Читать книгу Winterthur 1937 - Eva Ashinze - Страница 11

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5Zwanzig Minuten später verlassen Wunderlin und Emil das Bürgerheim über die Eingangstreppe, die auf den gekiesten Vorplatz führt. Es hat zu nieseln begonnen.

«Neues haben wir nicht erfahren», meint Emil.

«Es geht nicht immer um das, was gesagt wird, Kern», sagt Wunderlin. «Du musst auf die Zwischentöne achten. Auf das Ungesagte.» Er bleibt auf der letzten Stufe der Treppe stehen, schaut auf die Uhr. «Nach zehn. Zeit für eine kleine Stärkung.» Er zieht einen Flachmann aus der Tasche, hält ihn Emil hin. Der schüttelt den Kopf. Er könnte zwar eine Stärkung gebrauchen, denkt dabei aber an das Butterbrot, das er auf dem Posten hat liegen lassen.

Wunderlin nimmt einen grossen Schluck, schraubt den Deckel wieder zu. «Der Heimleiter ist die ganze Zeit um uns herumgewuselt. Der magere Spitzbart wollte uns keine Sekunde mit Sophie Burger allein lassen. Ist dir das nicht aufgefallen?»

Emil hat sich nichts dabei gedacht, schliesslich hatte Frau Burger einen Schock erlitten.

«Vielleicht wollte er hören, was sie uns zu sagen hatte. Ist übrigens auch ein Deutscher, der Heimleiter.»

«Meinst du?»

«Ich bin mir ziemlich sicher. Hast du den Einschlag in seinem Dialekt nicht bemerkt? Und dann der Name. Bosch, nicht besonders schweizerisch.»

Emil zuckt die Schultern. «Kann sein», murmelt er.

Sie gehen nebeneinander, der Kies knirscht unter den Sohlen, die Feuchtigkeit des Nieselregens benetzt ihre Gesichter. Emil hängt seinen Gedanken nach. Herr Bosch schien ehrlich besorgt zu sein und ergänzte auf Nachfrage, dass am frühen Morgen niemand aus dem Heim den Park betreten habe, auch er nicht. Er muss es wissen, schliesslich wohnt er mit seinen Bewohnern unter einem Dach. «Ich glaube, der Heimleiter ist einfach in Sorge um seine Bewohner.»

«Ah bah. Der ist höchstens in Sorge wegen seines Budgets. Wenn Sophie Burger für ein paar Tage ausfällt und ein Ersatz her muss, ist das für ihn eine Katastrophe. In solchen Institutionen ist das Geld immer knapp.»

«Sieht man gar nicht.» Emil deutet auf die weitläufige Parklandschaft.

«Tja, der Gartenarchitekt hat fantastische Arbeit geleistet. Aber Parkpflege und Altenpflege – das sind zwei verschiedene Töpfe, aus denen das Geld kommt. Für repräsentative Blümchen wird wohl mehr abfallen als für ein paar Alte.»

Emil weiss nicht, ob er lachen oder entsetzt sein soll. Wunderlin kann mitunter ganz schön zynisch sein.

Mittlerweile sind sie bei ihren Velos angekommen.

«Jetzt müssen wir Frau Ritter informieren, bevor sie es von jemand anderem erfährt», sagt Wunderlin. «Schlechte Nachrichten machen schnell die Runde.»

Sie radeln die Zürcherstrasse entlang bis zur oberen Schöntalstrasse. Es hat ganz schön Verkehr, vier, fünf Autos fahren auf der kurzen Strecke an ihnen vorbei. Aus den hohen Schornsteinen der Lokomotivfabrik steigt dunkler Rauch in den grauen Himmel. Sie lassen ein Tram passieren und wechseln auf die andere Strassenseite, wo Hausfrauen mit Regenschirmen und Kopftüchern unterwegs sind, um in den Geschäften an der Zürcherstrasse ihre Besorgungen zu erledigen.

Vor dem Restaurant Braustube bleiben sie stehen. «Sieht neu aus, der Bau.» Emil betrachtet das auffällige Wandbild über der Eingangstür: ein überlebensgrosser Braumeister mit Fass auf der Schulter.

