Читать книгу Winterthur 1937 - Eva Ashinze - Страница 12
Оглавление6«Schon halb zwölf», lässt Wunderlin nach einem Blick auf die Uhr verlauten. «Kein Wunder, knurrt mein Magen.» Emil geht es ähnlich; er hat einen Bärenhunger.
«Ich nehme an, du warst auch noch nie da drin?» Wunderlin deutet auf die «Braustube».
Emil schüttelt den Kopf.
«Dann lass uns testen, wie das Essen hier schmeckt.»
Im Inneren des Lokals ist es düster, es riecht nach abgestandenem Rauch und Bratfett, aber es ist gut besucht. Die meisten Gäste sind Blaumacher und ältere Männer im Ruhestand. Sie sitzen zu dritt oder viert an den eckigen Tischen, vor ihnen Biergläser, volle Aschenbecher, manche jassen, manche essen zu Mittag.
Wunderlin lässt sich an einem Vierertisch am Fenster nieder. «Fräulein», ruft er lautstark. «Zwei Stangen und zwei Mal Mittagsmenu.»
«D Schmier», murmelt einer.
«Was wollen die Schugger hier?», ein anderer.
Die Bedienung, eine füllige Blondine, mustert die Neuankömmlinge über den Zapfhahn hinweg, stellt dann zwei Gläser mit einer schönen Schaumkrone vor sie.
«Ah, das tut gut!» Wunderlin nimmt einen grossen Schluck. «Das lässt einen den unerträglichen Anblick eines Ermordeten schneller vergessen, ist es nicht so, Kern?», sagt er und spricht viel lauter als zuvor. Der eine oder andere Kopf dreht sich verstohlen in seine Richtung.
Dä Lappi, was soll das?, schimpft Emil innerlich, greift nach seinem Bierglas. Sollen gleich alle wissen, dass ein Toter quasi vor der Haustür gelegen hat?
Wunderlin scheint seine Gedanken zu erraten, zwinkert ihm zu. «Die arme Frau», fährt er in der gleichen Lautstärke fort. «Noch keine dreissig und schon muss sie den Mann zu Grabe tragen.» Nun hat er die Aufmerksamkeit der ganzen Gaststube.
Emil verschluckt sich, hustet.
«Geht’s?» Die Serviertochter stellt zwei dampfende Teller vor ihnen ab, klopft Emil auf den Rücken. Der nickt, seine Wangen haben sich gerötet.
«Der Schock, Fräulein, der Schock. Mein junger Kollege hat so einen Anblick noch nie ertragen müssen.» Wunderlin nimmt die Gabel zur Hand und spiesst munter gebratene Kartoffelscheiben auf. «Grausig sag ich nur, grausig», meint er mit vollem Mund.
Das Fräulein ringt mit sich. Die Neugier obsiegt schliesslich über das Misstrauen gegenüber der Polizei. «Wer ist’s denn?»
«Das dürfen wir nicht sagen, solange die offizielle Identifizierung aussteht», meint Emil. Er macht sich ebenfalls an die Kartoffeln. Eigentlich hat er auf etwas anderes gehofft. Hörnli zum Beispiel. Oder Reis. Kartoffeln, die gibt’s bei seiner Vermieterin zuhauf. Gebratene Kartoffeln, gekochte Kartoffeln, ab und zu Kartoffelstock. Aber so ist es nun mal. Im Herbst werden hundert Kilogramm Kartoffeln bestellt und die reichen dann für ein Jahr, so hat es schon seine Mutter gehandhabt. Bis vor Kurzem musste man froh sein, hatte man überhaupt Kartoffeln zu essen.
«Mein Kollege hat natürlich recht, eigentlich dürften wir nichts sagen. Aber die Neuigkeit wird sowieso bald die Runde machen. Deswegen unter uns», Wunderlin senkt die Stimme, das Fräulein beugt den Kopf zu ihm hinunter, «es ist Ottmar Ritter von nebenan.»
«Ottmar!», ruft das Fräulein entsetzt und schlägt sich die Hand vor den Mund.
«Sie kannten ihn?»
Sie nickt. Ihre vormals rosige Gesichtsfarbe ist einer fahlen Blässe gewichen. «Wir alle hier kennen ihn. Er ist ein Stammgast.» Sie lässt sich auf einen freien Stuhl fallen. «Das ist ja schrecklich. Der Ottmar.» Sie wischt sich mit der Hand über die Augen.
Wunderlin säbelt an seinem Kotelett. «Schrecklich, Sie sagen es.» Er schiebt sich ein Stück Fleisch in den Mund. «Wie war er denn so, der Ottmar?»
