Читать книгу Schwarzblauer Mohn - Eva Kiewning - Страница 8

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Lisa

Das Telefon klingelt. Erst vernehme ich es weit weg und kaum hörbar. Dann wird der Klingelton gefühlt immer lauter und will gar nicht mehr aufhören. Er wirkt seltsam bedrohlich.

Als ich den Hörer abnehme, höre ich die Worte von Tina:

„Evelyne, sitzt du?“

„Jetzt ja!“

„Lisa ist tot!“

„Was?“ Entsetzt stelle ich die Frage ein zweites Mal. Doch es folgt nur eine knappe Wiederholung.

„Was ist passiert?“, frage ich fassungslos nach.

„Anne hat mich angerufen und sie weiß es von Lisas Mann. Können wir kommen? Wir sind völlig überfordert.“

„Natürlich kommt ihr!“

„Wir sind schon auf dem Weg zu dir und gleich da.“

Nach ein paar Minuten höre ich sie und laufe ihnen entgegen.

Völlig aufgelöst umarmen wir uns und weinen.

„Dass wir uns so schnell wiedersehen, damit hat wohl keiner gerechnet und schon gar nicht unter diesen Umständen“, sage ich mit leiser Stimme.

„Diesmal habe ich Charly auch angerufen. Sie ist unterwegs und dürfte gleich da sein“, fügt Anne hinzu.

„Wollt ihr etwas zu trinken? Kaffee, Tee?“

„Kaffee, Tee? Hast du auch etwas anderes?“, meint Tina.

„Ja sicher, du hast recht. Da muss ein Schnaps her. Den könnte ich jetzt auch gebrauchen. Ich kann es nicht fassen.“

Währenddessen ist Charly eingetroffen und wird von Tina und Anne in Empfang genommen. Mit Whisky komme ich zurück. Die Mädels sind vollkommen von ihren Emotionen überrollt. Und auch ich kann mich nicht mehr halten.

Wir brauchen eine ganze Weile, bis wir uns einigermaßen gefasst haben. Tina ist nicht in der Lage zu erzählen und bittet Anne zu berichten. Normalerweise ist Anne so schnell nicht zu beeindrucken. Sie hat ihre Gefühle immer gut unter Kontrolle.

Doch bevor sie anfängt, schaut sie mich auf einmal so merkwürdig an. Erst weiß ich es nicht einzuordnen. Auch Charly und Tina fällt es auf.

„Was ist?“, frage ich sie und hebe meine Schultern an.

„Du hast es geahnt, oder?“

Überrascht und ihre Frage nicht einordnen könnend, frage ich mit großen Augen nach:

„Was meinst du damit? Ich kann dir nicht folgen.“

Indessen ungehalten, schauen die Mädels und werden nervös und fragen was denn los sei.

Doch ich habe wirklich keinen Schimmer, worauf Anne anspielt.

„Unser letztes Treffen. Erinnerst du dich nicht?“

„Anne, ich weiß jetzt nicht, worauf du hinaus willst? Lisa ist tot und wir wollen wissen, was passiert ist!“

Plötzlich platzt es aus ihr heraus.

„Sie hat sich umgebracht!“

Für einen Moment ist Totenstille.

„Lisa hat was?“ Natürlich habe ich es verstanden. Und doch wiederhole ich das Unfassbare.

Fassungslos und völlig entsetzt starren wir uns an und können und wollen es nicht glauben. Mit einer Wucht, die sich wie eine Lawine gnadenlos über uns hinwegrollt, wollen die Worte irgendwie noch nicht ankommen.

Langsam weicht der Schock den Tränen. Leise bahnen sie sich ihren Weg über unsere Gesichter. Anne ist derweil aufgestanden und flüchtet sich ans Fenster.

Noch immer kann ich in meinem Wirrwarr keinen klaren Gedanken fassen. Und doch fügen sich allmählich bruchstückhaft Puzzleteile zusammen. Uns hat schon eine fast unerträgliche Stille erreicht. Sie ist kaum auszuhalten. Wie ferngesteuert laufe ich in Richtung Anne. Doch ich spüre, dass sie mir ausweichen will. Noch auf dem Weg zu ihr, entschließe ich mich dann doch in Richtung Küche zu gehen. Nun setze ich uns Kaffeewasser auf und beginne den Tisch vorzubereiten. Charly nutzt die Situation, um mir dabei behilflich zu sein.

