Читать книгу Winterthur 1937 - Eva Ashinze - Страница 13
Оглавление7«Wunderlin, Kern, in mein Büro. Es gibt Neuigkeiten.» Schäppi steht unter der Tür, sein Gesichtsausdruck verheisst nichts Gutes. Emil, der gerade konzentriert das Protokoll des Leichenfundes tippt, erschrickt und drückt so fest auf das A, dass der Typenhebel im Papier stecken bleibt.
«Wo ist Wunderlin?» Schäppi schaut sich suchend um.
«Er musste kurz austreten.»
«Sofort zu mir, wenn er auftaucht. Beide.» Schäppi will wieder in seinem Büro verschwinden, hält inne. «Kern, hat Hess etwas zur Todesursache sagen können?»
«Schlag auf den Hinterkopf, meint er. Sturz sei so gut wie ausgeschlossen.»
«Kein Unfall also.» Schäppi seufzt. «Wär auch zu schön gewesen.» Er wirft die Tür hinter sich ins Schloss.
Emil löst den verklemmten Hebel, tippt weiter, aber mit seiner Konzentration ist es dahin. Er schaut auf die Uhr. Es ist eine halbe Stunde her, seit Wunderlin zur Toilette gegangen ist. Lange wird der Leutnant nicht mehr warten wollen. Emil greift zum Telefon und wählt die interne Kurznummer des Bezirksgefängnisses.
«Kern hier. Ist Wunderlin bei euch oben?» Der Gefängnisaufseher erteilt ihm eine abschlägige Antwort. Emil versucht es im Büro des Bezirksanwalts, aber auch da hat keiner seinen Kollegen gesehen. Emil steht seufzend auf. Wohl oder übel muss er sich selbst auf die Suche machen, auch wenn er sich über Wunderlins Verhalten ärgert; er will schliesslich bei Schäppi einen möglichst guten Eindruck hinterlassen. Er verlässt das Zimmer, nimmt den Durchgang nach hinten in den Innenhof und schaut sich suchend um. Kein Wunderlin. Stattdessen trifft er auf den Erkennungsdienstler Hess, der, eine Zigarette im Mund, Löcher in die Luft starrt.
«Hast du Wunderlin gesehen?», fragt er.
Hess wird aus seinen Gedanken gerissen. «Erinnerst du dich an die Hände des Toten, Kern?», fragt er zusammenhangslos. «Da waren keine Abwehrspuren erkennbar. Die Kleidung war nicht zerrissen.» Er schüttelt den Kopf. «Irgendetwas ist merkwürdig an diesem Tatort, das sage ich dir.»
Emil hört nicht richtig zu, murmelt etwas Unverbindliches. «Weisst du, wo Wunderlin ist?», hakt er ungeduldig nach.
«Der wollte in den ‹Metzgerhof›. Hatte Durst.»
Emil macht rechtsumkehrt und geht den Weg zurück, den er gerade gekommen ist, verlässt das Bezirksgebäude über den Vorderausgang. Die Wirtschaft zum Metzgerhof liegt direkt gegenüber; sie ist bekannt für ihre Blut- und Leberwürste. Emil hat da auch schon mit einem Kollegen ein Feierabendbier getrunken. Zügigen Schrittes überquert er den Neumarkt. Heute ist kein Markttag, sonst wäre kein so leichtes Durchkommen. Die Luft im Innern des «Metzgerhofs» ähnelt derjenigen in der «Braustube», aber sie scheint noch verrauchter zu sein. Emils Blick fällt sofort auf Korporal Wunderlin. Er sitzt, die Uniformjacke aufgeknöpft, in Gesellschaft von zwei Männern in Anzügen am runden Tisch in der Mitte, vor sich eine halbvolle Stange und ein leeres Schnapsglas.
«Wunderlin!», ruft Emil und hebt die Hand. Der Korporal schaut auf, nickt ihm zu, macht jedoch keine Anstalten aufzustehen. Genervt nähert sich Emil seinem Kollegen. «Du musst sofort mitkommen. Wir sollten längst im Büro vom Chef sein.»
«Ah bah, Rapport ist um zwei. Jetzt haben wir noch nicht mal halb.» Wunderlin schaut Emil mit glasigen Augen an. «Daran erkennst du die Ehrgeizigen», sagt er zu seinen Tischgenossen. «Sie sind nie pünktlich, sondern immer zu früh.» Die beiden lachen.
«Es geht nicht um den Rapport», entgegnet Emil beherrscht und beugt sich vor. «Anscheinend hat es eine neue Entwicklung in unserem Fall gegeben», sagt er leise. «Schäppi will uns sofort sehen.»
«Eine Entwicklung, so, so. Na, dann muss ich wohl.» Wunderlin steht auf, kippt den Rest seines Biers in einem Zug hinunter.
