieder auf. „In Anbetracht dessen, dass mein Neffe, der Freiherr Alfred von Falkner, nunmehr der einzige Agnat des Lehens ist“, las er, „und meine Nichte, Dolores Freiin von Falkner, ihr Erbe schutzlos antritt, ohne den uneigennützigen Beistand eines nahen Verwandten, so halte ich dafür, dass es die beste Lösung wäre, wenn mein Neffe und meine Nichte, die gedachte Erbin und der Agnat des Lehens, sich miteinander vermählten. Ich empfehle beiden die Erfüllung dieses meines Wunsches auf das Dringendste.“

Hier hielt der Justizrat ein und sah sich im Kreise um. Doktor Ruß lächelte, seine Gemahlin wusste nicht recht, was für ein Gesicht sie machen sollte. Alfred Falkner heftete den plötzlich starr gewordenen Blick vor sich auf die Erde – die stark angeschwollene Ader auf seiner Stirn war das einzige Zeichen seiner inneren Bewegung. Donna Dolores selbst saß unbewegt in ihrem Sessel, auch sie verriet nur durch die zarte Röte, die ihr Antlitz urplötzlich bedeckte, dass sie gehört hatte.

Da der Justizrat keinen Einwand gegen den verlesenen Artikel hörte, so fuhr er abermals fort. Im Laufe seiner Bestimmungen hinterließ der Verstorbene seinem Neffen Alfred Falkner sein gesamtes, von dem Lehen unabhängiges Privatvermögen, von dem der Erbe an Engels und mehreren der langjährigen Diener des Hauses Legate auszuhändigen hatte. Es blieb ihm danach so viel, um einen anständigen jährlichen Zuschuss zu seinem Gehalt zu haben – freilich war derselbe kein Ersatz für die großen Einkünfte des Falkenhofes, die der Verstorbene niemals hatte verbrauchen können, aber anstatt sie zu sparen, wie es schließlich sein Recht gewesen wäre, zu dem lehnsfreien Vermögen geschlagen hatte.

Die Lesung war zu Ende, der Justizrat faltete das Testament wieder zusammen. Da erhob sich Dolores, dankte dem Sachverwalter für seine Mühe und trat vor Frau Ruß hin.

„Ich hoffe, liebe Tante“, sagte sie gewinnend, „dass du und dein Gemahl mir die Freude machen werdet, den Falkenhof so lange als eure Heimat zu betrachten, als es euch gefällt und ihr andere Anordnungen getroffen habt!“

Frau Ruß öffnete den Mund zu einer Entgegnung, aber der Doktor schnitt ihr das Wort ab. „Wir werden gern von Ihrer Güte Gebrauch machen, liebe Dolores“, sagte er in seiner milden, leisen Weise, indem er ihr die Hand bot.

Sie legte ihre Fingerspitzen leicht in dieselbe.

„Oh, Sie müssen es nicht so auffassen“, sagte sie freundlich, „es ist ja so natürlich, wenn Sie bleiben. Ich werde jetzt sehen, wo es sich am besten für mich wohnen lässt, und wenn Sie“, fuhr sie zu Alfred gewendet fort, „im Laufe des Nachmittags eine Stunde Zeit haben, Geschäftsangelegenheiten mit mir zu besprechen, so bitte ich um Ihren Besuch.“

Falkner verbeugte sich leicht.

„Ich stehe zu Befehl“, sagte er kühl, „obgleich ich glaube, dass Herr Engels in diesen Angelegenheiten besser bewandert ist als ich.“

„Vielleicht“, entgegnete sie ruhig. „Überdies bleibt mir für persönliche Dinge ja noch der schriftliche Weg, falls es Ihnen zu große Überwindung kosten sollte, diese mit mir zu besprechen.“

„Ich ziehe das letztere der Kürze wegen vor“, erwiderte er.