„Charly, geht es? Oder brauchst du etwas?“

„Müssten wir dich doch fragen. Alles gut. Aber es ist schön, dass du es tust. Was ist das, mit dir und Anne?“

„Keine Ahnung, ich stehe gerade etwas auf dem Schlauch.“

Allmählich kommt wieder Leben in die Räume zurück. Halbwegs gesammelt und gefasst nehmen wir die Aussage hin. Sie akzeptieren können wir jedoch nicht. Noch nicht. Aus Fassungs- und Sprachlosigkeit wird Wut und Betroffenheit. Erst drückt sie sich durch vage Sätze wie: „Hat irgendjemand eine Ahnung oder Vermutung gehabt?“, „Wie konnte das nur passieren?“ aus. Etappenweise folgen dann Sätze und Dialoge. Und dann ist sie da, die große Diskussion!

Am Ende ist und bleibt es ein Trauerspiel. Antworten haben wir keine. Zunächst nicht. Was bleibt, ist ein dumpfes Gefühl der Ohnmacht, gepaart mit Schuldgefühlen.

„Merkwürdig, warum habe ich das Gefühl der Schuld oder zumindest der Mitschuld?“, fragt Anne in die Runde. Tina antwortet, immer noch leicht wütend: „Warum fühlst du dich schuldig? Es war ihre Entscheidung und Punkt. Das wäre ja noch schöner. Dann dürften wir uns ja alle die Frage stellen.“

„Ja, tust du es etwa nicht? Kannst du dich davon wirklich einfach so frei machen?“

„Was soll das? Was habe ich mit der Entscheidung von Lisa zu tun?“

„Moment mal. So ganz verstehe ich das auch nicht? Wenn, warum auch immer, Lisa sich dazu entschlossen hat, dem Leben ein Ende zu machen, dann ist es ihre Sache! Es geht ja auch um ihr Leben“, wirft Charly ein.

„Das‚ warum auch immer, könnte uns jedoch um die Ohren fliegen. Was ist, wenn sie sich zum Beispiel einsam fühlte? Sind wir dann als ihre Freundinnen immer noch frei von Schuld?“, werfe ich ein.

„Das ist doch alles Spekulation? Wo soll das hinführen?“, fragt Tina.

„Mh, im Zweifel zum Nachdenken“, sage ich etwas verlegen.

„Wenn es das ist, was sie wollte, dann hätte sie mit uns reden können und müssen! Aber … redet man denn darüber?“, sinniert Tina unsicher.

„Worüber? Was meinst du damit?“, fragt Anne etwas echauffiert nach.

Betroffen sagt Tina: „Na ja, darüber sich das Leben nehmen zu wollen … Aber wahrscheinlich eher nicht. Es sei denn, man wird darauf angesprochen. Dafür müsste man es ja merken. Haben wir da etwas übersehen? … Vielleicht ist es doch zu müßig, darüber nachzudenken“, legt Tina nach.

„Machen wir es uns da nicht etwas zu einfach?“, hakt Charly ein.

„Oft eben nicht“, meine ich.

Anne wendet sich uns wieder zu und setzt sich mir gegenüber. Wieder schaut sie mich dabei so erwartend an.

Endlich verstehe ich.

„Ach, jetzt weiß ich, was du vorhin meintest. Es geht um unser letztes Treffen.“

Tina und Charly schauen verblüfft.

„Erinnerst du dich also?“

„Ja, aber ob das mit der jetzigen Situation zusammenhängt?“ „Natürlich tut es das“, drängt sich der nächste Gedanke auf.

„Was war denn?“, will Tina wissen.

„Als ihr neulich da gewesen seid, hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas Unausgesprochenes zwischen uns steht. Es war etwas eigentümlich. Ich hatte auch eine körperliche Wahrnehmung, die ich nicht einordnen konnte. Als ihr, du, Tina und Lisa, gegangen seid, erzählte ich Anne davon. Das war es eigentlich schon.“

Irgendwie möchte ich mich nicht darauf einlassen. Doch Charly fragt nach, ob ich die körperliche Wahrnehmung etwas näher beschreiben könnte. Und sofort bin ich wieder im Energiefeld.

Als eine leichte Beklemmung oder so eine Art Vibrieren im Brustkorb und einem merkwürdigen Druck am Hals beschreibe ich sie. Gerade als ich davon berichte, bekomme ich Gänsehaut. So, dass ich mich schütteln muss. Plötzlich schlägt Anne ihre Hände vors Gesicht und schreit. Die Mädels versuchen sie zu beruhigen. Nach einer Weile sagt Tina ganz vorsichtig zu Anne: „Ich wusste gar nicht, das ihr zwei so eng seid. Ach sorry, wart.“

Immer noch völlig erfasst sagt Anne: „Das waren wir auch nicht. Nicht mehr als ihr. Aber das ist es nicht! Nicht nur. Evelyne, du fragtest neulich, wer die Idee für unseren letzten Mädelstreff hatte.“

„Nein! Nicht Lisa!“, reagiere ich erschrocken.

