Читать книгу Winterthur 1937 - Eva Ashinze - Страница 6
Оглавление1Auto um Auto wälzt sich in einer langen Kolonne die Zürcherstrasse entlang, dazwischen Camions, alle mit deutschen Nummernschildern, alle vollbesetzt. Es ist laut, eine Kakofonie aus Hupen und «Sieg Heil»-Rufen, Kuhglockengeläute und schrillen Pfiffen. Der Lärm hallt von den mächtigen Backsteinfassaden der Lokomotivfabrik wider.
Ottmar zwängt sich durch die Menge auf dem Trottoir. Sein Kopf schmerzt fürchterlich. Er versucht, mit der Hand seine Augen gegen das Sonnenlicht abzuschirmen. Schweisstropfen bilden sich auf seiner Stirn, gleichzeitig fröstelt er. Versehentlich rempelt Ottmar eine Gruppe Rotfront-Rufe grölender Männer an und erntet böse Blicke. «Pass doch auf, du Tubel.»
Eine Hakenkreuzfahne wird von der Ladefläche eines Camions geschwungen, schwarz auf weiss auf rot. Ottmar hebt intuitiv die rechte Hand zum Gruss. Neben ihm steht ein Bub, dreht dem Fahnenträger eine lange Nase, schreit gellend: «Haut ab, ihr Nazi-Seckel!»
Ein Krampf lässt Ottmar vor Schmerz aufstöhnen; er greift mit beiden Händen an seinen Bauch.
«Herr Ritter, ist Ihnen nicht gut?»
Ottmar schaut auf. Eine junge Frau mit lockigem Haar und warmherzigen, braunen Augen mustert ihn besorgt.
«Mir ist so elend», sagt er, aber seine Zunge ist trocken und klebt am Gaumen, die Worte klingen nicht richtig.
«Ich verstehe nicht.»
«Lass ihn», schreit der Bub. «Der ist sicher auch ein Nazi.» Er versucht, Ottmar ans Schienbein zu treten.
«Also sag mal, Bueb!», schimpft die Frau. «Man hilft, wenn es jemandem nicht gut geht.» Sie hält mit einer Hand den Jungen zurück, greift mit der anderen nach Ottmars Arm.
«Sie sollten sich einen Augenblick setzen. Da drüben in der Parkanlage ist es ruhig.» Sie zeigt mit der Hand Richtung Bürgerheim Brühlgut, das schräg gegenüber auf der anderen Strassenseite liegt. «Soll ich Sie hinbringen?»
Ottmar schüttelt den Kopf und macht seinen Arm los. Sie mustert ihn zweifelnd.
«Ich gehe ein paar Schritte neben Ihnen her, bis es Ihnen besser geht.» Ihr Tonfall ist bestimmt.
Ottmar erwidert nichts, geht weiter, an der Fabrikpforte vorbei. Die Frau bleibt an seiner Seite. Nach einigen Metern bleibt Ottmar schwer schnaufend stehen, übergibt sich, wischt sich den Mund mit dem Jackenärmel ab.
Seine Begleiterin wendet sich angewidert ab. Von wegen Hilfe benötigen, denkt sie. Der Kerl ist einfach nur total besoffen.
«Ritter, du Saukerl.» Ein junger Bursche hat sich genähert, mustert Ottmar mit blanker Wut in den Augen und versetzt ihm einen Stoss.
Der hebt abwehrend die Hände. «Nicht. Ich habe solche Schmerzen», murmelt er kraftlos.
Das beeindruckt den Burschen nicht; er boxt ihn mit der Faust in die Magengegend. Ottmar stöhnt auf, krümmt sich. Der Angreifer will nachlegen, aber er wird an der Schulter zurückgehalten.
«Jakob, was machst du denn da?» Die junge Frau mustert ihn entsetzt. «So kenne ich dich gar nicht.»
Ottmar nutzt die Gelegenheit, taumelt auf die Strasse, zwängt sich zwischen zwei Wagen durch. Eine Kuhglocke läutet neben seinem Ohr. Er zuckt zusammen, stolpert. Mit Mühe hält er sein Gleichgewicht, drückt die Hände an den Kopf.
«Ruhe. Ich will nur Ruhe.» Er taumelt weiter, kämpft sich in Richtung des grünen Laubwerks des Parks des Bürgerheims. Alles an ihm ist nur noch Schmerz.
Mit letzter Kraft schleppt er sich durch den Parkeingang und auf die Wiese, übergibt sich erneut. Er macht noch einige Schritte und lässt sich dann unter einem Busch auf den weichen Rasen fallen, presst seine Stirn auf den kühlen Boden und schliesst die Augen. Der Geruch der Erde erinnert ihn an seine bayerische Heimat, an seine Mutter, die Tag für Tag draussen gearbeitet hat. Wie oft hat er ihr als Kind dabei geholfen, Karotten oder Kartoffeln zu ernten. Sie war eine schweigsame Frau, die Mutter, mit schönen Augen. Augen wie Greta sie hat. «Greta», flüstert er. Seine Finger krampfen sich um ein Büschel Gras. «Greta.»