Читать книгу Christomathie - Eugen Biser - Страница 20

VII. Der Lesemeister

Оглавление

Mit dem Stichwort „nachösterlich“ ist bereits angedeutet, daß die Frage nur im Blick auf die nach der Auferstehung Jesu entstandene Situation beurteilt werden kann. Sie ist zunächst schon dadurch gekennzeichnet, daß der zum Glauben Rufende zum Geglaubten, der Botschafter zur Botschaft und der Lehrer zur Lehre wurde38, und dies infolge der Tatsache, daß der Auferstandene alle verfügbaren Titel und Prädikate an sich riß. Die Prädikate, sofern er nach Ausweis der johanneischen Ich-bin-Worte nun als der Inbegriff von Nahrung (Brot), Wegweisung (Hirt), Licht und Wahrheit erschien; aber auch die Titel, sofern er jetzt als Gottessohn, Weisheit, Messias, Herr und Retter angerufen und bezeichnet wurde. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte Paulus, der nicht zuletzt auch aufgrund seiner mangelnden Kenntnis des historischen Jesus und dessen Botschaft auf neue Kristallisationskerne seiner Verkündigung, wie sie sich ihm in Gestalt dieser Titel anboten, angewiesen war.

Paulus ist aber auch die Schlüsselfigur des für den Fortgang der Sache Jesu entscheidenden Prozesses, der im Übergang des Christentums von seiner verbalen zur literalen Phase, also in seinem Übergang von der Wort- zur Schriftkultur, bestand. Und dies nicht nur praktisch, sofern er an der Spitze derjenigen stand, die zum Mittel der Schriftlichkeit griffen, um die Botschaft in ihrer Authentizität zu erhalten und zu bewahren und ihr eine größere Verbreitung zu sichern, sondern auch theoretisch. Denn Paulus verwendet nicht nur als einer der ersten im christlichen Raum das Medium Schrift, er ist darin auch der erste Medientheoretiker und -kritiker. Schon im ersten seiner an die Gemeinde von Thessalonike gerichteten Briefe äußert sich Paulus im Vollbewußtsein seiner apostolischen Sendung, gleichzeitig aber auch aus einer Position, die auf die volle Beherrschung des von ihm in den Dienst seines Apostolats gestellten Mediums schließen läßt. Beweis dessen ist vor allem die Tatsache, daß ihm die Grenzen des von ihm verwendeten Mediums klar vor Augen stehen. Das spricht aus seinem Wort an die vom Abfall bedrohten galatischen Gemeinden, in dem er förmlich, wenngleich vergeblich, gegen diese Grenzen ankämpft:

Ich wünschte, bei euch zu sein, um euch mit anderer Stimme zureden zu können; so aber bin ich ganz ratlos (Gal 4,20).

Die „andere Stimme“, von der er sich die größere Überzeugungskraft verspricht, ist die seiner Aug’ in Aug’ gesprochenen Mündlichkeit, die ihm nach seiner Überzeugung unzweifelhaft zu dem erhofften Erfolg verholfen hätte39. Insofern argumentiert der Apostel im vollen Wissen um die größere Kompetenz der Mündlichkeit, gleichzeitig aber auch in der Überzeugung, daß für die Sache Jesu die Stunde der Schriftlichkeit geschlagen habe. Und er verleiht dieser kritischen Anerkennung überdies mit seinem Theorem vom toten Buchstaben und dem lebendigmachenden Geist (2Kor 3,6) jenen kompetenten Ausdruck, der ihn zum Protagonisten der christlichen Medienkritik insgesamt werden ließ.

