Читать книгу Schwarzblauer Mohn - Eva Kiewning - Страница 7

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Sophie

In diesem Moment rutscht ein kleines Foto heraus. Es katapultiert mich unversehens zurück in eine noch frühere Zeit meines Lebens, nämlich in die Jugend- und Schulzeit.

In eine Zeit mit Sophie! Und schon sitze ich wieder, unverrichteter Dinge.

Oft waren Sophie und ich einfach nur unterwegs, durchstreiften die Straßen, Wiesen und Felder. Jede Art und Möglichkeit nutzten wir, um uns irgendwie davonzumachen. Dafür mussten wir uns nie besonders weit entfernen. Geheime Stellen hatten wir genügend. Wir wohnten direkt am Wald. Dort versteckten wir uns und rauchten sogar heimlich. Sophie zeigte mir Haselnussbäume, die ich vorher noch nicht kannte.

Sie war es auch, die mich das erste Mal entführte, und zwar in ein Feld voller Mohnblumen. Diesen herrlichen Anblick werde ich nie vergessen! Ein Meer aus wunderschönem roten Mohn. Wir konnten den Blick davon nicht abwenden. Wir liefen tief in das riesige rote Feld und legten uns einfach hinein. Sophie war ein paar Jahre älter und reifer als ich. Natürlich wusste sie schon da vom Opium und seiner berauschenden Wirkung. Sie war der felsenfesten Überzeugung, dass, wenn wir uns in eine Mohnblumenwiese legen, wir einschlafen würden. Bei mir klappte das nicht! Schön war es trotzdem.

Manchmal war ich auf ihre Erfahrungen etwas eifersüchtig, besonders auf die mit Jungs. Sophie wollte ich nicht teilen, weder mit unserer gemeinsamen Freundin noch mit anderen. Und schon gar nicht mit Jungs. Wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Mich beeindruckte sie immer durch ihre coole und mutige, aber auch liebe Art. Nichts schien sie zu ängstigen oder zu erschüttern. Wenn ich mit ihr unterwegs war, fühlte ich mich wohl. Zum Unmut meiner Mutter tauschten wir auch unsere Kleidung aus. Sophie bekam meine Cordhose und ich ihre Ohrringe, an denen ein kleines Kreuz hing. Mutti sah unsere Gemeinschaft generell eher kritisch sowie den Umgang mit ihr nicht besonders förderlich, da meine Freundin schon zweimal in der Schule die berühmte Ehrenrunde drehte. Zumindest äußerte sie in dieser Richtung ihre Kritik. Im Nachgang hatte meine Mutter wohl in erster Linie in sexueller Hinsicht Bedenken. Verstehen konnte ich das damals nicht. Wie schätzte mich denn meine Mutter ein?

Es dauert nicht lange und schon erinnere ich mich an unsere nächste Story.

Tatsächlich kam ich irgendwann das erste Mal, noch nicht volljährig, von einem Ausflug mit Sophie über Nacht nicht nach Hause! Gleich am nächsten Tag rief ich natürlich sofort als erstes meine Mutti an ihrer Arbeitsstätte an. Mir war schon klar, dass es eine Unterredung geben könnte. Doch zur Beruhigung wollte ich sie erst einmal über unsere heile Rückkehr informieren. Oh weh! Was ich nicht ahnte: Mutti war nicht im Bilde. Gut, das wussten wir zunächst ja auch nicht. Es war so nicht geplant. Als wir unseren Zug für die Rückreise verpassten, riefen wir Sophies Eltern umgehend an. Wir baten darum, dass sie auch meinen Eltern Bescheid geben. Das taten sie nicht!

Im Nachhinein kann ich die Reaktion meiner Eltern selbstverständlich nachvollziehen. Die Ärmsten müssen wahnsinnige Ängste ausgestanden haben.