Sie wendete sich mit leichtem Gruß ab, aber die zarte Röte auf ihren Wangen war verschwunden. Was für ein Recht hatte dieser Mann, sie zu beleidigen? Er hatte sich ihr feindlich gegenübergestellt, noch ehe er wusste, wer sie war, denn dass es der Erbschaft wegen sein könnte, erschien ihr für einen Mann wie Alfred von Falkner unglaublich. Und doch –

Mamsell Köhler, die Beschließerin, machte einen solch tiefen Knicks vor ihrer neuen Herrin, dass diese, verloren in ihre Gedanken, fast über sie gefallen wäre.

„Ach, Fräulein Tinchen!“, rief sie freundlich, das kleine graue Hausgeistchen, das jetzt ein Trauerkleid trug, erkennend.

„Willkommen auf dem Falkenhof, gnädigste Baroness“, sagte sie, abermals knicksend – es war nächst dem stummen und warmen Händedruck Engels' bei ihrer Ankunft kurz vor der Beisetzung das einzige „Willkommen“, das Dolores gehört.

„Nun führen Sie mich, Fräulein Tinchen“, sagte sie, „und zeigen Sie mir den Falkenhof, damit ich sehe, wo ich wohnen kann.“

„Ei, eingerichtet ist alles“, meinte die Haushälterin, mit ihrem leis klirrenden Schlüsselbunde voranschreitend, „aber wenn ich der gnädigsten Baroness gut raten soll, da möchte ich mir die Freiheit nehmen und den westlichen Flügel vor schlagen mit dem Turmgemach, das an den nördlichen Flügel stößt. Da ist's im Sommer kühl und im Winter warm!“

„Gut, zeigen Sie mir die Räume“, erwiderte Dolores. Lautlos schritt Mamsell Köhler voran, den nach dem Hofe offenen Kreuzgang des südlichen Flügels entlang, und öffnete, in den Westflügel einbiegend, dessen erste Tür.

„Hier kommen wir nach den Zimmern der gnädigen Großmutter der Baroness“, sagte sie etwas leiser und ging voraus, die schützenden Fensterladen aufzustoßen.

Dolores warf noch einen Blick zurück und hinunter in den Hof mit dem plätschernden Brunnen, dann überschritt auch sie die Schwelle. Der Raum, den sie zuerst betrat, war ein Garderobengemach, mit schweren, tiefen eichenen Schränken rings um die Wände besetzt, die teils zur Aufbewahrung der Kleider, teils für das Leinenzeug dienten. Der nächste Raum war ein schönes großes Schlafgemach mit prächtig geschnitztem Bett auf einer Estrade, umgeben von schweren, rubinroten seidenen Vorhängen. Zu den getäfelten Wänden passte vortrefflich die schöne, geschnitzte, in Renaissance gehaltene Zimmereinrichtung, dem eine kundige Hand die Umrahmung der stellbaren Psyche prächtig angepasst hatte, sodass dieses moderne Stück inmitten der echten, alten Möbel eben nur dem Kenner auffiel. Eine sogenannte Lade war mit Rosshaarpolstern, die mit rubinrotem Damast, wie die Vorhänge von Bett und Fenstern bezogen waren, belegt und bildete ein schönes Ruhebett. Kleeblatt-Tischchen, niedere Schränke usw., alles passte trefflich zueinander.

„Das ist wie geschaffen für mich“, sagte Dolores, den prächtigen Raum musternd, „meine Großmutter hat einen guten Geschmack gehabt.“

„Oh“, erwiderte Mamsell Köhler und warf einen etwas scheuen Blick um sich und dann einen gleich auf ihre neue Herrin, „die gnädige Frau Baronin bewohnten den westlichen Flügel jenseits der Bildergalerie, durch die wir noch kommen.

Sie schlief im südlichen Flügel, und dieses Zimmer steht eigentlich verschlossen seit – seit zweihundert Jahren!“

„So! Wie kommt dann aber diese Psyche hier herein?“ fragte Dolores.