Das aber setzt einen so hohen Reflexionsgrad voraus, daß sich die Frage nach der Rückwirkung auf die paulinische Doktrin geradezu aufdrängt. Denn diese ist durch ein auffälliges Zurücktreten der spezifisch jesuanischen Leitmotive und deren Transformation zu neuen Begriffen gekennzeichnet. In eklatantem Unterschied zu Jesus spricht Paulus kaum noch vom Reich Gottes, dafür aber mit großem Nachdruck von der durch Jesus bewirkten Freiheit. Ebensowenig redet er von der Nachfolge, dafür aber mit großer Betonung von der Berufung aller zur Gotteskindschaft. Und die von Jesus erhobene Forderung, ihm und seinem Wort Gehör zu schenken, ist bei Paulus völlig in die des Glaubens umgewandelt. Nimmt man hinzu, daß bei Paulus der ganz unjesuanische Begriff der Rechtfertigung eine so große Rolle spielt, daß er infolge der – nicht unproblematischen – Paulusrezeption Luthers geradezu als Grundpfeiler des protestantischen Christentums erscheinen konnte, so wird der bis zur Stunde immer wieder gegen Paulus erhobene Vorwurf verständlich, er habe die menschenfreundliche Botschaft Jesu zu einer beliebigen Gesetzes- und Opferreligion verfälscht.

Es genügt aber nicht, diesen klischeehaften Vorwurf durch die Klärung der tatsächlichen Intentionen des Apostels zu entkräften, weil dann immer noch der hohe Grad der paulinischen Innovationen unerklärt bliebe. Vielmehr ist es an der Zeit, die Frage nach dem Grund und Anlaß dieser unbestreitbaren Neuerungen aufzuwerfen. Als hilfreich für die Beantwortung könnte sich die Hypothese erweisen, daß der auffällige Abstraktionsgrad der Paulusbriefe, zusammengenommen mit der Beobachtung, daß in ihr alle Hinweise auf die Verkündigung Jesu, insbesondere aber auf die seiner Gleichnisse und Wundertaten, fehlen, einen Rückschluß auf die Entstehung der Evangelienschriften erlaubt. Diese mögen durchaus durch das Bedürfnis nach einem Lebensbild Jesu und durch erste Dokumentationen nach Art der Logienquelle veranlaßt worden sein. Mehr noch spricht dafür, daß sie aufgrund eben dieser Tendenz kompensatorisch zu den abstrakt-doktrinalen Paulusbriefen zustandekamen. Insofern verhielten sie sich defensiv gegenüber dem von ihnen genutzten Medium, Paulus hingegen affirmativ mit der Folge, daß sich dessen Eigengesetzlichkeit auf seine Konzeption und Darstellung niederschlug.

Einem Fingerzeig über diese Rückwirkung kommt das Sprachverständnis der analytischen Sprachtheorie und philosophischen Sprachanalyse gleich. Denn diese steht so sehr unter dem Einfluß der Textualität, daß sie Sprache ausschließlich als Medium des Informationstransfers in Anschlag bringt, so daß es nahezu einem revolutionären Bruch gleichkam, als John L. Austin auf die performativen Sprachqualitäten hinwies40.

Wenn sich das Medium sogar auf den Sprachbegriff und dessen theoretische Explikation niederschlägt, dann zweifellos auch auf das mit seiner Hilfe Dargestellte und das nicht zuletzt bei dem, der als der erste Medienverwender den Übergang des Christentums von der Wortzur Schriftkultur bewußt vollzog.

Wenn man bedenkt, daß zu den ersten Dokumenten der Schriftkultur neben Handelsverträgen Gesetzestexte nach Art des Codex Hammurabi und des Dekalogs zählen, ist der Rückschluß nicht von der Hand zu weisen, daß die Schriftlichkeit eine strukturelle Affinität zu begrifflich exakten und dekretorischen Darstellungen aufweist, während sie sich dem konfessorischen Wort und dem, was Nietzsche die „Musik hinter den Worten“ und die „Leidenschaft hinter dieser Musik“ nannte, verweigert41. Eben daran fühlt sich Paulus gehindert, wenn er darüber Klage führt, nicht wie im persönlichen Gespräch – und insofern „mit anderer Stimme“ – zu seinen verunsicherten Adressaten reden zu können. Um so höher ist es darum zu veranschlagen, daß es ihm im Gegenzug zur strukturellen Tendenz des Mediums gelingt, sein Ostererlebnis konfessorisch, und dies sogar dreifach – akustisch (Gal 1,15ff), optisch (2Kor 4,6) und haptisch (Phil 3,12)42 – zum Ausdruck zu bringen. Indessen untersteht auch Paulus dem von dem beanspruchten Medium ausgehenden Denkzwang, der ihn nötigt, seine Aussagen in dessen Sinn zu verschärfen. Das trifft in erster Linie auf den vermeintlichen Kern seiner Theologie, die Rechtfertigungslehre, zu43.