„Doch, genau so war es. Sie rief mich damals an und so kam der Termin zustande. Ihr werdet es ja auch noch nicht wissen. Aber ich sollte euch noch sagen, dass sich Lisa erhängt hat.“

Boom.

Plötzlich wird mir übel und ich habe Mühe, mich nicht schon im Wohnzimmer am Tisch zu übergeben. Gerade noch schaffe ich es ins Bad. Wieder zurück schauen mich alle mit geschocktem Blick an.

Anne lässt es heraus:

„Genau das meine ich! Du hast es schon vorher wahrgenommen. Und ich habe dir nicht zugehört.“

„Anne, es ist nicht deine oder meine oder unsere Schuld! Das, was ich da gefühlt habe, hätte ich nicht in Worten ausdrücken können. Das konnte keiner vorher auch nur im Ansatz ahnen!“

„Du hast es doch aber gespürt und …!“ Charly fällt ihr ins Wort: „Höre auf. Du verrennst dich da. Du kannst doch Evelyne deswegen keine Vorwürfe machen.“

„Das mache ich auch nicht! Niemandem will ich Vorwürfe machen. Mir geht es doch nur darum, dass es Lisa da schon möglicherweise wusste und ihre Entscheidung längst gefällt war. Evelyne hat es einfach nur irgendwie energetisch wahrgenommen. Das ist doch verrückt, oder nicht? Du hattest Halsprobleme und den Druck im Brustkorb. Du hättest doch auch an jeder anderen Körperstelle Schmerzen haben können. Aber ausgerechnet da?“

„Okay, jetzt verstehe ich dich! Aber darüber können wir ein anderes Mal reden. Dafür habe ich jetzt keinen Sinn und ich glaube, es hilft uns für den Moment auch nicht weiter.“

„Du hast recht. Lisa ist tot und ich bin ganz woanders“, sagt Anne etwas betroffen und entschuldigt sich dafür.

„Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Es ist deine Art, damit umzugehen. Für mich ist das in Ordnung und ich denke, ihr seid da meiner Meinung. Jeder verarbeitet es auf seine Weise. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, eine Gefühlsbombe warst du noch nie. Aber das ist in Ordnung. Wir kennen dich lange genug. Dass es kein Lieblingsthema von dir ist, wissen wir auch.“

Trotzdem meldet sich Anne gegenüber mein schlechtes Gewissen. Gefühlt tue ich ihr Unrecht. Da ich sie mit ihren Empfindungen stehen lasse und nicht da abhole, wo sie gerade ist! Denn sie hat ja recht und wie das ist, in so einer Situation nicht gehört zu werden, weiß ich zur Genüge. Obwohl ich mich dabei nicht wohl fühle, entscheide ich mich vorerst, es ihr zuzumuten.

„Kennen wir uns denn wirklich?“ Unsicher wenden wir uns Tina zu und heben die Schultern.

„Das dachten wir von Lisa ja auch. Warum hat sie mit uns darüber nicht gesprochen?“, sinniert Tina.

Plötzlich wirft Charly ein: „Vielleicht wollte sie das ja bei eurer letzten Verabredung tun? Wenn Lisa diejenige war, die sie anstieß?“

„Hör auf. Dann sind wir genau da, wovor wir Angst haben?“, fleht Anne Charly schon fast an.

„Wovor hätten wir denn Angst? Vor der Mitschuld? Hätten wir es verhindern können?“

So, und nun ist es heraus! Ich habe den magischen Satz ausgesprochen und wende mich Charly zu. Sie rettet uns. Tatsächlich ist sie der Profi! Sie ist die Frau vom Fach. Als Psychotherapeutin mit eigener Praxis hat sie den Plan. Aufmerksam hören wir ihr zu und kleben regelrecht an ihren Lippen.

„Dass wir es hätten verhindern können, glaube ich nicht, und ich denke, Evelyne, da bist du bei mir.“

„Geschickt wie immer.“ Sie weiß, dass ich es ebenso sehe. Doch nie würde sie die Lorbeeren für sich alleine beanspruchen. Dabei gönne ich sie ihr von Herzen. Beharrlich verweigert Charly ein selbstbewusstes Annehmen ihrer wahren Größe.