Auf dem Neumarkt wirft Emil einen seitlichen Blick auf den Korporal. «Die Jacke», sagt er leise und bleibt stehen.
Wunderlin schaut an sich hinab und macht sich daran, die Knöpfe zu schliessen. Dann setzt er seine Mütze auf. «Bin ich jetzt präsentabel genug?»
Emil nickt und geht schweigend weiter.
«Also, was will der Adolf?», fragt Wunderlin, als sie das Bezirksgebäude betreten. «Uns den Krieg erklären?» Er kichert vor sich hin.
Emil verzieht keine Miene, zuckt mit den Schultern.
«Bist du eingeschnappt, weil ich dich ehrgeizig genannt habe? Sei ehrlich, Kern, du bist ehrgeizig. Du hast dieses hagere Äussere, diesen gehetzten Blick des ehrgeizigen Mannes. So was erkenne ich sofort.»
Nun bleibt Emil stehen; sie befinden sich im Entrée des Bezirksgebäudes. «Dieser Fall ist wichtig für mich, Wunderlin», sagt er. «Ich will nicht ewig Gefreiter bleiben.»
In diesem Moment reisst Schäppi die Tür auf, sein Gesicht ist gerötet, er mustert Wunderlin mit hochgezogenen Augenbrauen. «Ich muss wohl nicht fragen, wo Sie gesteckt haben, Korporal.» Er schnüffelt. «Das riecht man.»
«Ich habe meine Fühler ausgestreckt», sagt Wunderlin, nicht im Geringsten beschämt. «Ich wollte hören, ob der Tote vom Brühlbergpark schon Thema an den Stammtischen ist.»
Emil wirft Wunderlin einen erstaunten Blick zu. Ist das eine Ausrede, oder steckt tatsächlich mehr hinter dem Beizenbesuch als die Lust auf ein Bier?
«Das Gerücht über einen möglichen Mord macht tatsächlich bereits die Runde.» Wunderlin räuspert sich. «Es wird gemunkelt, dass in der Hitze der gestrigen Auseinandersetzungen an der Zürcherstrasse ein roter Tössemer auf einen Nazi losgegangen sei.»
«War der Ritter ein Nazi?», wirft Schäppi ein.
«Soweit wir wissen nicht. Die Ehefrau meint, er sei kein politischer Mensch gewesen. Aber Ehefrauen wissen nicht immer alles. Oder sie lügt.»
«Gehen Sie dem nach», befiehlt Schäppi, während er sich umdreht und zurück in sein Büro steuert. Wunderlin und Emil folgen. «Das passt zu dem, was mir gemeldet worden ist.» Schäppi lässt sich schwer in seinen Sessel fallen und heisst die beiden Polizisten, ihm gegenüber Platz zu nehmen. «Höchst unangenehme Neuigkeiten.» Er streicht mit Zeigfinger und Daumen über seinen Schnauzbart. «Ein weiterer Deutscher ist angegriffen worden. Er hat zum Glück überlebt und liegt verletzt im Spital.»
«Was?» Emil kann seine Überraschung nicht verbergen.
«Wann ist das passiert?», fragt Wunderlin. «Und wer hat Bescheid gegeben?»
«Ihr Kollege, Korporal Bischof, ist wegen eines Unfalls – ein Kind ist angefahren worden – im Spital; er hat die Einlieferung des Deutschen mitbekommen und mich sofort angerufen.»
«Hat Bischof mit dem Verletzten gesprochen?»
«Nein», antwortet Schäppi auf Emils Frage. «Ich habe ihn zurückgepfiffen. Besser, das bleibt alles in den gleichen Händen.» Er trommelt mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. «Ich habe Bischof absolutes Stillschweigen verordnet. Das gilt auch für Sie beide! Diese Sache ist explosiv. Wenn bekannt wird, dass in Winterthur jemand Jagd auf Deutsche macht, dann gute Nacht.» Er schüttelt das kahle Haupt. «Deutschland wird so etwas auf keinen Fall auf sich beruhen lassen. Die deutsche Gesandtschaft wird in Bern intervenieren. Und die Schweiz ist auf eine gute Beziehung zum grossen Nachbarn angewiesen, nicht zuletzt wegen der Wirtschaft. Wir müssen die Angelegenheit rasch klären. Sonst haben wir bald die Bundespolizei im Haus. Ich hoffe, ich kann mich auf Sie beide verlassen. Privates muss zurückstehen. Verstanden?»
«Verstanden, Herr Leutnant».
«Also ab ins Spital.» Schäppi entlässt Wunderlin und Emil mit einer Handbewegung. «Ich will über jeden Schritt informiert werden.»
