Читать книгу Sie zu lieben - Eva Lejonsommar - Страница 8

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»Ich habe um zwölf Uhr eine Verabredung mit Helen Källberg.«

Die Empfangsdame schaute sofort mit ihrem »Zu-Ihrer-Verfügung-Lächeln« hoch. Exakt so freundlich und so zuvorkommend, wie sie es im Charmekurs gelernt hatten. Es war kaum zu entscheiden, ob es echt war oder nicht. Aber es hatte die beabsichtigte Wirkung. Marie wurde sofort ruhiger.

»Ich werde Helen sagen, daß sie Besuch hat«, teilte die Empfangsdame mit und lächelte das »Seien-Sie-sicher-daß-wir-uns-um-Sie-kümmern«-Lächeln. Dann nahm sie den Hörer ab, wählte eine Nummer und sagte, daß der Besuch da sei.

»Helen kommt gleich. Sie können hier warten«, sagte sie und wandte sich dann dem Stapel Papier zu, der vor ihrem Computer lag.

Marie setzte sich und versuchte, die Nervosität niederzukämpfen, indem sie den Teppichboden studierte. Sie stellte fest, daß er blau war. Blau wie die Farbe des Unternehmens, blau wie Himmel und Meer. Blau wie die Sehnsucht.

Sie hatte oft über die erste Begegnung mit Helen nachgedacht. Daran, daß sie über ihre Zeit in Griechenland sprechen konnte, ohne Angstzustände zu bekommen. Es war im Gegenteil richtig befreiend gewesen, mit jemandem zu sprechen, der das Land kannte, die Kultur und die Menschen, aber auch die Situation des Fremden und Außenstehenden.

Sie war nicht mehr nach Griechenland zurückgekehrt, nachdem sie damals mehr oder weniger geflohen war und geglaubt hatte, es nie wieder sehen zu wollen. Aber nach dem ersten Gespräch mit Helen waren die Bilder erneut aufgetaucht, die Bilder, die sie zur ersten Reise dorthin gelockt hatten.

Endlich tauchte Helen aus einem Zimmer am Ende des Flurs auf. Sie trug schwarze Hosen und eine kurze Bolerojacke. Ohne den engen Rock, den sie beim letzten Zusammentreffen angehabt hatte, war ihr Gang natürlicher. Und sie begrüßte sie mit einem Lächeln, das sie nicht im Charmekurs geübt hatte. Es war ganz echt und schien sowohl Entzücken als auch Erwartung zu enthalten.

»Willkommen im Allerheiligsten«, sagte Helen und blinzelte sie an, als sie ihr die Hand gab.

Marie wußte nicht, ob das als Versuch gedacht war, die Statusschranke zwischen der Hauptverwaltung und den einzelnen Büros zu durchbrechen, oder ob es wirklich ein Flirt war, wenn auch hinter Ironie versteckt.

»Du bist ja schon mal hiergewesen, ich brauche dir also nicht das Haus zu zeigen. Wir gehen erst mal in mein Zimmer. Ich hoffe, du hast noch nicht gegessen.«

Marie schüttelte nur den Kopf. Sie hatte nicht einmal richtig gefrühstückt. Der verdammte Overdrive heulte in ihrem Körper. Sie hatte am Morgen nur eine halbe Schnitte Brot essen können.

Die Hauptverwaltung war im obersten Stockwerk des Hauses untergebracht, und die Büros lagen in einer Reihe parallel zur Straße, sie hatten alle eine schräge Decke von der Zimmermitte zum Fenster. Helens Zimmer war doppelt so groß wie die anderen, aber es befanden sich noch zwei große Säulen darin, wodurch die Stellfläche sehr klein wurde. Das Zimmer sah auch nicht aus wie das Arbeitszimmer in der Hauptverwaltung eines Reisebürokonzerns. Es vermittelte eher den Eindruck von Chaos als von Arbeitsruhe und Ferienreisen.