„Zu gut wissen wir, dass selbst die besten Ärzte, und ich rede auch von den Fachärzten aus der Psychiatrie, den Suizid nicht immer verhindern können. Es gibt verschiedene Phasen in einer schweren Depression. Ob Lisa eine hatte, können wir nur vermuten. Offensichtlich war sie zumindest selbstmordgefährdet. Nun, in diesen verschiedenen Phasen gibt es dann diese letzte Entschlussphase und vielleicht befand sie sich in dieser. Wenn, dann war es eine absolute Ausnahmesituation. Hier gibt es kein Zurück, da die Betroffenen zu einer wirklichkeitsnahen Einschätzung der persönlichen Situation nicht mehr fähig sind.

„Wie war denn Lisa bei eurem letzten Treffen drauf?“, will Charly wissen.

„Zwar nachdenklich, aber nicht auffällig. Ich würde sagen: sehr bei sich“, antworte ich. Die Mädels stimmen mir zu.

„Mh, na ja … vielleicht wollte Lisa sich bei eurem letzten Treffen verabschieden. Für sie war es offensichtlich geklärt. Die Menschen wirken dann völlig entspannt. Ja fast gelöst.“

„Entspannt und gelöst war sie jetzt aber auch nicht. Normal halt“, überlegt Anne laut.

Charly führt ihre Ausführungen fort:

„In der unmittelbaren Umgebung hinterlässt es oft ein Gefühl, als wären die Probleme geklärt und sie hätten ihre schwere Melancholie überwunden. Glücklich und erleichtert wird es dankbar registriert. Selbst eigene Familienmitglieder und engste Vertraute hegen oft keinen Verdacht. Das können tatsächlich nur wenige Geschulte, wenn überhaupt. Und verhindern lässt es sich nur noch, indem sie bei Gefahr auf Eigen- oder Fremdgefährdung in der Psychiatrie untergebracht werden. Das kann freiwillig oder auch zwangsweise erfolgen. Üblicherweise muss für eine zwangsweise Unterbringung von einem Arzt eine schwerwiegende psychische Störung diagnostiziert worden sein, aber auch eine Eigen- oder Fremdgefährdung belegt sein.1

Das kann nur ein Amtsarzt veranlassen und dazu braucht es Polizei und eine richterliche Anordnung!“

„Was für ein Prozedere!“, stellt Tina fest.

„Das ist wichtig! Aber das wäre eine extrem akute Situation. Wenn Lisa nicht damit gedroht hat und es ansonsten keine Verdachtsmomente gab, dann ist das sehr schwierig. Selbst wenn es indirekte Andeutungen gegeben hat“, gibt Charly zu bedenken und sagt weiter:

„Wenn ich auch nur im Ansatz irgendeinen Verdacht gehabt hätte, hätte ich das Gespräch mit Lisa gesucht.“

„Braucht es dafür nicht klare Anzeichen?“, fragt Tina Charly.

„Ganz so einfach ist das nicht. Die Anzeichen sind eben nicht immer so klar. Oft versteckt in Andeutungen. Also zum Beispiel: „Wenn ich nicht mehr da wäre, wäre alles viel besser.“

„Ach so“, sagt Anne.

„Es kann aber auch eine Psychose gewesen sein und Lisa hat sich in diesem Ausnahmezustand das Leben genommen“, ergänzt Charly.

„War Lisa bei dir in Behandlung?“, fragt Tina ganz leise und vorsichtig nach und schaut Charly unsicher an.

„Nein, Gott sei Dank nicht! Bei meiner ganzen Professionalität wüsste ich nicht, was es mit mir machen würde. Dafür wäre ich wohl zu nah. Keine Ahnung! So einen Fall hatte ich noch nicht. Es bleibt ja doch irgendwie ein Bruchteil an Zweifel zurück. Auf der anderen Seite hätte ich möglicherweise reagieren können. Ach, das ist echt schwierig.“

„Was hättest du denn gemacht, wenn Lisa deinen Verdacht bestätigt hätte? Hättest du überhaupt etwas tun können? Was meinst du mit dem Zweifel?“, schaut nun Anne Charly interessiert an.

„Ernst genommen hätte ich sie und ganz ausdrücklich nach ihren Suizidgedanken gefragt.“

„Ja, bringt man denn da nicht erst die Leute auf den Gedanken, sich umzubringen?“, fragt Tina ganz überrascht.

„Diese Menschen senden permanent Hilferufe ab. Direkt oder indirekt. Sie wollen in ihrem Leid ernst genommen werden. Dieser Leidensdruck ist unaushaltbar für die Betroffenen. Auch, wenn sie eine direkte Frage durchaus erschrecken könnte. Trotzdem ist es eine Chance. Vielleicht werden sie sich ihrer und auch der Signale, die sie senden, bewusst. Sie zurück ins Gefühl zu bringen, ist sehr schwierig. Damit haben die Betroffenen massive Probleme.