Wie die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zeigt, sind sogar die Kirchen von der Zentralstellung dieser Doktrin überzeugt, Differenzen bestehen nur hinsichtlich ihrer Interpretation und Konsequenzen. Die schweren Einwände, die schon von William Wrede, der sie als „Kampfeslehre des Paulus“ bezeichnete, und etwas später von Albert Schweitzer, der in ihr nur das „Fragment einer Erlösungslehre“ erblickte, schienen gegenstandslos geworden zu sein44. Inzwischen gewannen sie jedoch durch den Fortschritt der Paulusforschung erneut an Gewicht, nachdem Ed Parish Sanders die „Schlüsselterminologie“ des Apostels klärte45. Danach sind zwei Schichten in den Paulusbriefen zu unterscheiden: eine exoterische, in der sich die Missionspredigt des Apostels ebenso wie die von der antiochenischen Gemeinde übernommenen Lehrstücke und insbesondere seine fortwährende Auseinandersetzung mit judenchristlichen Gegnern und in diesem Zusammenhang auch seine Polemik spiegeln, und eine „die tieferen Schichten“ bestimmende esoterische, in der die „rechtlichen Kategorien“ zugunsten des nunmehr vorherrschenden Motivs der „Teilhabe des Gläubigen an Christus“ zurücktreten46. Wenn man hinzunimmt, daß sich Paulus in der Korrespondenz mit Korinth darüber beklagt, daß er seinen Adressaten das harte Brot seiner Mystik, so sehr es ihn dazu drängt, nicht verabreichen konnte, sondern sie wegen ihrer Zerstrittenheit mit der „Milchkost“ seiner Exoterik abspeisen mußte, kann über den Stellenwert der beiden Aussagereihen kein Zweifel bestehen. Dann erklärt sich die exoterische Position aus dem Bedürfnis, die Missionspredigt im Rückgriff auf antiochenisches Gedankengut so verständlich wie möglich zu gestalten und sie gleichzeitig mit aller Schärfe gegen den judenchristlichen Kompromißglauben mit seiner fortbestehenden Gesetzeshörigkeit abzugrenzen. Demgegenüber erweist sich die esoterische Position aus dem Bestreben des Apostels, seinen Adressaten trotz ihrer „Voreingenommenheit“ bisweilen einen Einblick in das zu gestatten, „was kein Auge geschaut, kein Ohr vernommen und keines Menschen Herz jemals empfunden hat“ (1Kor 2,9), ihm aber in seiner „Kontaktmetamorphose“ mit dem Auferstandenen mitgeteilt und als Kristallisationskern seines Denkens und Wirkens zugeeignet wurde47. Wie Paulus diesen offenkundigen Gegensatz bewältigte, bleibt dann allerdings sein streng gehütetes Geheimnis. Doch steht das Gelingen dieser Synthese bei dem, der sich ebenso mit Mangel wie mit Überfluß abzufinden lernte (Phil 4, 11f), der in der Angestaltung an Gesetzestreue und Gesetzlose ebenso wie an Schwache und Starke „allen alles geworden“ ist (1Kor 9,20ff) und der im Umgang mit der vergehenden Welt lernte, sie so zu nutzen, als nutze er sie nicht (1Kor 7,31), außer Frage. Klar ist dann aber auch, daß sich die Esoterik des Apostels ebenso der literarischen Darstellung entzog, wie seine Exoterik und Polemik durch sie verstärkt wurde48.

Christomathie

Подняться наверх