„Die?“, sagte Mamsell Köhler etwas verlegen. „Die ließ die Frau Baronin damals arbeiten, als sie dies Zimmer bewohnen wollte – –“

„Und weshalb hat sie es nicht bewohnt?“

„Ja, das hatte so seine Gründe“, meinte die Haushälterin geheimnisvoll. „Nun, Baroness werden es sicher auch nicht bewohnen!“

„Gewiss will ich das, wenn –“, sagte Dolores zögernd, und sich dann unterbrechend. „Und was ist's mit diesem Zimmer?“

„Es geht hier um!“, flüsterte Mamsell Köhler geheimnisvoll, denn sie brannte darauf, ihre Geschichten auszukramen.

Dolores lächelte. „Daraus mache ich mir nichts“, sagte sie mit einem Strahl des alten Übermutes in den Augen.

Mamsell Köhler schüttelte ihre grauen Federlöckchen mit der Würde einer Kassandra.

„O bitte, scherzen Sie nicht, gnädigste Baroness“, flüsterte sie feierlich. „Dies hier ist nämlich das Zimmer der bösen Freifrau – –“

„Ich habe ihr ja nichts getan“, lächelte Dolores, belustigt über den Ernst der kleinen Beschließerin.

„Aber sie hat Böses getan und muss es nun büßen, indem sie keine Ruhe findet im Grabe“, fuhr diese unbeirrt fort, entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen. Aber Dolores schritt der nächsten Tür zu.

„Später erzählen Sie mir's“, sagte sie, „abends beim Kamin, das ist die beste Zeit für Gespenstergeschichten.“

Der nächste Raum, den sie betraten, war etwa in der Größe eines einfenstrigen Gemaches, aber nur durch ein mit Schiebevorrichtung zu öffnendes Fenster erhellt, das, breit, aber niedrig, ungefähr fünf Fuß über dem Boden angebracht war. Rings an den Wänden standen Regale, die dicht mit Büchern besetzt waren; die Mitte nahm ein mächtiger Globus ein, und am Kamin stand ein steiflehniger, mit goldgepresstem Leder überzogener Sessel, davor ein Tischchen mit Lesepult, Schreibzeug und Feder darauf.

Mamsell Köhler öffnete schnell die nächste Tür, aber sie warf bezeichnende Blicke auf das hohe Fenster, die indes von der alles mit Interesse musternden Dolores nicht beachtet wurden.

Sie betraten jetzt die Bildergalerie, das heißt einen Saal mit Oberlicht, dessen Wände mit Familienporträts dicht behangen waren. Über der Diele zog sich zunächst eine einfache massive Täfelung etwa drei Fuß hoch um die Mauern, die mit verblichenem roten Samt bekleidet waren. Es waren Perlen der Malkunst unter diesen geharnischten Allongeperücken tragenden, gepuderten und steifkragigen Falknerporträts, das erkannte das kunstgeübte Auge der neuen Lehnsherrin sofort, als sie es über die Wände gleiten ließ, unbekümmert darüber, dass so viele Ahnenaugen sie musterten. Plötzlich aber entfloh ihren Lippen ein leiser Ruf des Erstaunens, und schnellen Schrittes trat sie einem lebensgroßen Bilde entgegen, das die Mitte der rechten Langwand einnahm. Es stellte eine Dame dar in der Tracht der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, in weißem, bauschendem Damastkleide und mächtigem Spitzenkragen, der den Halsausschnitt der halb entblößten Büste viereckig umrahmte und das Haupt eben noch überragte. Der Brustlatz des Kleides war reich mit Edelsteinen verziert, um den weißen, schlanken Hals schlang sich eine Perlenschnur. Und das Haupt! Es trug kaum die schwere Masse goldroten Haares, das mit Edelsteinrosetten gehalten und von einem Myrtenkrönlein überragt wurde! Bleich war das schöne, wundersüße Antlitz mit den traurigen schwarzen Augen, über die sich fein gezeichnete tiefdunkle Brauen wölbten, und ein Zug unsäglichen Schmerzes lag um den entzückend geformten blassroten Mund – –

„Das könnte mein eigenes Bildnis sein“, sagte Dolores laut, zu dem Bilde emporsehend, das seine Augen auf sie geheftet zu haben schien.