«Wurde vor ein paar Jahren fertiggestellt.» Wunderlin lehnt sein Velo an die Wand, wischt sich Regentropfen aus dem Gesicht. «Dort drüben ist die Nummer 63.» Er deutet auf den Eingang zu seiner linken. Emil stellt sein Velo neben das von Wunderlin, trocknet sich ebenfalls mit einem Taschentuch ab und zieht den Uniformrock gerade.

«Na dann los.» Wunderlin öffnet die Haustür. «Ich rede, du schreibst, wenn es was zu schreiben gibt.»

Auf dem Treppenabsatz vor dem dritten Stock hält er inne, dreht sich zu Emil um. «Jetzt kommt das, was ich wirklich hasse. Die schlechteste aller Nachrichten überbringen, daran gewöhnst du dich nie.»

Eine Frau öffnet auf ihr Klingeln. Sie ist jünger, als die Polizisten erwartet haben, Ende zwanzig, unscheinbar, das Hauskleid mit Kragen hängt wie ein Sack an ihrer schmächtigen Gestalt, die blonden Haare sind stumpf. Vielleicht ist sie einmal hübsch gewesen, aber nun sieht das ungeschminkte Gesicht verhärmt aus, verbraucht vom Leben. «Frau Ritter?»

Sie registriert die Polizeiuniformen, die grauen Augen weiten sich, alles Blut weicht aus ihrem Gesicht. «Ist etwas mit dem Margritli?»

Sie meint sicherlich ihr Kind. Die erste Frage gilt immer dem Kind. Eine Tochter also.

«Mit dem Margritli ist nichts», sagt Wunderlin beruhigend. «Dürfen wir hereinkommen?»

«Dann also mit dem Ottmar?» Die Frau deutet Wunderlins Miene richtig, ihre Hand fährt zum Mund. «Was ist passiert?»

«Am besten gehen wir hinein und setzen uns.» Es scheint, als wolle die Frau noch etwas sagen, aber dann macht sie einen Schritt zur Seite, lässt die beiden Polizisten eintreten. Vom engen Eingangsbereich gehen mehrere Türen weg, die bis auf eine alle offen stehen. Emil erhascht einen Blick in die Küche, das Kinderzimmer und in ein kleines Bad. Eine Wohnung mit eigenem Badezimmer, das hat Seltenheitswert hier im Arbeiterquartier. Wird nicht günstig sein, die Miete, denkt er.

Frau Ritter geht voran, führt sie ins Wohnzimmer, bleibt hilflos stehen.

«Setzen Sie sich.» Wunderlin nimmt sie sanft am Arm, geleitet sie zum Sofa, setzt sich dann ihr gegenüber in den Lehnsessel.

Emil schaut sich um, zieht den hölzernen Klavierstuhl heran. Das Klavier erstaunt ihn, ebenso das Radio auf der Kommode. Seine Vermieter sind ähnlich eingerichtet, aber die besitzen ein Möbelgeschäft. Emil verspürt leisen Neid beim Anblick der polierten Oberflächen. Er ist zweiunddreissig und lebt in einem möblierten Zimmer.

«Es tut mir leid, Frau Ritter.» Wunderlin beugt sich vor, sucht Frau Ritters Blick. «Ein Mann ist heute früh tot aufgefunden worden. Dieses Papier haben wir bei ihm gefunden.» Wunderlin nimmt den Ausländerausweis aus der Tasche, hält ihn Frau Ritter hin.

Sie zögert, greift danach. «Ottmar, tot?»

«Gehört der ihrem Mann?» Wunderlin deutet auf den Ausweis.

Anna Ritter nickt. Ihr schmaler Körper ist angespannt, die Hände ballen sich zu Fäusten, nur das Gesicht bleibt seltsam ausdruckslos.

Emils Neid schlägt in Mitleid um. Auch wenn man noch so viel hat, von einem Moment zum anderen kann man alles verlieren. Auf einem Beistelltisch sieht er ein Foto stehen, eine Studioaufnahme der Familie.