„Du gehst sofort wieder nach Hause und dort wartest du auf mich!“ Das war eine klare Ansage. Ich spürte Ärger auf mich zukommen. Leicht irritiert lief ich wieder heim. Das anschließende Gespräch verlief glimpflich für mich. Konnte ich ihr doch versichern, dass wir unseren Zug verpassten und der nächste erst am Tag darauf fuhr. Allerdings brauchte ich eine Weile, bis ich verstand, was genau Mutti meinte. Als ich ihr dann sagte, dass mit dem Jungen nichts lief, atmete sie auf. Spätestens da erzählte ich von unseren wahren Beweggründen. Natürlich ging es um Jungs. Beide verknallten wir uns in den Sommerferien und hatten Sehnsucht. Dass es keine Jungs mehr waren, bemerkte ich zu spät. Es sollte eine Überraschung werden. Und so wusste niemand von unserer Ankunft. Meine Freundin und ich wollten zunächst getrennte Wege gehen. Wir machten uns aber, für alle Fälle, einen Treffpunkt aus. Schließlich waren wir uns unserer Überrumpelung nicht ganz sicher. Zwar fanden wir unsere Idee Klasse, aber kam sie auch gut an? Diese Unsicherheit war nicht ganz unberechtigt. Dass der Fall eintreten sollte, schneller als gedacht, war uns da noch nicht klar.

Jedenfalls rief ich meinen Freund an und bekam die erste kalte Dusche. Freude klang anders. Aber er versprach zu kommen. Wir verabredeten uns im nahegelegenen Park.

Wenn ich heute darüber nachdenke, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. „Mein Gott, war ich naiv.“ Wie versprochen kam Matthias. So hieß er. Mein Herz schlug wie wild. Doch dann wurde es ernst und schnell verflog der Zauber. Nun erfuhr ich die Wahrheit! Dass er kein Junge mehr war, wurde mir schlagartig bewusst. Er beichtete mir, dass er verheiratet sei und es ihm leid täte, dass ich umsonst hergefahren sei. Oha, dass hat gesessen! Mit allem hätte ich gerechnet. Aber damit? Niemals! Dass er nie auf meine Briefe reagierte, hatte ich verdrängt. Doch in diesem Augenblick kam es bei mir an.

Lange konnte er nicht bleiben. Und so saß ich alleine in diesem Park auf der Bank, in einer fremden Stadt. Und nun? Sophie war bei ihrem Freund und ich hatte keine Ahnung, ob ich sie finden würde. Damals gab es kein Handy. Und ausgekannt hatte ich mich auch nicht. Irgendwie funktionierte es aber gut. Wir fanden zueinander. Meine Laune war dahin. Ich war sehr traurig und betrübt. Sophie dagegen war happy. Bei ihr lief es gut. Wann wir entschieden, an dem Tag noch nicht heimzufahren, weiß ich heute nicht mehr. Dass ich Sophie einen Gefallen tat, lag auf der Hand. Für mich machte es keinen Sinn. Manchmal muss man eben Opfer bringen. Wir täuschten dann den verpassten Zug vor und planten unsere Heimreise für den nächsten Tag. Übernachtet hatten wir bei Sophies Freund. Er wohnte bei seiner Mutter in einem alten Haus. Sie versorgte uns mit Essen und Betten. Wir waren gut untergebracht. Trotzdem fühlte ich mich nicht ganz so wohl. Aber egal! Ja, das war eine Episode an der ich zu knabbern hatte. Denn ich mochte ihn. Auch wenn er anfänglich nicht ehrlich war, verhielt er sich dann doch anständig. Was wäre passiert, wenn es anders gelaufen wäre? Hätte ich mich wehren können und wollen? Darüber vermag ich gar nicht nachzudenken.

Unserer Freundschaft war das nicht besonders zuträglich. Ab diesem Zeitpunkt machten meine Eltern keinen Hehl mehr daraus und bestraften Sophies Eltern mit Nichtachtung.

