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I. Die Perspektivendrehung

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Wenn darin Abhilfe geschehen soll, dann nur mit Hilfe einer Perspektivendrehung, die der Tatsache Rechnung trägt, daß Jesus auch in dem Sinn „das Licht der Welt“ (Joh 9,5; 8,12) ist, daß er als der letztlich kompetente Deuter und damit als das vollgültige Interpretament der von ihm handelnden Schriften zu gelten hat. Denn diese wurden bisher nur im Licht der Kirchenlehre und in dem der historischen Kritik und damit auf ihn hin gelesen. Doch diese Lesart stieß sich mit der fundamentalen Tatsache, daß Jesus als Inbegriff der in ihm an die Welt ergangenen Gottesoffenbarung seine Botschaft in leibhaftiger Verkörperung ist. Daraus ergibt sich als unabdingbare Konsequenz, daß fortan der Versuch unternommen werden muß, die Botschaft von Jesus in Gestalt des Evangeliums umgekehrt in seinem Licht und mit Hilfe des in ihm gegebenen Interpretaments zu lesen. Ungeachtet dieser grundsätzlichen Feststellung kann das Recht der erhobenen Forderung nur mit der Entstehung des Neuen Testaments begründet werden. Wie Ferdinand Hahn in Erinnerung rief, war anfänglich das Alte Testament die „Bibel des Urchristentums“. Daß ihm eine, aus mündlichen Traditionen hervorgegangene, schriftliche Urkunde gegenübergestellt und sogar übergeordnet wurde, hatte unterschiedliche Gründe. Defensive Gründe zunächst, die im Judentum, vor allem unter dem Eindruck des versiegenden Prophetismus und der Katastrophe von Jerusalem, das Bedürfnis nach einer „klar abgegrenzten Lehrgrundlage“ aufkommen ließen, das zusätzlich durch die Skepsis gegenüber angeblichen „Neuoffenbarungen“ stimuliert wurde. Ungleich schwerer fiel jedoch der „prospektive“ Grund ins Gewicht, der sich aus dem Glauben an das „neue Gotteshandeln in Jesus Christus“ und aus der Gewißheit ergab, daß damit eine neue Heilszeit, biblisch ausgedrückt, „die Zeit der Erquickung“ und des Aufatmens (Apg 3,20), angebrochen war2.

Daß sich daraus der Anreiz zur schriftlichen Dokumentation ergab, war jedoch durch ganz anderes veranlaßt. Darauf verwies Martin Luther mit der Feststellung, daß es die „Not“ ihrer Situation war, die die Autoren des Neuen Testaments zu dem nach Luther als „Gebrechen des Geistes“ empfundenen Medium der Schriftlichkeit greifen ließ. Es war sowohl die Not, die mit dem Tod der „anfänglichen Augenzeugen“ (Lk 1,2) eingetreten war und die Gefahr des Vergessens oder der Verfälschung ihres Zeugnisses heraufbeschwor, als auch die Not des sich rapide vergrößernden Aktionsradius, der nur durch schriftliche Kommunikation zu überbrücken war.

Der zweite und entscheidende Anlaß bestand jedoch in jenem „Anfang“ (Joh 1,1; 1Joh 1,1), den es zu bezeugen galt und der auf weltweite Promulgation drängte: das für das Christentum konstitutive, form- und inhaltbestimmende Ereignis der Auferstehung Jesu, mit dem das in dieser todverfallenen Welt Niedagewesene und sie in ihrer Grundstruktur Ergreifende geschehen war. Wenn Paulus von dem „Zwang“ spricht, der ihn zur Verkündigung der Evangelien nötige (1Kor 9,16), so geht dieser eindeutig von seinem Ostererlebnis aus, durch das er sich nach Phil 3,12 von Christus ergriffen und in Pflicht genommen wußte.

Tatsächlich hätte für die durch den Kreuzestod Jesu völlig verstörte Jüngergemeinde nicht der geringste Anlaß bestanden, sich auf die Botschaft dieses scheinbar kläglich gescheiterten und zudem nach Gal 3,13 von Gott Verworfenen zurückzubesinnen, seiner Lebensgeschichte nachzugehen, seine Worte zu sammeln und all dies schließlich sogar schriftlich zu dokumentieren, wenn nicht das Unausdenkliche seiner Auferstehung eingetreten wäre. Sie bedingte deshalb die Entstehung, dann aber auch den ganzen Inhalt der neutestamentlichen Schrift, so daß sie, wie dies James M. Robinson von der Spruchquelle behauptet, selbst als das literarische „Osterwunder“ zu gelten habe3.

Wenn aber Jesus zumal durch das Endereignis seines Lebens so sehr der zentrale Entstehungsgrund der neutestamentlichen Schriften ist, gewinnt er im Verhältnis zu ihnen so sehr das Übergewicht, daß er geradezu zu ihrem Sinngrund wird, während die ihn dokumentierenden Schriften nur noch als sein Epiphänomen erscheinen. Das kann und darf bei ihrer Lektüre nicht unberücksichtigt bleiben. Insofern ist es nicht nur angezeigt, sondern geradezu gefordert, diese Schriften in seinem Licht zu lesen und sich ihm als ihrem entscheidenden Interpretament anzuvertrauen. Alles spricht somit für das Recht, ja für die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Perspektivendrehung.

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