Hier gilt es, im Gespräch zu bleiben und abzuklopfen, wie ernst es ihnen ist. Inwieweit beschäftigen sie sich tatsächlich gedanklich mit dem Suizid? Deswegen ist es so wichtig im Gespräch zu bleiben und diese Frage zu stellen. Der Zweifel, der möglicherweise aufkommen könnte, wäre, ob ich es hätte verhindern können. Aber, das kann und will ich nicht beantworten. Es wäre viel zu anmaßend und würde mich selbst in einen Konflikt bringen.“

„Aber was meinst du denn mit Psychose?“, hakt Anne nach.

„Mh, es kann verschiedene Ursachen für einen Selbstmord geben. Und Psychosen sind da nicht auszuschließen. Vielleicht litt Lisa auch an einer uns unbekannten Erkrankung, die eine Psychose ausgelöst hat?“

„Kann das auch von Depressionen kommen?“, fragt Tina.

„Depressionen können auch von psychotischen Episoden begleitet werden, ja. Suizid kann aber auch ohne psychische Auffälligkeiten verübt werden. Plötzlich und spontan. Auch wenn das eher seltener vorkommt“, erklärt Charly bereitwillig.

„Egal, wie. Wir wissen einfach zu wenig, um irgendwelche Diagnosen aufzustellen. Es bleiben alles nur Vermutungen“, versuche ich von dieser Materie etwas wegzukommen.

Mit einem kurzen Nicken nimmt Charly dankbar und erleichtert meine Argumentation an.

„Dann war es ein letztes Spiel?“, heult plötzlich Anne los.

Wow, Anne habe ich noch nie so erlebt. Und in Gedanken nehme ich die unterstellte Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen, zurück.

„Nun, ich war ja nicht dabei. Aber vielleicht ist schon vorher etwas Ungewöhnliches vorgefallen. Was wissen wir den überhaupt von Lisa und ihrer Familie?“, versucht Charly etwas aus dem psychischen Thema herauszukommen. Tina schaut mich ängstlich und unsicher an und fragt: „Hast du etwas mitbekommen?“

„Puh, ich brauche erst einmal einen Sekt. Möchte noch jemand?“

Auf dem Weg in den Keller vernehme ich ein kollektives „Ja“.

„Oh weh, ich möchte gar nicht darüber nachdenken, wie es den Kindern und Pit ergehen muss. Wie alt sind die Kinder eigentlich? Anne, wann hast du das mit Lisa erfahren?“, erkundigt sich Tina.

„Pit hat mich heute Morgen angerufen. Der ist fix und fertig! Weiter nachzufragen traute ich mich nicht. Ich habe ihm aber meine Hilfe angeboten.“

„Das hast du gut gemacht!“, sagt Charly und Tina meint gleich: „Dann warst du die Erste, die von der traurigen Nachricht erfuhr. Was wird aus den Kindern?“

„Beide sind sie aus dem Gröbsten heraus. Aber ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Hoffentlich hat Lisa ein paar Zeilen hinterlassen“, beteiligt sich Anne, nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hat.

„Du meinst einen Abschiedsbrief?“ Charly schaut dabei etwas überrascht.

„Ja, das wäre doch denkbar. Für die Familie wäre das bestimmt hilfreich“, hofft Tina.

„Vielleicht aber auch nicht. Was müsste da stehen, dass es irgendwie hilft?“, wende ich ein.

„Na ja, irgendwie hoffe ich, dass sie lesen könnten, dass sie keine Schuld haben“, meint wieder Anne.

„Tja und da sind wir wieder beim Thema. Ich glaube, für uns als Freunde würde es hilfreich sein. Aber für die Familie? Selbst wenn sie frei von Schuld sind, ist Lisa, die Mutter der Kinder und die Ehefrau des Mannes, tot. Hier brechen ja zwei Rollen komplett weg. Und dann leben ja auch noch ihre Eltern. Sie ist ja nicht nur Mutter und Ehefrau, sondern auch Tochter. Ach, was sage ich, Lisa ist noch viel mehr. Sie hat auch einen Bruder. Und auch er hat Familie. Merkt ihr was?“, Charly schnauft dabei etwas erschöpft.

„Anne, ist es dir denn so wichtig, nicht schuldig zu sein?“ Ich wende mich ihr dabei zu.

„Ja, irgendwie schon! Warum, weiß ich nicht.“

„Anne, was wäre eigentlich, wenn genau das aber in dem Abschiedsbrief steht? Könntest du damit leben? Mit dem Wissen, schuldig zu sein?“, setze ich nach.