»Entschuldige, daß hier so eine Unordnung ist«, sagte Helen und nahm einen Stapel Kataloge von einem Stuhl, so daß Marie sich setzen konnte. Sie trug die Kataloge zu einem Tischchen und legte sie dort auf einen Packen Papier.

»Du möchtest natürlich gerne wissen, worüber ich mit dir sprechen möchte. Magst du japanisches Essen?« Es war sicher nicht leicht, mit ihr zu leben, vermutlich war ihr nicht bewußt, welches Chaos sie verursachte, dachte Marie, und ihr Blick fiel auf das Foto auf der Pinnwand. Es war ein Ferienbild aus Griechenland. Sie erkannte Helen auf dem Bild, am ganzen Körper schön braun, den Kopf zurückgeworfen in einem befreiten Lachen. An ihrer Seite ein Mann, auch er braungebrannt, aber mit ganz blonden Haaren. Sie sahen gut zusammen aus, ein schönes Paar. Kinder hatten sie offenbar auch; ein Mädchen und einen Jungen im ersten Schulalter, die konzentriert direkt in die Kamera starrten.

Marie spürte einen Stich von Neid. Sie hatte nie eine richtige Familie gehabt. Während ihrer Kindheit und Jugendzeit waren immer wieder Männer gekommen und gegangen. Das Leben mit Anna konnte man noch am ehesten Familienleben nennen.

Sie hatten auch Ferienbilder, aber sie würden nicht einmal versuchen, sie am Arbeitsplatz aufzuhängen. Das würde doch nur für Gerede sorgen oder mit Schweigen übergangen werden.

»Du mußt entschuldigen, daß ich am Telefon nicht sagen wollte, worum es geht. Ich hoffe wirklich, daß du dir keine Sorgen um deine Anstellung gemacht hast. Was ich mit dir besprechen will, ist ganz im Gegenteil eine Möglichkeit, in der Firma aufzusteigen.«

Marie faltete die Hände im Schoß, um die Schmetterlinge ruhig zu halten.

»Wir haben beschlossen, daß in diesem Stadium nur die direkt mit dem Projekt befaßten Personen informiert werden sollen«, fuhr Helen fort. »Aber soviel kann ich sagen, bei dem Projekt handelt es sich darum, die Umweltanforderungen, die Touristen und Umweltorganisationen an uns als Reiseveranstalter stellen, zu erfüllen.«

Marie nickte schweigend zum Zeichen, daß sie verstanden hatte.

»Die erste Reise nach Griechenland habe ich für Januar geplant. Und da würden wir etwa einen Monat bleiben. Dieses Projekt erfordert also, neben allem anderen, eine verständnisvolle Familie.« Helen legte den Kopf auf die Seite.

»Bist du verheiratet?« fragte sie und blinzelte mit den Augen, als ob sie ihre Brille vergessen hätte.

»Nein«, antwortete Marie etwas zögernd und spürte, wie sie sich in eine Untiefe schieben ließ, wo sie nur noch Wasser treten und weder auf der einen noch auf der anderen Seite Land gewinnen konnte.

»Und hast du einen Freund?«

»Nein, habe ich nicht«, sagte Marie. Sehr viel bestimmter.

»Kinder?«

»Nein.«

Helen schien mit der Antwort zufrieden zu sein.

Marie blinzelte in die Sonne, die sich in den Fenstern auf der anderen Straßenseite spiegelte. Die Luft war klar, aber es begann, kühl zu werden. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fiel. Und dann würde es bis weit in den April hinein Winter sein. Wenn sie den Job mit Helen machte, wäre sie vielleicht einen Monat in dieser Zeit in Griechenland.

Helen war auf dem Weg zum Restaurant bei Lindex reingegangen, um blaue Strumpfhosen zu kaufen. Marie kaufte ihre Sparpackungen immer bei H&M, man konnte sie doch nicht als Werbungskosten von der Steuer absetzen. Es war immer das gleiche mit diesen verdammten Strumpfhosen. Manchmal waren sie kaputt, ehe man sie überhaupt anhatte.