„Es ist die böse Freifrau“, flüsterte Mamsell Köhler scheu. „Man zeiht sie schwerer Sünden und des Gattenmordes. Darüber ward sie irrsinnig, und wenn sie tobte, sperrte man sie in das Gemach dort mit dem hohen Fenster. Das hatte man mit Matratzen ausgepolstert, damit sie sich nicht den Kopf einrannte an den bloßen Wänden. In dem Schlafzimmer aber starb sie – leider nicht zu ihrer Erlösung, denn ihr Geist wandelt im Falkenhof umher, ein Licht in der Hand, weil sie zu den Verdammten gehört –“

„Dazu haben die Menschen sie natürlich gemacht“, spottete Dolores. „Übrigens“, fuhr sie, sich gewaltsam von dem Bilde abwendend, fort, „übrigens dulde ich keine mit Licht nachts herumwandelnden ›Geister‹ im Falkenhof, das können Sie den Leuten sagen, Mamsell Köhler! Es ist schon wegen der Feuersgefahr!“

„Aber gnädigste Baroness“, stammelte die verwirrt dastehende Beschließerin, „das Licht der ›bösen Freifrau‹ ist ja ein Licht aus der andern Welt, das zündet nicht!“

„Ich danke Ihnen für die Belehrung“, entgegnete Dolores spöttisch, „aber ich habe nun einmal ein Misstrauen gegen lichttragende Gespenster.“

Mamsell Köhler verstummte beleidigt – sie hatte es so gut gemeint und der jungen Herrin so gruselig machen wollen mit ihrer Paradegeschichte. Wortlos öffnete sie die nächste Tür, und Dolores trat in einen hellen geräumigen Salon mit prachtvoller Rokokoeinrichtung. Die Vorhänge an Türen und Fenstern sowie der Überzug der vergoldeten Möbel waren von schwerem, lichtblauem Atlas mit eingestickten Goldbuketts, die Wände waren weiß, in zierliche, goldbegrenzte Felder geteilt und trugen Ölgemälde in schweren barocken Goldrahmen; Leuchtergestelle, kleine, zierliche Kommoden, Tischchen und reizende Schreibsekretäre in wundervoll eingelegter Arbeit standen umher. Das mittlere breite, deckenhohe Fenster öffnete sich auf einen Balkon mit lieblicher Aussicht auf ferne Hügelketten, prächtige Blumenanlagen und die die Landschaft links begrenzende Wand des grünen rauschenden Laubwalds, der hier noch als Park diente.

„O wie hübsch und heiter ist es hier“, rief Dolores, sich rings umsehend. „Hier an die Fenster rechts und links müssen Blumengestelle kommen, und hier in die Mitte des Salons stelle ich meinen Flügel – wenn ich hier bleibe“, setzte sie in Gedanken hinzu.

Die Beschließerin knickste zum Zeichen, dass sie den Auftrag von wegen der Blumen begriffen, und öffnete die Tür zu dem den Raum beschließenden Turmzimmer – ein rundes, nicht zu großes und nicht zu kleines Gemach mit bunten Fensterscheiben, die Wappenmalereien zierten. Der ganze Raum machte den Eindruck eines großen Erkers und war reich, wohnlich und lauschig möbliert im Geschmack jener Zeit, in der die reine Renaissance starb und der kommende Zopfstil schon in den sich verschnörkelnden Linien verspukte. Die schwarz gebeizten, matt gehaltenen und mit Gold ziselierten Hölzer trugen nur noch den Stempel der Erinnerung an jene formenschöne Zeit, aber sie waren immerhin interessant genug für ein verwöhntes Auge, wozu der reiche, gepresste und golddurchwirkte, purpurrote, echte Utrechter Samt der Überzüge und Vorhänge nicht wenig beitrug. Es war ein Gemach, so recht gemacht zum vertraulichen Plaudern, zum Träumen, zum Sinnen, Lesen und Schreiben an dem schönen breiten Schreibtisch, der quer vor dem mittleren der drei Fenster mit ihren bleigefassten Butzenscheiben stand. Den Hintergrund nahm ein Kamin ein, mit herrlichem Aufsatz von Majolika, dessen gemalte Kacheln in erhabener Arbeit wundersame Figuren und Wappentiere zeigten.