„Dann wäre kein Abschiedsbrief wohl besser“, antwortet Anne leicht irritiert.

„Eine Zeile, oder?“, meint nun Tina vorsichtig und fast flehend.

„Warum? Wem würde es nützen?“, schüttelt Charly fragend den Kopf.

„Den Kindern in jedem Fall!“, beharrt Tina auf ihrer Meinung.

Charly glaubt zu wissen, dass die Kinder vierundzwanzig und sechsundzwanzig Jahre sind. „Pit kam vor ein paar Jahren mit seiner Dachdeckerfirma in Schwierigkeiten“, erinnert sie sich weiter.

„War denn da nicht auch etwas mit einer anderen Frau?“, fällt es mir auf einmal ein.

Bröckchenweise kommen die Erinnerungen zurück. Und so rücken wieder längst vergessene Ereignisse ins Gedächtnis. Alle sind wir davon ergriffen. Denn nun keimt der Verdacht auf, dass wir uns selten, viel zu selten, um uns und unsere Probleme kümmerten. Aber wollten wir das überhaupt? Wollten wir in der kurzen Zeit des Beisammenseins uns wirklich mit den Alltagsnöten und Sorgen der anderen abgeben?

„Warum haben wir angefangen, uns regelmäßig zu treffen? Wann lief das eigentlich an? Kann sich da noch jemand erinnern?“, möchte ich wissen.

Charly meldet sich wie zu alten Schulzeiten. Etwas verlegen hebt sie ihren Zeigefinger.

„Es ging um meine Scheidung. Da trafen wir uns wohl das erste Mal. Aber Tina kam erst später dazu. Oder?“

Anne und ich überlegen. Und es ist nicht zu übersehen, dass nun bei jeder von uns ein Film abläuft. Um zu einer Antwort zu gelangen, spulen wir unsere Leben mit den wichtigsten Eckdaten im Schnelldurchlauf ab.

„Wann war das mit deiner Scheidung?“, fragt Anne nach.

„Ach herrje, vor fünfzehn Jahren.“

„Stimmt! Ab da trafen wir uns dann regelmäßig als Gruppe“, bestätige ich.

„Vorher traf ich mich mal mit dir Anne. Oder manchmal mit euch, Charly und Tina. Aber eher spontan. Irgendwann wollten wir jedoch den Spaß und das gesellige Beisammensein in den Vordergrund stellen.“

„Ja, jetzt fällt es mir wieder ein“, platzt es aus Charly heraus.

„Es ging ja nur noch um meine Scheidung. Und Lisa erfuhr dann auch von dem Verhältnis. Immer drehte sich alles nur noch um uns und unsere Probleme. Wir fühlten uns damals nicht so wohl und wollten euch damit nicht mehr überfluten. Auch wenn es mir oft half, mit euch darüber zu sprechen. Lisa und ich verabredeten uns dann hin und wieder alleine. Wir wollten euch damit nicht weiter belasten. Beide hatten wir darum gebeten, dass, wenn wir uns wieder treffen, wir es uns einfach nur schön machen wollen. Ab da begannen wir auch mit dem Kartenspielen. Wisst ihr das noch?“

„Ja, natürlich. Tina kam erst, als wir mit dem Spielen begannen, hinzu“, versichert Anne.

„Aber wir haben doch all die Jahre unseren Alltag nicht ausgeblendet. Das geht doch gar nicht. Wir wussten doch immer um uns Bescheid“, halte ich dagegen.

„Schon, aber nicht mehr in dieser ganzen Bandbreite. Tatsächlich wollten wir einfach nur Spaß miteinander haben und ein paar Stunden über nichts weiter nachdenken müssen“, ergänzt Charly.

„Zahlen wir jetzt den Preis dafür?“, fragt Tina.

„Wofür?“, frage ich nach.

„Dafür, dass wir nicht füreinander da waren, wenn es nötig war“, poltert Anne heraus.

Mir reicht es.

„Mädels, so wird das nichts! Wir sind immer füreinander da gewesen. Und auch jetzt sitzen wir gemeinsam hier. Das würden wir nicht, wenn wir uns und unserer Verantwortung nicht bewusst wären. Wir haben Hochzeiten und Geburtstage gefeiert, an Beerdigungen und Konzerten teilgenommen, an den kleineren und größeren Tragödien unserer Lieben und weniger Bekannten Interesse gezeigt.