Wirklich clever, selbst ich bin darauf reingefallen. Er gewinnt ihr Vertrauen und befragt sie, ohne dass es ihr auffällt, denkt Emil, während er sein Fleisch kaut. Es schmeckt gut, besser als er beim Anblick der verrauchten Gaststube vermutet hat. Er legt die Gabel nieder, kramt nach seinem Notizbuch. Das trägt ihm unter dem Tisch einen Tritt ans Schienbein ein. Na gut, dann nicht.
«Ottmar ist…» Sie verstummt. «Ottmar war ein Lebemensch. Hat gern getrunken, gelacht, sich amüsiert.» Sie schluckt leer.
«Christel, bring mir noch eins!» Ein Mann drei Tische weiter hebt sein leeres Glas. Christel ignoriert ihn.
«Er war oft hier, der Ottmar. Da drüben ist er immer gehockt.» Christel deutet auf einen Tisch hinten in der Ecke. «Wenn nichts los war, habe ich mich ab und zu für ein paar Minuten zu ihm gesetzt. Zum Reden», fügt sie schnell an, als könnten die Polizisten etwas anderes vermuten.
«Christel, noch eins!» Der Ruf wird ungeduldiger.
«Worüber haben Sie denn geredet?»
«Ist das wichtig?» Christels Stimme bricht.
«Alles kann wichtig sein.» Wunderlin spiesst Kartoffeln auf die Gabel. Christel sitzt da wie ein Häufchen Elend.
«Er hat von seinen Plänen erzählt. Die Fabrik wollte er hinter sich lassen, er hatte andere Geschäfte in Aussicht, wollte ein besseres Leben. Aber ich kann mich nicht an alles erinnern. Er hatte eine schöne Stimme, wissen Sie. Ich habe ihm gern zugehört», gesteht Christel.
«Christel, wird’s bald. Die Gäste warten.» Ein grosser, bärtiger Mann mit einer Schürze um den dicken Bauch kommt aus der Küche, schaut sich suchend um und tritt dann an den Tisch der Polizisten: Seine Miene ist alles andere als freundlich.
«Wir unterhalten uns gerade mit dem Fräulein Christel.» Wunderlin nimmt den Kotelettknochen in die Hand und nagt das restliche Fleisch ab.
Der Bärtige wirft Wunderlin einen finsteren Blick zu. «Das Fräulein Christel ist meine Frau. Und wenn ihr Schugger euch weiter mit ihr unterhalten wollt, dann macht das, wenn sie keine Gäste zu bedienen hat.» Er fasst Christel unsanft am Oberarm.
Schnell steht sie auf. «Ich komme ja.»
«Nur ein paar Fragen noch, Frau Christel.» Wunderlin wischt sich gelassen die Finger mit der Serviette ab. «War Ritter gestern auch hier?»
Sie schüttelt den Kopf. «Sonntags haben wir geschlossen.»
Wunderlin nickt zufrieden. «Wenn Ritter nicht allein oder mit Ihnen da gesessen hat, mit wem hat er sich dann unterhalten?»
Christel zuckt mit den Schultern. «Wir haben eine Menge Stammgäste, mit denen ist er zusammengehockt.»
«Wir brauchen eine Liste mit Namen.»
«Eine Liste! So weit kommt’s noch.» Der Wirt stemmt die grossen Fäuste in die Seite, auf seiner Stirn bilden sich Schweissperlen. «Damit ihr hernach meine Kunden belästigen könnt?»
«Wir belästigen niemanden nur um der Belästigung willen, dafür haben wir gar nicht die Ressourcen», hält Wunderlin fest. «Aber es gilt, einen möglichen Mord aufzuklären.»
«Ist’s jetzt Mord oder kein Mord? Wenn ihr euch festgelegt habt, reden wir nochmals über diese Liste.» Der Wirt gibt Christel einen Stoss. «Nun mach, Alfons wartet schon lange auf seine Stange. Und ich muss nach hinten, das Bier wird geliefert.» Tatsächlich fährt in diesem Moment ein Zweispänner am Fenster vorbei. Emil schaut interessiert zu, wie die schweren Pferde den mit Holzfässern beladenen Wagen ziehen. Er hat schon vernommen, dass die Haldengut-Rössli eine Winterthurer Tradition sind und das Bier seit über hundert Jahren mit Gespann an die lokalen Gaststätten ausgeliefert wird, auch wenn andere Brauereien sich mittlerweile dem technischen Fortschritt ergeben haben und auf Lastwagen umgestiegen sind.
«Hatte Ritter Feinde, ist er mit jemandem aneinandergeraten?»