Dolores stieß das eine der Fenster weit auf, dass die frische würzige Maienluft eindringen konnte in das lauschige Gemach, und setzte sich in den Sessel, der an dem Fenster stand.

„Hier will ich bleiben“, sagte sie, tief atmend, „das ist ein schönes Buen Retiro! Lassen Sie meinen Koffer in das Schlafzimmer drüben bringen, Fräulein Tinchen, und packen Sie ihn aus, ja? Später wird meine alte Tereza mit meinen anderen Sachen nachkommen und Ihnen den Dienst bei mir wieder abnehmen, um den ich Sie bis dahin bitte!“

Fräulein Köhler knickste wieder. „Ich kenne meine Pflicht, gnädige Baroness“, sagte sie gemessen. „Aber ich bitte, sich daran zu erinnern, dass ich vor dem Schlafzimmer gewarnt habe!“

„Doch nicht im Ernst, liebe Köhler?“, entgegnete Dolores lachend.

„In vollem Ernst!“, beteuerte die Haushälterin, indem sie ihre mageren Hände zum Himmel emporhob. „In dem Schlafzimmer geht es um, und sein Bewohner kann darin Schaden leiden an Leib und Seele.“

„Nun, seien Sie ruhig“, spottete Dolores amüsiert, „ich stehe dafür ein, dass die böse Ahne mich nicht schlechter machen wird, und was meine Person anbetrifft, so können Sie noch ruhiger sein. Ramo und Tereza werden in meiner Nähe schlafen, mich zu schützen, und außerdem liegt auf meinem Nachttisch immer ein geladener Revolver – das ist Sitte in Brasilien bei Damen und Herren!“

Mamsell Köhler verbeugte sich und ging mit einem Blick nach oben, als wolle sie den Himmel zum Zeugen anrufen, dass sie ihre Pflicht getan und die neue Herrin vor dem Familiengespenst gewarnt habe. Draußen aber blieb sie überlegend stehen. Das wird eine gute Wirtschaft werden auf dem Falkenhof, dachte sie, schon darum, dass die Mulattin wieder herkommt, die Schwarze, die in ein christliches Haus doch einmal nicht gehört, von dem Brasilianer, dem Mesjö Ramo, ganz zu schweigen. Und dazu eine Herrin, die ein Freigeist ist und nichts glaubt – nun ja, das mag man auf dem Theater lernen, und etwas Teuflisches hat sie schon als Kind gehabt, wo sie mich mit ihrem Kürbiskopf zum Schlagrühren erschreckt hat und noch ihre Freude daran hatte! Ja, ja, die roten Haare! Man soll sich vor denen hüten, die Gott gezeichnet hat. Der Gegenstand dieser Betrachtungen, die zum Freigeist gestempelte junge Lehnsherrin, weil sie dem Schlossgeist seine Rechte einräumen wollte, sie stand indes am Fenster des Turmgemaches, das Haupt, dem Gott seinen schönsten Schmuck verliehen hatte, gesenkt, die Hände gefaltet. Was ging in dieser jungen Seele vor? –

Mamsell Köhler hätte es vielleicht gewusst, aber sie musste hinabgehen, ihrer Pflicht zu genügen. Als sie den Südflügel passierte, hörte sie in den Zimmern, die das Rußsche Ehepaar bewohnte, die laute Stimme des Freiherrn Alfred zornige Worte sprechen, und gleich darauf kam er heraus und lief schnell die Treppe hinab, an der Haushälterin vorüber, ohne sie zu beachten.

„Nun, nun“, meinte sie für sich hin, „da drinnen haben sie wieder einmal Feuerstein und Lunte gespielt – da hat es Funken gegeben. Meinetwegen – wer will haben gute Ruh', der seh und hör und schweig dazu!“

Alfred Falkner hatte seine Mutter nach der Testamentsvorlesung in ihre Zimmer geführt, gefolgt von Doktor Ruß, der, das Haupt gesenkt, in tiefen Gedanken dahin schritt. In ihrem Zimmer nahm Frau Ruß den Hut ab und setzte sich bequem – die Sache hatte sie angegriffen. Ihr Sohn durchmaß ein paarmal heftig den Raum, dann blieb er plötzlich vor ihr stehen.

