Читать книгу Sie zu lieben - Eva Lejonsommar - Страница 5
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ОглавлениеMarie zog das Fahrstuhlgitter zu und drückte auf den Knopf. Der Fahrstuhl brachte sie mit quietschenden Seilen ins Erdgeschoß. Sobald sie draußen war, füllte sie die Lungen mit Luft. Es war unerwartet kühl, und sie schlug den Mantelkragen hoch und ging mit großen, schnellen Schritten Richtung Stadt.
Gelbe und rote Blätter wurden über den Fußpfad unten am Wasser gewirbelt, als ob jemand sie an einer Schnur befestigt hätte, um mit ihnen zu spielen. Sie dachte an die Laubhaufen, die sie unter den Apfelbäumen bei Annas Eltern zusammengekehrt hatten, und fragte sich, ob Karin sie wohl weggeräumt hatte, nachdem sie gefahren waren, oder ob der Wind schneller gewesen war.
Marie machte einen Schritt zur Seite und zog die Füße nach wie ein Schlittschuhfahrer. Sie pflügte durch Berge von Laub, die aufgewirbelt wurden und über das Wasser davonflatterten. Sie lachte laut über ihr Benehmen und war beinahe glücklich.
Als sie zur St. Eriksgatan mit dem morgendlichen Berufsverkehr kam, war auch das Unbehagen wieder da. Helen Källberg würde im Lauf des Tages vorbeikommen und ein persönliches Gespräch mit allen Angestellten im Reisebüro führen. Offiziell hieß es, sie wolle ihre Mitarbeiter kennenlernen und umgekehrt. Aber es bestand der Verdacht, es sei nur ein Scheinmanöver, ein pfiffiger Schachzug aus dem Hauptquartier.
Der Branche ging es insgesamt nicht gut, und viele machten sich Sorgen um ihren Job, auch die freiesten Vögel, weil die unbesetzten Zweige, auf die man sich flüchten konnte, knapp wurden. Wenn es gelang, die Solidarität unter den Angestellten aufzubrechen, sie glauben zu machen, daß sie die eigene Haut retten konnten, wenn sie der neuen Chefin nach dem Mund redeten, würde es am Ende leichter sein, einzelne Leute herauszupicken. Wenn man die Gewerkschaft draußen halten konnte, versteht sich. Aber der Organisierungsgrad war schlecht. Sie selbst war auch nicht Mitglied, weil sie sich nicht mit ihrem Beruf identifizierte. Es war als vorübergehende Lösung gedacht gewesen, die jetzt permanent geworden war.
Obwohl sie von Anfang an mit dem Gedanken gespielt hatte zu kündigen, spürte sie jetzt doch, wie sich alles in ihrem Bauch zusammenzog, wenn sie daran dachte, daß sie vielleicht eine von denen war, die gehen mußten. Sie ließ sich oft krankschreiben. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrem Job – weder mit den Kollegen noch mit den Aufgaben. Sie ließ gerne andere zuerst das Telefon abnehmen und die Kunden oft wieder gehen, anstatt sie festzunageln, um zu einem schnellen Abschluß zu kommen.
Sie war eigentlich eine miserable Verkäuferin, und das wußte sie auch. Manchmal riß sie sich zusammen, wenn sie eine höhere Provision brauchte und es nicht über sich brachte, am Monatsende Anna um Geld anzubetteln. Aber sie schaffte es nie, sich über einen längeren Zeitraum zu motivieren. Sie konnte, wenn sie wollte. Aber sie wollte meistens nicht.
Irgendwie sehnte sie sich danach, daß jemand zu ihr sagte: »Dieser Job liegt dir nicht. Er hat dir noch nie gelegen und wird dir nie liegen. Es ist also am besten, du hörst gleich auf damit.«
Sie widerspräche nicht, wenn jemand das zu ihr sagte. Die Frage war, was sie statt dessen machen sollte.
Wenn sie doch nur eine Berufung hätte, einen Sinn in ihrem Leben gesehen hätte. Aber nichts trieb sie voran. Sie kam sich vor wie der kleine Japaner, der bei ihr seine Reisen buchte; er reiste nicht mehr, weil er neugierig war, sondern weil es das einzige war, was noch blieb, wenn alles andere ihn mit Leere füllte.
Es fing an zu regnen, als Marie auf der Centralbron war. Erst ein paar Tropfen, die ihr nichts ausmachten, aber kurz darauf folgte ein richtiger Wolkenbruch, und sie mußte das letzte Stück laufen.
Als sie zum Reisebüro kam, ging sie naß und tropfend in die Toilette und schloß sich ein. Der Brustkorb hob und senkte sich heftig nach dem Dauerlauf. Die blonden Haare klebten am Kopf, und nasse Strähnen hingen ihr über die Schultern, als ob ihr jemand einen Mop auf den Kopf gesetzt hätte. Die Wimperntusche löste sich auf und lief ihr über die Wangen.