«Hier drin ist er nie in eine Schlägerei verwickelt gewesen, falls Sie das meinen», meint der Wirt mürrisch. «Aber ich habe keine Ahnung, was er sonst so getrieben hat.» Er wischt sich mit einem Tuch über die Stirn, dann stampft er davon.
«Das war ja ganz interessant», sagt Wunderlin. Er hat die letzte Kartoffel aufgegessen, legt das Besteck hin und greift nach seinem Bier. Emil macht sich derweil daran, den Knochen abzunagen.
«Was für Schlüsse ziehst du aus unserer kleinen Unterhaltung mit dem Fräulein Christel und ihrem Gatten?»
Emil überlegt. «Christel mochte Herrn Ritter sehr gern. Die Nachricht seines Todes hat sie getroffen, das hat man gemerkt.»
«Der Meinung bin ich auch. Ich denke sogar, diese Nachricht hat sie sehr getroffen. Ich frage mich, ob zwischen den beiden nur eine harmlose Schwärmerei war oder mehr.» Er greift nach einem Zahnstocher, stochert damit in seinen Zähnen. «Der Wirt ist auf jeden Fall nicht gut auf Ritter zu sprechen. Und er hat angefangen zu schwitzen, als er mit uns geredet hat.»
Emil macht sich eifrig Notizen, hält Wunderlins Vermutungen fest.
«Lass uns gehen. Hier werden wir im Moment nichts mehr in Erfahrung bringen können. Am besten wir gehen auf direktem Weg zurück aufs Revier, dann können wir vor der Besprechung mit Schäppi den Papierkram erledigen.»
Dann kann ich noch den Papierkram erledigen, meinst du, denkt Emil, denn die Schreibarbeit bleibt meist an den Dienstjüngsten hängen. Er sagt nichts, nickt nur mit vollem Mund. Wunderlin zieht derweil sein Portemonnaie aus der Tasche und legt ein paar Münzen auf den Tisch.
«Das nächste Mal bist du dran», sagt er zu Emil und zündet sich eine Zigarette an. «Was war eigentlich los vorhin da oben in der Wohnung?», fragt er beiläufig.
«Was meinst du?»
«Jetzt tu nicht so. Zwischendurch hast du ganz schön die Fassung verloren. Als du nach dem Alter von Ritters Tochter gefragt hast.»
«Es war nichts.» Emil schiebt mit dem Messer den Knochen auf dem Teller hin und her. «Nur eine Erinnerung.»
«Ein Elternteil zu verlieren, ist nie einfach. Aber als Kind ist es besonders schwierig.» Wunderlin bläst Rauch aus. «Oder als Jugendlicher.» Nun schaut er Emil an, schiebt das Zigarettenpäckchen in seine Richtung. Der greift dankbar zu. «Die Polizei ist wie eine grosse Familie: Wenn du lange genug dabei bist, erfährst du alles über jeden.» Er nimmt einen Zug. «Die spanische Grippe, hm? Diese verdammte Seuche hat mehr Opfer gefordert als der Krieg. Morgens krank und abends tot. Allein im Kanton Zürich starben jeden Monat über zweihundert Menschen.»
Emil konzentriert sich darauf, das Streichholz an die Zigarette zu halten, verdrängt die Erinnerung an die Mutter, die blass und fiebrig im Bett gelegen und ihm zugeflüstert hat, es werde alles wieder gut. Er nimmt einen tiefen Zug.
«Wenn ich dir einen Rat geben darf, Emil», Wunderlin klopft Asche ab, «vermische nie Berufliches und Privates. Weder bei den Erinnerungen noch bei den Gefühlen. Das trübt dein Urteilsvermögen.» Er schiebt seinen Teller von sich. «Und nun lass uns gehen.»
Sie erheben sich, setzen die Mützen auf. Wunderlin klopft Emil auf die Schulter. Emil ist gerührt. Der Korporal mag behäbig sein und zu viel saufen, fähig ist er aber allemal, das hat er in den letzten Stunden gezeigt. Und das Herz hat er auch auf dem rechten Fleck.
«Schönen Tag, die Herren», ruft Wunderlin in den Saal. Niemand erwidert seinen Gruss. Er tritt an den Tresen, wo Christel ein Bier zapft, drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus. «Auf Wiedersehen, Frau Christel», sagt er, und fügt leise an: «Ich bin Korporal Gottfried Wunderlin vom Kantonspolizeiposten Neumarkt. Nur für den Fall, dass Ihnen noch irgendetwas zu Ottmar Ritter in den Sinn kommen sollte.»
Christel stellt das Glas ab, greift nach dem nächsten und füllt auch das. «Adieu, Herr Korporal Wunderlin», sagt sie, ohne ihn anzuschauen.