Welche Beweggründe müssen die Eltern von Sophie getrieben haben, meine Eltern darüber in Unkenntnis zu lassen? Na ja, Mutti wusste ja schon früh, warum sie den Umgang nicht besonders gern sah. Trotzdem hielten wir lange an uns fest, gerade im Sommer. Wir vergaßen einfach die Zeit. Besonders in den großen Schulferien trieben wir uns, bis es dunkel wurde, in den Wäldern herum. Oft hatte ich deswegen Ärger mit meinen Eltern. Dass sie sich einfach nur sorgten, kann ich so richtig erst als Erwachsene verstehen. Es war ja keine Absicht!

Wohl und willkommen fühlte ich mich in meiner Familie zu jeder Zeit. Dass es bei ihr anders sein sollte, erkannte ich erst viel später. Sophie und ich waren vom Typ sehr ähnlich. Beide waren wir groß und sehr schlank. Und wir liebten die Bewegung. Entweder waren wir mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs. Sie war sportlich viel aktiver und wollte mich für Leichtathletik begeistern. Das schaffte sie auch. Doch mein Arzt wiegelte ab. Zu dieser Zeit befand ich mich noch im Wachstum. Das verursachte ordentliche Schmerzen. Bei einem unfangreichen Test stellte der Arzt bei mir eine Übergelenkigkeit fest. Mutti konnte gar nicht zusehen, wie er mir die Beine verbog. So wollte er den Schmerzgrad feststellen. Das war der Sinn der Übung. Es sah schlimmer aus, als es war. Tatsächlich hatte ich währenddessen keinerlei Beschwerden. Irgendwann spürte ich dann doch eine Grenze. Für mich war das nur amüsant. Na ja, jedenfalls riet mir unser Orthopäde vom Leistungssport ab. Früher oder später sollte ich sonst eine Kandidatin für Knochenprobleme werden. Mutti war zu allen Zeiten mit Hüfte und Beinen problembehaftet. Somit stand früh fest, dass ich im Sport keine Karriere machen würde. Schade, mochte ich ihn doch sehr! Egal, die Zeit, die wir hatten, nutzten wir aus. Oft saßen wir im Treppenhaus und unterhielten uns. Über Gott und die Welt. Und natürlich auch über Jungs. Sophie begann sich irgendwie zu verändern. Sie wirkte oft traurig. Und sie weinte. Wenn ich sie dann fragte, was denn los sei, antwortete mir Sophie: „Ach nichts. Es kotzt mich nur alles an.“ Damit konnte ich nicht allzu viel anfangen.

Manchmal begleitete ich sie beim Einkaufen. Auch, wenn sie ihre Mutter vom Bus abholte. Das fand ich merkwürdig. Immer musste sie ihre Mutter oder ihren Vater abholen, entweder direkt von der Arbeit oder vom Bus. Da wir gerne spazieren gingen, machte uns das nichts aus. Warum ich da mitging? Wenn ich mich recht entsinne, bat mich Sophie darum.

Vorher haben wir die Wohnung aufgeräumt. Na ja, aufgeräumt war übertrieben. Denn das war sie ja schon. Doch was sauber machen hieß, lernte ich erst dort kennen. Für mich war das an sich nichts Neues. Wenn ich von der Schule heimkam, räumte ich auch erst einmal auf. Na, ja … es waren Kleinigkeiten. Ich legte die Sofadecke zusammen und schüttelte die Sesselkissen auf, richtete die Tischdecke, staubsaugte und spülte die Gläser und das Geschirr. Bei Bedarf ging ich einkaufen. Ja, das war normal! Anschließend kümmerte ich mich um meine Schulaufgaben. Das war schon so eine Marotte von mir. In einer unaufgeräumten Atmosphäre konnte ich mich nicht konzentrieren. Zur Freude meiner Mutti! Sie genoss es und fand es schön von mir. Dass sie es von mir verlangte, das war nie so.