Die Polizisten radeln hintereinander die Stadthausstrasse hinauf, queren die Tramschienen, biegen nach rechts in die Lindstrasse ein. Vom Pausenplatz des Altstadtschulhauses ertönt Geschrei, Buben toben umher, Mädchen sitzen auf der Treppe. Auf der anderen Strassenseite thront das Stadthaus, ein imposantes Sandsteingebäude mit Freitreppe, schräg dahinter das Museum. An dieser Ecke hat Winterthur etwas Grossstädtisches, das Emil an Zürich erinnert. Damit hat es sich aber auch schon mit der Ähnlichkeit.
Auf der Höhe des Bezirksgerichts bremst Emil ab, vor ihnen fährt der Haldengut-Zweispänner; er hat wohl seine Lieferrunde für heute beendet und ist auf dem Weg zurück in die Fabrik. Sie fahren hinter dem Wagen her, bis er in die Haldenstrasse einbiegt. Wunderlin und Emil verlassen die Lindstrasse, nehmen das schmale, von Bäumen gesäumte Strässchen, das quer durch die weitläufige Grünfläche zum Haupteingang des Kantonsspitals führt. Vor dem langgestreckten Gebäude mit dem Giebeldach parkieren sie die Velos.
Im Innern herrscht ein geschäftiges Treiben: Frauen in Schwesterntracht und mit weissen Hauben sind unterwegs, stützen Patienten oder eilen zur nächsten Verpflichtung, dazwischen der eine oder andere Arzt im weissen Kittel. Emil hält Ausschau nach dem Kollegen Bischof, entdeckt ihn in einer Ecke an die Wand gelehnt.
«Wo ist unser Deutscher?»
«Zimmer 207, zweiter Stock», liest Bischof von einem Zettel ab.
«Kannst du uns etwas sagen?»
«Nicht viel. Auf dem Flur habe ich gehört, wie eine Schwester zu einer Kollegin etwas über einen Deutschen mit Kopfverletzung gesagt hat. Auf meine Frage, worum es gehe, meinte sie, er sei wohl angegriffen worden.» Bischof zuckt mit den Schultern. «Ich habe das von eurem toten Deutschen mitbekommen, da habe ich zwei und zwei zusammengezählt und sogleich den Leutnant alarmiert.»
«Name?»
«Schäfer. Bernd Schäfer.»
Wunderlin nickt geschäftig. «Dann schauen wir uns das Opfer mal von Nahem an.»
«Soll ich euch begleiten?»
«Nicht nötig. Sollten wir uns verlaufen, fragen wir eine der netten Schwestern nach dem Weg.» Wunderlin klopft Bischof gönnerhaft auf die Schulter.
Bischof schaut ihn mit säuerlicher Miene an. «Hat anscheinend seine Vorteile, wenn man mit einer Cou-Cousine des Chefs verheiratet ist.» Er faltet seine Zeitung. «Dann werden einem die grossen Fälle zugeteilt.»
Wunderlin erstarrt für einen Moment, dann dreht er sich zu Emil um. «Komm, Kern», meint er und eilt voraus, ohne Bischof eines weiteren Blickes zu würdigen. Emil folgt verwirrt. Wunderlins Frau ist also eine entfernte Verwandte von Schäppi. So gesellig Wunderlin sich gibt, so zurückhaltend ist er mit persönlichen Informationen. Über sein Privatleben weiss Emil so gut wie nichts.
Vor Zimmer 207 bleibt Wunderlin stehen, klopft an und tritt ein, ohne die Antwort abzuwarten. Es riecht nach Karbol und Putzessig; Emil schüttelt es innerlich. Der Geruch ist ihm ein Graus. Vier Betten stehen im Zimmer, an jeder Längswand zwei. In dreien liegen Männer verschiedenen Alters, alle tragen das gleiche weisse Nachthemd, der eine schaut aus dem Fenster, zwei dösen. Das Eintreten der Polizisten lässt sie hochschrecken, neugierig sehen sie den Besuchern entgegen. Wunderlin mustert einen nach dem andern, tritt dann ans Bett eines Mannes Ende zwanzig mit turbanartigem Kopfverband.
«Bernd Schäfer?»
Der nickt, stöhnt leise. Unter seinem rechten Auge hat sich ein grosser, dunkelrot verfärbter Bluterguss gebildet, das Auge ist zugeschwollen.
«Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.»
«Ich bin ziemlich fertig», murmelt Schäfer und lässt sich tiefer in die Kissen sinken.
«Wir wollen herausfinden, wer Sie so zugerichtet hat», meint Wunderlin. Er schaut sich suchend um. «Kern, treib uns eine Sitzgelegenheit auf. Ich will den Mann nicht im Stehen befragen.» Er wirft den beiden anderen Zimmergenossen einen finsteren Blick zu. «Sie beide kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Das hier ist vertraulich.»