»Du siehst aus wie eine Hure«, tönte es aus einem dunklen Korridor in ihrem Hinterkopf.
Sie senkte den Blick, ohne zu widersprechen, und wünschte, der Tag wäre schon vorbei.
Marie hatte ihre neue Chefin erst einmal getroffen. Das war vor ungefähr einem Jahr bei einem Katalogkurs. Sie hatte Helen Källberg als sehr elegante Frau in Erinnerung, sie hatte sie gerne angeschaut und ihr gerne zugehört, aber sie hatte sich auch davor gehütet, in ihre Nähe zu kommen.
Sie wußte, daß Helen ursprünglich aus Griechenland kam, obwohl sie einen schwedischen Nachnamen hatte und akzentfrei Schwedisch sprach. Aber das Wissen um Helens Vergangenheit machte Marie nervös.
Rosmarie kam aus der Personalküche und klapperte auf Stahlabsätzen zu Maries Platz.
»Helen möchte jetzt mit dir sprechen«, sagte sie, und es gelang ihr fast, ein gemeines Grinsen zu unterdrücken.
Helen stand an der Spüle und wusch die Kanne der Kaffeemaschine mit heißem Wasser aus und versuchte gleichzeitig, einen Schrank aufzumachen, zu dem sie nicht ganz hochreichte. Sie sah aus wie eine Seiltänzerin, die zwischen zwei entgegengesetzten Bewegungen balancierte, der Schwerpunkt lag ungefähr da, wo der pepitagemusterte Rock um Hüften und Oberschenkel spannte. Marie blieb in der Tür stehen und wartete darauf, daß Helen sich umdrehte.
Sie dachte, Helen suche vermutlich den Kaffee, der in einer Dose neben der Kaffeemaschine stand, weil sie eine Schranktür nach der anderen aufmachte.
Marie ging zur Kaffeemaschine und hob die Dose hoch.
»Hier.«
Helen zuckte zusammen und drehte sich um. Sie starrte Marie an wie ein Gespenst.
»Hast du mich erschreckt!«
»Entschuldige. Ich dachte, du hättest mich kommen gehört.«
»Schleichst du dich immer so an die Leute ran?«
Die dunkelbraunen Augen waren wieder ein wachsamer Scheinwerfer und kein offenes Fenster.
»Ich wollte dich überhaupt nicht erschrecken«, antwortete Marie und setzte sich an den Küchentisch.
Helen drehte sich um und beendete, was sie angefangen hatte.
»Das Gebräu, das in der Kanne war, ist viel zu schwach für meinen Geschmack. Ich hoffe, du hast ihn nicht gemacht. Wenn doch, mußt du mich entschuldigen.«
Marie verzog den Mund. Bestimmt hatte Rosmarie den Kaffee aufgesetzt.
»Ich bin dabei, mir ein Bild zu machen – nimmst du Zucker in den Kaffee? –, wer in der Region arbeitet«, sagte Helen und setzte sich, um gleich wieder aufzustehen.
»Nein, ich nehme Milch, aber ich kann sie selbst holen.«
Marie mußte um den Tisch herumgehen, um zum Kühlschrank zu gelangen. Sie dachte, ich muß mich an Helens Stuhl vorbeiquetschen, ohne sie zu berühren. Das gelang ihr auch, aber als sie die Kühlschranktür aufgemacht hatte, wußte sie nicht mehr, was sie da wollte. Sie sah nur ein einziges Durcheinander von Bechern und Verpackungen, auf die mit schwarzem Filzstift Namen geschrieben waren, braune Bananen und halbaufgegessene Brote.
Auf dem Rückweg zu ihrem Platz stieß sie dann doch an Helens Stuhl, so daß die Handtasche mit einem lauten Klirren von Schlüsseln und Schminkutensilien zu Boden fiel.
»Hier steht, du arbeitest seit sieben Jahren für uns und hast davor in Griechenland und Deutschland in der Tourismus- und Dienstleistungsbranche gearbeitet. Stimmt das?«
»Ja.«
»Mil’te ellenika?«
»Nein, lieber nicht.«
Helen beugte sich vor, die Lippen glitten über weißen Zähnen auseinander, und ein dunkler Schatten zeigte sich auf der Oberlippe. Sie glich einem Rennhund, der gerade richtig in Fahrt gekommen war.
»Warum nicht? Nach dem, was ich gehört habe, sprichst du richtig gut Griechisch.«
Marie errötete. Helen kam ihr mit ihren Fragen plötzlich viel zu nah. Es stimmte, daß sie fließend Griechisch sprach, aber zur Zeit nie in nüchternem Zustand.
»Das ist eine lange Geschichte, die heben wir uns für ein anderes Mal auf«, antwortete sie und spürte, daß sie schon zu viel gesagt hatte.