Wenn wir dann bei Sophie waren, wurde es schon grotesk. Sie saugte fast eine Stunde einen eh schon sauberen Teppich. Blau war er! Schön und lupenrein, sauber und super dick und flauschig. Er war wirklich schön. Wenn ich sie darauf hinwies, dass es doch nun genügte, schüttelte sie den Kopf. „Die Bahnen vom Staubsauger müssen sichtbar sein! Und kein Fusselchen darf mehr zu sehen sein.“ Erst wenn ihr geschultes Auge sicher nichts mehr erblickte, wirkte sie zufrieden. Der gespülte Aschenbecher stand an einem bestimmten Platz. Überhaupt hatten die Dinge ihre genaue Anordnung.

Danach betraten wir das Wohnzimmer nicht mehr. Ob es ihren Eltern genügte, stellte sich erst später heraus. Oft genug nicht! Am Schlimmsten war, wenn sie zum einkaufen geschickt wurde. Es widerte sie regelrecht an. Mh … als ich erfuhr, was sie holen sollte, verstand ich. Es war Alkohol. Ihre Eltern schickten sie zum Stoff oder Zigaretten holen. Entsetzt fragte ich nach, ob sie denn überhaupt schon welchen bekomme. Sie nickte nur. Mir tat sie da echt leid.

Sophie hatte ständig Hausarrest. Gut, sie hatte ihre Probleme in der Schule. Aber Hausarrest machte es nicht besser. Das waren dann die Momente, wenn wir im Treppenhaus beieinander saßen. Einmal waren wir auf dem Dach des Hauses. Es war schwindelerregend hoch! Sophie ging bis an die Dachkante, setze sich sogar dort hin und ließ ihre Beine baumeln. Mir wurde schon beim Anblick aus der Entfernung schlecht. Ich flehte sie an, damit aufzuhören. Nie wieder ging ich mit ihr dort hinauf. Rückblickend würde ich sagen, dass sie irgendwie lebensmüde schien. „Was wohl aus ihr geworden ist?“ Bestimmt dreißig Jahre habe ich sie nicht mehr gesehen. Schon damals war sie in keinem guten Zustand. Es war nicht zu übersehen, dass sie mittlerweile selbst ein Problem mit Alkohol und Zigaretten hatte. Sophies Zähne waren damals schon nicht die besten.

„Was wohl aus Sophie alles hätte werden können?“, frage ich mich betroffen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Kurve gekriegt hat, ist gering.

Endlich in der Küche angekommen, gieße ich mir Kaffee nach. Dabei stoße ich mich so ungeschickt am Schrank, dass ich kurz an mich halten muss.

„Auuua, das gibt einen blauen Fleck“, fluche ich vor mich hin.

Und plötzlich erinnere ich mich weiter und erschrecke über die Gedanken. Ein Schauer fährt über meinen Rücken. Im ersten Augenblick weiß ich nicht, wohin damit. Sofort schießen mir die Tränen in die Augen. Über meinen eigenen Schmerz rutsche ich in den meiner Freundin Sophie.

„Das hatte ich total vergessen“, sage ich erschrocken vor mich hin. Und da ist das Bild. Blitzblaue Flecken an den Armen und am Rücken. Ja, die hatte Sophie oft! Manchmal bekamen sie in der Mitte so eine dunklere Färbung. Und diese Verfärbung breitete sich dann allmählich aus. Nach ein paar Tagen, wenn sich die Konturen weiter auflösten, wirkten sie wie Blumen. Aber eigentlich sahen sie wie aufgeblühter Mohn aus. Nur eben blau. Wenn dann später die Farben Gelb und Braun dazu kamen, wollten wir Stiefmütterchen erkennen. Ob meine Bemühungen, sie aufzumuntern, glückten? Denn ganz sicher wollte ich das! Sie von diesem Schmerz befreien. Blumen tun doch nicht weh.

Jetzt muss ich weinen. Die Erinnerung übermannt mich.

„Mein Gott, die arme Sophie.“

Meine Erinnerung daran nimmt mir die Lust, weitere Fotos zu betrachten.

Die Tage vergehen und meiner Entscheidung, wie es weitergehen soll, bin ich nicht näher gekommen.

Schwarzblauer Mohn

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