„Du wirst natürlich diese Einladung, auf dem Falkenhof zu bleiben, nicht annehmen, Mutter?“, fragte er.

„Es ist bereits geschehen, wie du gehört hast“, sagte Doktor Ruß vom Fenster her.

„Mit deiner Bewilligung, Mutter?“ Die Frage wurde schwer betont.

„Nun, die Annahme meines Mannes überraschte mich eigentlich“, erwiderte Frau Ruß zögernd.

„Wir können von hier aus unsere Anordnungen für die Zukunft in aller Ruhe treffen“, fiel der Doktor ein.

Falkner wandte sich zornig ab.

„Ich möchte von ihr nichts annehmen“, sagte er, „am allerwenigsten Gnadengeschenke.“

„Das dachte ich zuerst auch“, sagte Frau Ruß, „aber da du nun doch bald selbst Herr des Falkenhofes sein wirst, so können wir ja ruhig bleiben.“

„Ich selbst bald Herr?“ Falkner wandte sich erstaunt um.

„Nun ja, wenn du Dolores heiratest!“ nickte sie, ganz zufrieden mit dieser ausgleichenden Idee des Verstorbenen.

„Das wird nicht geschehen“, entgegnete Falkner schnell und heftig.

„Nicht?“ wiederholte Frau Ruß erstaunt. „Dann erkläre ich dich für unzurechnungsfähig“, setzte sie sehr kühl hinzu.

„Du hast recht damit, Adelheid“, sagte der Doktor, hinzutretend, „aber Alfred wird überlegen. Natürlich“, fügte er begütigend hinzu, „natürlich hat es für ihn momentan etwas Unerträgliches, par Ordre de Moufti heiraten zu sollen, aber das gibt sich, solche Ecken schleift die Zeit ab.“

„Du dürftest dich denn doch über meine Ansichten täuschen“, entgegnete Falkner verächtlich. „Es ist nicht jedermanns Sache, um Geld zu freien.“

Hinter den Brillengläsern des Doktors blitzte es warnend auf bei diesem Stich, aber er mäßigte sich wie immer, wenn die Bitterkeit gegen ihn in Falkners Herzen überschäumte.

„Hier ist die reiche Braut aber dein Vermächtnis“, sagte er ruhig.

„Denke darüber, was du willst“, erwiderte Falkner stolz, „bleibe du meinetwegen zeit deines Lebens auf der Bärenhaut im Falkenhof, aber“, setzte er laut und zornig hinzu, „aber lass es bleiben, für mich zu denken und zu entscheiden oder mich beeinflussen zu wollen. Die Ansicht meiner Mutter zu hören, ist meine Pflicht. Sie ist in diesem Falle nicht die meinige, aber jede Überredungskunst deinerseits weise ich zurück, ein für alle Mal!“

Und mit diesem Ultimatum verließ Falkner tief gereizt das Zimmer.

Doktor Ruß sah ihm lächelnd nach und rieb seine gut gepflegten weißen Hände.

„Lass den Most schäumen, Adelheid“, sagte er heiter, „er wird schon ausgären. Natürlich, der freiherrliche Stolz deines Sohns bäumt sich hoch empor, aber selbst der heftigste Sturm legt sich einmal. Wir bleiben vorläufig auf dem Falkenhof, und ich will nicht Ruß heißen, wenn Alfred nicht über Jahr und Tag als Herr hier einzieht.“

„Nun, das wäre allerdings wünschenswert“, entgegnete sie. „aber Dolores wird nicht lange ohne Freier bleiben, und wer weiß, was geschieht, wenn Alfred in seinem Stolz zu lange fortbleibt?“

Doktor Ruß lachte leise in sich hinein.

„Lass das meine Sorge sein, liebe Frau“, sagte er, „ich habe nicht umsonst die Einladung, hierzubleiben, angenommen.“

Die Falkner vom Falkenhof

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