Als Marie aus dem Aufzug stieg, roch es noch intensiver nach frischgebackenem Kuchen als auf dem Weg nach oben. Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und machte die Wohnungstür auf.
»Hast du heute abend keine Vorlesung?« rief sie in die Küche.
»Ich habe geschwänzt«, sagte Anna und schob ein Blech mit Zimtschnecken in den Ofen.
»Wenn das deine Schüler wüßten.«
»Niemand würde es besser verstehen als sie.«
Marie hängte ihren Mantel auf und stellte sich in die Tür.
»Du scheinst nicht sehr erfreut zu sein, mich zu sehen«, sagte Anna.
»Ich bin müde.«
Marie hob das Handtuch hoch und schaute die frischgebackenen Zimtschnecken an.
»Darf ich eine nehmen?«
»Natürlich darfst du eine nehmen. Aber ich habe gerade Kaffee aufgesetzt. Wenn du so lange warten kannst.«
Marie nahm Tassen und Teller mit ins Wohnzimmer und legte sich dann aufs Sofa. Sie war müde, aber sie hatte auch nicht erwartet, daß Anna zu Hause sein würde. Sie schloß die Augen, und sofort traten Bilder von Helen hervor. Sie hatte winzige Kleinigkeiten bemerkt, die sie jedoch nicht richtig hatte studieren können. Einen goldenen Anhänger um den Hals, wie eine Orchidee geformt und mit gefaßten Steinen, die in der Spalte zwischen den Brüsten glitzerten. Ein Muttermal am Hals, eine Locke, die ihr immer wieder in die Stirn fiel. Ihre Art, immer zwei Dinge gleichzeitig zu machen, und ihr Eifer, als sie schließlich doch über Griechenland redeten. Ihr Lachen und die Wärme ihres Handschlags, als sie sich trennten.
»Du siehst völlig fertig aus«, sagte Anna, als sie mit dem Kaffee hereinkam. »Du hast doch deine neue Chefin getroffen. Wie ist es gelaufen?«
Marie setzte sich mit einem Gähnen auf.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und gähnte noch einmal. »Sie hat mich gefragt, wie mir die Arbeit gefällt und ob das der Job ist, den ich am liebsten mache.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ja, was soll man darauf sagen? Ich habe Angst, rausgeworfen zu werden. Ich kann wohl kaum sagen, daß ich es verabscheue hinzugehen. Ich weiß ja auch nicht, was ich statt dessen machen sollte.«
»Das weißt du sehr wohl«, sagte Anna leise.
»Hör jetzt bitte auf damit«, sagte Marie und nahm sich eine Zimtschnecke.
»Ich habe überhaupt nichts gesagt.«
»Nein, aber ich weiß, was du sagen willst, und ich habe keine Lust, darüber zu diskutieren.«
»Du könntest ein Studium anfangen.«
»Meinst du, ich sollte feministische Pädagogik studieren, damit du jemanden hast, mit der du diskutieren kannst, wenn du nach Hause kommst? Willst du das sagen? Daß ich deinen abstrakten Gedanken ... wie sagt man?«
»Gängen?«
»Nein.«
»Bahnen?«
»Schämst du dich für mich?« fragte Marie und drehte sich zu Anna um.
»Nein. Ich möchte nur, daß du glücklich bist.«
»Es ist lange her, daß ich solche Forderungen ans Leben gestellt habe.«
Marie biß ein Stück Zimtschnecke ab, und es wurde in ihrem Mund immer größer.
Sie konnte es nicht bremsen. Sie konnte den Anblick nicht verscheuchen. Es war, als ob sie ganz plötzlich unter dem Einfluß einer halluzinatorischen Droge stünde. Als ob der vom Gegenlicht beleuchtete Pickel auf Annas Nase eine chemische Reaktion in ihrem Gehirn ausgelöst hätte, der Annas Gesicht zu einer gemeinen Karikatur verzerrte.
»Woran denkst du?«
Marie rührte sich nicht und antwortete auch nicht.
War das der Anfang vom Ende? Sie wagte kaum, den Gedanken zu denken. Hatte Angst, auch er könnte sich festsetzen. Aber genau wie das Zerrbild biß der Gedanke sich immer fester, je mehr sie versuchte, ihn loszulassen.
War das das Ende?
Sie sah eine schwarz-weiß gewürfelte Flagge im Wind flattern. Der Wettlauf war zu Ende. Das entfernte Brausen des Publikums. Ein Gefühl der Erleichterung.
»Ist es die Arbeit?« fragte Anna noch einmal.
Marie faltete die Hände im Schoß.
»Dieses verfluchte Reisebüro«, murmelte sie. »Es frißt mich auf wie Krebs. Bald ist nichts mehr von dem übrig, was mich ausmacht. Was immer das sein mag«, fügte sie hinzu und lachte auf.