Egal, wer. Stets hatte eine von uns ein offenes Ohr. Mehr braucht es auch manchmal nicht. Es ist unser gutes Recht, uns abzuschirmen und Grenzen zu setzen. Oft genug können wir es nicht tun. Und dass wir uns einmal dazu entschlossen hatten, die Zeit, die wir miteinander verbringen, genießen zu wollen, ist völlig in Ordnung. Es gab eine Zeit, da haben wir das für uns gebraucht. Und, so glaube ich, auch sehr genießen können. Jeder von uns hätte die Möglichkeit gehabt, es zu ändern. Wenn er es denn wollte. Manchmal haben wir ja auch nicht gespielt. Erinnert euch an die letzten Treffen. Lustig war anders. Dennoch wart ihr für mich da! Meiner Meinung nach brauchen wir weder jetzt noch irgendwann einmal ein schlechtes Gewissen und schon gar keine Schuldgefühle zu haben. Jedenfalls nicht, weil wir uns um uns gekümmert haben. Denn das haben wir sehr wohl auch beim Spielen getan!

Es bedeutet ja nicht, dass wir es bis ans Ende unserer Tage genauso halten müssen. Möglicherweise ändert sich nun der Rahmen. Auch das ist okay. Vielleicht aber auch nicht.

Entschuldigt bitte. Das musste jetzt einmal sein.“

Anne lässt einen tiefen Seufzer und Tina weint wieder. Charly nickt zufrieden, tröstet sie und meint:

„Ja, ich finde Evelyne hat recht. Wir brauchen nicht zu zweifeln. Und schon gar nicht an uns. Gerade weil wir uns so hatten, so wie es war, konnte ich mich darauf freuen. Es gab keinen Plan und kein Muss, nur Spaß. Wir sind schon eine tolle Truppe!“

„Vor allen Dingen über eine so lange Zeit. Das hat schon etwas! Die meisten Cliquen zerfallen irgendwann. Spätestens, wenn Kinder kommen oder …“ Charly fällt Tina ins Wort und lacht: „Oder Scheidungen.“

„Yeah …“, jubiliert Anne. „Das gefällt mir jetzt viel besser.“

„Mir auch. Mir auch …“

Unvermittelt und auch erleichtert stehen wir alle auf und umarmen uns.

„Wann haben wir uns das letzte Mal so zu schätzen gewusst?“, fragt Charly feststellend.

Betreten verstehen wir und stoßen mit unseren Gläsern auf Lisa an.

„Evelyne, du kannst nicht einfach fortgehen. Nicht jetzt.“

„Anne, so ganz ohne Schuld geht bei dir irgendwie nichts, oder?“

„Wieso?“

„Gerade versuchst du, mir welche zu implizieren.“

„Tue ich das? Oh sorry, das ist nicht meine Absicht. Scheint irgendwie mein Thema zu sein.“ sie schaut dabei in Richtung Charly.

„Du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Ich will nicht deine Therapeutin sein!“, ruft Charly ihr zu.

„Schade, wir hätten bestimmt viel Spaß“, sagt Anne etwas schmunzelnd.

„Was du so unter Spaß verstehst, möchte ich gar nicht wissen“, grinst Charly zurück.

Plötzlich gibt es einen so heftigen Schlag, dass ich mein Sektglas vor Schreck aus der Hand fallen lasse. Tina hat aufgeschrien und Charly ist kreidebleich geworden. Anne läuft wieder in Richtung Fenster und glaubt, dass es daher gekommen ist.

„Was war das?“, will Charly, immer noch blass, wissen.

„Es muss am Fenster gewesen sein. Ist die Scheibe kaputt?“, fragt Tina.

„Ich kann nichts sehen“, sagt Anne beruhigend.

„Wartet, ich schaue draußen nach. Ich habe schon so eine Vermutung.“

Tatsächlich erblicke ich einen wunderschönen Buntspecht unterm Fenster liegend. Vorsichtig nehme ich ihn und bringe ihn mit hinein.

„Schaut mal, was für ein Prachtexemplar.“

„Lebt er noch?“, fragt Tina ganz besorgt.

„Keine Ahnung. Aber ich lege ihn in eine Schachtel. Dann werden wir sehen. Hin und wieder kommt es vor. Das letzte Mal erwischte es einen Kleiber. Er überlebte, verlor aber ein Auge. Deswegen habe ich die Scheiben etwas beklebt. Scheint aber nicht allzu viel zu bringen. Wenn ich ihn draußen liegen lasse, fressen ihn die Katzen. Denen gönn ich das nicht! Vielleicht erholt er sich. Den letzten Vogel konnte ich aufpäppeln. Möglicherweise hat er sich aber auch das Genick gebrochen … Was für eine blöde Metapher.“

„Das gibt es doch nicht. Hier spukt’s.“

„Typisch Anne“, sage ich streng. Sie versteht natürlich.