«Was machen wir nun ohne ihn?» Anna Ritter schlägt die Hände vors Gesicht. «Jetzt hat das Margritli keinen Vater mehr.»

«Wie alt ist Ihre Tochter?», hört Emil sich fragen. Wunderlin wirft ihm einen befremdeten Blick zu. Für die Fragen ist er zuständig.

«Beinahe acht ist sie.»

Das wird schwer werden für das Mädchen, denkt Emil. Er war etwas älter, als seine Mutter gestorben war. Ihr Tod bedeutete für ihn das Ende seiner Kindheit.

«Haben Sie weitere Kinder?», übernimmt Wunderlin wieder.

Anna Ritter schüttelt den Kopf. «Nur das Margritli. Eigentlich heisst sie Margret. Ottmar nennt sie Greta, so hat seine Mutter geheissen.» Sie lässt den Oberkörper nach vorne fallen und bricht in Tränen aus.

Wunderlin rutscht unbehaglich hin und her. «Holen Sie der Frau ein Glas Wasser, Kern.»

Emil ist froh, dem Kummer für einen Moment zu entrinnen. Die Küche ist sparsam eingerichtet, aber blitzblank. Ein kleiner Tisch mit Linoleumplatte, drei Stühle, ein Buffetschrank mit Vorratsbehältern aus Steingut und vielen Schubladen.

Gegessen wird wohl hier, das Wohnzimmer dient lediglich der Entspannung, der Musse, denkt Emil und öffnet eine der oberen, mit Glas versehenen Schranktüren, nimmt ein Wasserglas heraus und füllt es. Er selbst trinkt einen Schluck direkt vom Hahn.

Zurück in der Stube rückt er den Beistelltisch in die Nähe von Frau Ritter, stellt das Glas vor sie hin und schaut sich die Familienaufnahme näher an. Sie muss älteren Datums sein, Margritli ist noch ein kleines Kind. Ottmar Ritter war ein fescher Kerl mit einem Schopf hellbrauner Haare und ausgeprägten Wangenknochen.

Anna Ritter hat ihren Weinkrampf überwunden, sitzt nun da mit geröteten Augen, knetet den Stoff ihres Kleides mechanisch zwischen den Fingern.

«Ich habe Frau Ritter erklärt, dass die Todesursache ihres Mannes noch nicht feststeht. Wir gehen von einem Gewaltdelikt aus.»

«Gewaltdelikt», wiederholt Anna Ritter erstaunt.

«Vermutlich wurde Ihr Mann niedergeschlagen. Aber wir warten die Untersuchungsergebnisse ab, bevor wir definitiv etwas dazu sagen können.» Wunderlin lässt das einen Augenblick setzen. «Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?», fragt er dann.

Anna Ritter schweigt, nippt am Wasser. Ihre Wangen haben wieder etwas Farbe angenommen.

«Frau Ritter?»

Sie zögert noch immer. «Gestern Nachmittag», sagt sie schliesslich kaum hörbar.

«Gestern Nachmittag», wiederholt Wunderlin.

«Ich …» Sie stellt das Glas wieder ab. «Wir haben das Spiel am Radio gehört. Ottmar wollte danach auf die Strasse, um zu schauen, was da los war. Dieser Zug der Deutschen, Sie wissen schon.»

Wunderlin nickt. Emil schreibt mit.

«Und dann ist er nicht mehr nach Hause gekommen?»

Sie schüttelt den Kopf.

«Haben Sie sich keine Sorgen gemacht? Jemanden kontaktiert?»

Wieder schüttelt sie stumm den Kopf.

«Weshalb nicht? Angenommen meine Frau würde über Nacht nicht nach Hause kommen – ich würde mich bei all ihren Bekannten erkundigen, bei der Polizei und beim Spital vorstellig werden.»

Emil stutzt. Er hat Wunderlin noch nie von seiner Frau reden hören.

«Es war nicht das erste Mal.» Sichtlich beschämt senkt Anna Ritter den Kopf.