Emil tritt auf den Korridor. Dass er immer als Laufbursche herhalten muss, geht ihm gegen den Strich. Wenn er Korporal ist, wird es damit ein Ende haben. Er schaut sich suchend um, doch hier gibt es weit und breit keinen Stuhl. Stattdessen taucht unvermittelt eine Schwester auf. Sie sieht kompetent aus in ihrer gestärkten Uniform, das graue Haar streng zurückgenommen, die Haube blütenweiss, eine Brille mit schmalem Goldrahmen auf der Nase. Kompetent und einschüchternd.
«Kann ich Ihnen helfen?»
Emil fragt nach Stühlen.
«Besucherstühle gibt es auf dieser Etage nicht», meint die Schwester. «Wir wollen ja nicht, dass unsere Patienten durch Personen, die zu lange auf dem Zimmer bleiben, in ihrer Genesung gestört werden.» Sie schaut ihn vielsagend an.
«Wir bleiben nicht lange», rechtfertigt er sich eilends. «Wir müssen Herrn Schäfer nur ein paar Fragen stellen.»
«Bernd Schäfer in 207?» Die Schwester wischt ein nichtvorhandenes Stäubchen von ihrer Uniform. «Brauchen Sie Details, wie die Schlägerei abgelaufen ist? Ich hätte nicht gedacht, dass dafür gleich zwei Kantonspolizisten abkommandiert werden.»
«Wir müssen den Sachverhalt klären», weicht Emil aus. «Es gibt da einige … einige Unklarheiten.»
Die Schwester blickt ihn mit unbewegter Miene an. «Sie finden Stühle im Besucherraum im Erdgeschoss.»
Emil bedankt sich.
«Bringen Sie die Stühle anschliessend dahin zurück, wo sie hingehören!», ermahnt sie ihn im Weggehen.
Er nickt, murmelt leise: «Zu Befehl, Schwester.»
Sie ist bereits ein paar Meter den Korridor entlang gegangen, da dreht sie sich noch einmal um. «Ich nehme an, Sie wollen auch mit den anderen Beteiligten sprechen.»
Emil ist verwirrt. «Was meinen Sie?»
«Nun, Herr Schäfer ist nicht der einzige, der eingeliefert wurde. Wussten Sie das nicht?» Sie schaut ihn an, das künstliche Licht im Korridor spiegelt sich in ihren Brillengläsern.
Emil zögert.
«Einer ist nebenan in Zimmer 209. Und einer hier drüben in 214. Gebrochene Nase, angebrochene Rippen. Vielleicht interessiert Sie das auch, wenn Sie mit dem Deutschen fertig sind.» Die Schwester dreht sich um, geht festen Schrittes den Flur entlang.
Emil hingegen bleibt wie vor den Kopf gestossen an Ort und Stelle stehen. Dann klopft er an die Tür von Zimmer 214. Die Ausführungen der Schwester haben ihn neugierig gemacht.
Knappe zehn Minuten später ist Emil wieder in 207, stellt einen Stuhl vor Wunderlin hin. Der beäugt sowohl Emil als auch den leichten Holzstuhl mit der geschwungenen Lehne und der Sitzfläche aus Korbgeflecht misstrauisch. «Eine geschlagene Viertelstunde bist du unterwegs und bringst mir dann so etwas? Ich hoffe, dieser Kaffeehausstuhl bricht nicht unter mir zusammen.» Emil geht nicht darauf ein, setzt sich auf den Stuhl, den er für sich mitgebracht hat. «Ich habe mich mit einer Schwester unterhalten, draussen auf dem Flur», sagt er leise und beugt sich zu dem mittlerweile auch sitzenden Wunderlin. «Schäfer ist nicht angegriffen worden. Der hat sich geprügelt und zwar heftig.»
«Geprügelt?»
«Mindestens zwei weitere Verletzte liegen auch hier auf dem Flur. Ich habe einen der beiden befragt.»
Wunderlin blickt Schäfer an. Dieser versucht, sich möglichst klein zu machen in seinem Bett, schielt mit seinem gesunden Auge von einem Polizisten zum anderen. «Und?»
«Anscheinend hat unser Freund hier ein aufbrausendes Temperament.» Emil deutet auf Schäfer. «Aus einer Kabbelei unter Besoffenen ist eine Schlägerei geworden.»
«Mir hat er etwas anderes erzählt. Er hat gesagt, er wisse nicht mehr, was genau passiert sei. Er sei bei der Arbeit gewesen, über Mittag habe er mit seinen Kumpanen ein paar Bierchen gezischt, und plötzlich sei er im Spital wieder aufgewacht.» Wunderlin beugt sich vor, stützt die Arme auf die Oberschenkel. «Reden wir Klartext, Freundchen.»