Wenn sie in der Hauptverwaltung arbeitete, fiele wenigstens dieses ständige Ärgernis weg. Da könnte sie anziehen, was sie wollte. Und bestimmt brauchte sie nicht mehr fünf Tage pro Woche einen Rock mit passenden Strümpfen zu tragen.

Ein junger Mann war nach einigem Hinundhergehen auf der anderen Straßenseite stehengeblieben und hatte aus einem abgewetzten Futteral seine Geige geholt. Er hielt das Instrument erst vor sich wie einen Preispokal oder eine Opfergabe. Die Sonne glänzte im Holzkörper, auf dem geschwungenen Hals, den Stimmwirbeln und den gespannten Saiten.

Schließlich nahm er das Instrument, legte es zurecht, rückte und schob, bis es so saß, daß es ein Teil seines Körpers geworden zu sein schien. Dann begann er zu spielen. Und wenn es je einen Zweifel gegeben hatte, wer er war, was er machte und mit welchem Recht, so verschwand der, sobald sein Instrument erklang.

Menschen strömten ununterbrochen von beiden Richtungen in Maries Gesichtsfeld. Es war keine Bewegung, es war wie ein stillstehendes Rauschen. Wie im Fernsehen, wenn das Bild weg, der Ton aber noch da ist.

Helen kam atemlos aus dem Geschäft, sie trug eine Tüte, die erheblich mehr als nur ein paar Strumpfhosen zu enthalten schien.

»Entschuldige, daß es so lange gedauert hat. Ich mußte unbedingt einen Rock anprobieren, den ich im Geschäft sah.«

Vermutlich hatte sie nicht nur einen Rock anprobieren müssen, dachte Marie und stellte fest, daß sie überhaupt nicht ärgerlich war über das Warten. Sie konnte Helen mit ihren durchschaubaren Entschuldigungen und ihrer vollgestopften Lindex-Tüte nur anlächeln. Im einen Moment korrekt und artikuliert, im nächsten irrational und voller Launen.

Aber wie würde es sein, mit einem Menschen zu arbeiten, der gleichzeitig zwei entgegengesetzte Bewegungen machte? Konnte man sich auf sie verlassen, war das, was man sah, wahr? Oder fragte man sich ständig, wie viele Stockwerke man hinunterstürzen mußte, bis man endlich auf den Boden aufschlug?

Helen hatte gesagt, daß sie mit jemandem arbeiten wollte, der Griechisch sprach und schon einmal im Land gewohnt hatte. Soweit konnte Marie folgen, aber dann kamen nur noch Fragezeichen und Spekulationen. Helen wußte eigentlich nichts über sie. Und doch schien sie nur noch auf ein Ja oder Nein zu warten, als ob sie sich schon entschieden hätte.

Je mehr Marie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, daß sie nicht zu einem Job ja oder nein sagte. Wenn es nur so einfach gewesen wäre. Alles zwischen ja und nein wuchs so an, daß es zum Schluß ihr ganzes Leben zu umfassen schien. Und wieder einmal hatte sie nicht um die Frage gebeten. Sie war über ihren Kopf hinweg formuliert worden. Dieses Mal von Helen, die sie kaum kannte.

Sie gingen die Kungsgatan hinunter.

Marie betrachtete Helens scharfgeschnittenes Profil schräg vor sich. Sie erinnerte ein wenig an einen Raubvogel. Die Nase war nicht direkt groß, aber bestimmend, und sie schien zu den schwarz geschwungenen Augenbrauen zu gehören, die einen plötzlichen Schatten über das Gesicht fallen lassen konnten.

Helen war sehr schön. Da gab es keinen Zweifel. Und Marie konnte die Augen nicht von ihr lassen.

Sie zu lieben

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