«Er ist öfters weggeblieben?»

«Nicht öfters, nein. Aber es kam manchmal vor, wenn er getrunken hatte. Er trinkt nicht oft, aber wenn, dann … Er wusste, dass ich ihn nicht besoffen in der Wohnung will, vor der Kleinen. Er ist jeweils wiedergekommen, wenn er nüchtern war.»

Emil schreibt eifrig mit.

«Wo und mit wem hat er getrunken? Mit Arbeitskollegen vielleicht?»

«Kann sein.» Sie zuckt wieder mit den schmalen Schultern.

«Verkehrte er vor allem mit Deutschen?»

«Mit Deutschen. Mit Schweizern. Ottmar hatte gern Gesellschaft.»

Das klingt fast ein bisschen bitter. Emil schaut Anna Ritter forschend an, aber ihre Miene verrät nichts.

Wunderlin unterdrückt einen Seufzer, streicht über sein lichtes Haar, unter dem die Kopfhaut durchschimmert. Die Frau hat nicht viel zu sagen. Wahrscheinlich der Schock. Er kramt seine Zigaretten hervor. «Darf ich?»

Sie schaut ihn teilnahmslos an, nickt.

«Sie auch?»

Sie verneint. Wunderlin zündet sich eine Zigarette an. Anna Ritter steht auf und holt einen Aschenbecher aus der Kommode, reicht ihn dem Polizisten.

«Paulaner München», liest dieser halblaut den Schriftzug. «War da Ihr Mann her?»

Die Frau schaut verwirrt. Wunderlin deutet auf den Aschenbecher. «München.»

«Nein. Den muss er mal geschenkt bekommen haben.»

«Woher kam denn Ihr Mann?»

«Aus Buch, einem kleinen Dorf, etwa vierzig Kilometer von München entfernt. Aber da war er lange nicht mehr.»

Wunderlin nickt, Emil schreibt.

«Hat Ihr Mann mit den Nationalsozialisten sympathisiert? Wir haben ein entsprechendes Fähnchen bei ihm gefunden und wo München doch die Hauptstadt der Bewegung ist …»

Anna Ritter schaut müde aus, erschöpft, dunkle Ringe zeichnen sich unter ihren Augen ab. «Der Ottmar war kein politischer Mensch. Und ein Fähnchen habe ich nie bei ihm gesehen. Ich verstehe nicht, was das mit dem Tod von Ottmar zu tun haben soll.»

«Vielleicht hat sich ihr Mann durch seine Gesinnung Feinde gemacht. Gerade hier im roten Töss sind Nazis nicht besonders hoch im Kurs.»

«Wie ich bereits sagte: Ottmar hatte mit Politik nichts am Hut.»

«Sonst jemand, der ihm nicht wohlgesinnt war?»

«Ich weiss nicht», murmelt sie. Sie erhebt sich halb vom Sofa. «Ich muss jetzt das Mittagessen kochen für mein Margritli. Die Schule ist bald aus.»

«Nur noch ein, zwei Fragen, Frau Ritter.»

«Ich kann nicht mehr. Bitte.»

Wunderlin merkt, dass es nichts bringt. «Sagen Sie uns noch, wo Ihr Mann gearbeitet hat, Frau Ritter. Dann lassen wir’s gut sein für heute.» Er erhebt sich ebenfalls, Emil tut es ihm gleich.

«Bei Sulzer. Schweisser war er.» Sie trägt den Aschenbecher und das Wasserglas in die Küche. «Was soll ich bloss dem Margritli sagen?», murmelt sie vor sich hin.

Wunderlin geht ihr nach, steht in der Küchentür. «Sie müssen im Spital vorbeigehen.»

«Im Spital?»

«Zur Identifizierung.»

«Oh.» Sie stellt das Glas und den Aschenbecher neben das Spülbecken. «Muss ich?»

Wunderlin nickt.

«Wenn ich muss, dann muss ich wohl», sagt sie und eilt ins Wohnzimmer, öffnet das Fenster, wedelt den Rauch weg.

Winterthur 1937

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