Irgendwann haben sich die Mädels wieder beruhigt und sind ihrer Wege gegangen. Was für ein Tag. Ich bin total erschöpft und kann nicht glauben, was sich in den letzten Stunden zugetragen hat.

Noch vor Kurzem erfüllte die gesamte Palette an Emotionen diesen Raum. Wir haben geweint, geschrien, gelacht und waren wütend und betroffen. Das an sich ist nichts Ungewöhnliches. Doch dass es so komprimiert war, gab dem Ganzen eine Dynamik, wie ich sie selten erlebe.

Dass Lisa nun nicht mehr unter uns ist, kann ich mir noch gar nicht vorstellen. Es bleibt ein merkwürdiges Gefühl. Sie hinterlässt ein Loch. Obschon ich mit Verlusten oft zu tun hatte, fühlt es sich doch immer wieder anders an. Mein geliebter Mann hinterlässt ein so großes gefühltes Vakuum, das so voll von Energie scheint, dass ich es wirklich fühlen kann. Bei Lisa ist es eine momentane Leere. Eben ein Loch. Aber auch das ist total spürbar. Als meine Halbschwester so elendig starb, fühlte es sich an, als ob auch ein Teil von mir ging. Das war unsagbar schmerzhaft und ist jetzt noch nicht für mich abgeschlossen. Immer, wenn ein Mensch aus unserem unmittelbaren Umfeld stirbt, geht mit ihm ein Stück von uns. Je enger es war, umso intensiver ist der Schmerz. Aber warum tut es so weh? Weil auch wir immer dann ein kleines Stück (mit)sterben? Sterben wir in Raten? Ist es ein Vorgeschmack auf das große Sterben?

Ab einem gewissen Alter kommt man nicht umhin und glaubt, ständig irgendwie vom Tod umgeben zu sein. In Wirklichkeit ist seine Präsenz vom ersten Atemzug an da. Doch wir nehmen sie nicht wahr. Mir ging es jedenfalls so. Als Kind und auch später dann hatte ich dafür kein wirkliches Gespür. Natürlich machte es mich traurig, wenn Menschen starben, und doch konnte ich mir diese Endgültigkeit nicht vorstellen, den Tod nicht vorstellen.

Erst mit dem Alter rückt er stärker in den Fokus. Und nun ist seine Anwesenheit permanent zu spüren. Nicht nur das. Sie katapultiert sich durch Ereignisse, wie dem von Lisa, in brutalster Form ins Leben.

Mit diesen Gedanken schlafe ich ein, um erst am späten Vormittag aufzuwachen. Schon lange habe ich nicht mehr so intensiv durchschlafen können. Natürlich träumte ich auch in dieser Nacht. Es hätte mich sehr gewundert, wenn es nicht so gewesen wäre.

Im Traum glaubte ich, in einer Art Rauschzustand meine Umwelt wahrzunehmen. Erst wälzte ich mich nackt mit einem mir unbekannten jungen Mann wild und leidenschaftlich umher. Als ich mich leckend an seinem Oberkörper empor arbeitete, bemerkte ich den Schweiß und die Feuchte an seinem Körper. Gerade noch feststellend, dass er am Bauch behaart war, fand ich mich plötzlich woanders wieder. Meine Position habe ich verändert. Noch immer liegend, aber jetzt auf der rechten Seite mit angewinkeltem Arm leicht abgestützt, konnte ich direkt in den Wald blicken. Irgendwie war ich dabei völlig relaxt. Obwohl es Nacht war, schien ein Licht im Wald, aus einer Lichtung kommend. Im Vordergrund standen zur linken und rechten Seite Bäume und Sträucher. Kein Blatt war an ihnen zu sehen. Und doch wirkte es durch das einfallende warme Licht angenehm. Es schien aus der Mitte des Waldes herzukommen.

Irgendwie sah es surreal aus. Es flogen kleine weiße Flöckchen herunter und ich versuchte, sie zu greifen. Eigentlich wirkten sie eher wie Pollen und Blütenstaub im Sommer. Aber es waren Schneeflocken in ihrer leichtesten Form, wie ich sie noch nie gesehen habe. Es schien sich alles wie auf einem überdimensionalen Panoramabild mit 3D-Effekt abzuspielen. Und doch war ich dort drinnen. Aber auch wieder nicht. Mein Versuch, mehr zu erkennen, scheiterte. Es blieb surreal und schön. Gern wäre ich dort geblieben. Von diesem magischen Ort, an dem sich Tag und Nacht trafen, wollte ich nicht fort!

1 Lehrbuch HP f. Psych. S. 302 20.7.2 Unterbringung

Schwarzblauer Mohn

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