Читать книгу Ungewollt und doch da - Eva-Maria Janutin - Страница 13

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MUTTERGLüCK

Gerade ist es wieder passiert: mein Sohn Jan liegt auf dem Wickeltisch, streckt seine feinen, zarten Arme ganz lang, räkelt sich wie eine Katze, lächelt und gibt so glucksende Geräusche von sich. Ich positioniere meine ausgestreckten Zeigefinger oberhalb seiner Brust, die er unmittelbar mit seinen Händen packt und sich daran hochzieht. Aus dieser Sitzposition hebe ich ihn sanft, aber sicher auf. Er riecht so rein, ist so glücklich und ich streiche ihm mit meiner rechten Hand über das feine Haar, welches unter dem Deckenspot goldig glänzt.

Und da ist es wieder. Es beginnt in den Armen, dann geht es in die Beine und schließlich schüttelt es mich am ganzen Körper. Ich kann mich nicht wehren, nichts dagegen tun.

Schließlich wird das Schütteln so stark, dass ich nicht mehr aufrecht stehen kann und mein Kind zurück auf den Wickeltisch legen muss.

«Was ist los mit mir?», frage ich mich selbst. Ich fühle eine so große, tiefe Liebe in mir, eine tiefe Kraft und eine Ruhe, bin so dankbar und glücklich wie nie zuvor. So sehr habe ich mir ein Kind gewünscht, und nun liegt der wundervollste Sohn der Welt vor mir! Er ist da, er ist gesund, er ist geblieben – wir sind ein Superteam. Mein Hals fühlt sich an, als ziehe sich ein schweres Seil mehr und mehr zusammen, es würgt mich und das Schlucken fällt mir schwer. Verdammt, was stimmt nicht mit mir? Nichts auf der Welt habe ich mir jemals mehr gewünscht, als schwanger zu werden. Am liebsten schon kurz vor unserer Hochzeit. Nach unserem großen Tag, dem 25. Juni, war ich immer etwas enttäuscht, wenn die Monatsblutung dann doch einsetzte.

Ein knappes Jahr nach unserer Hochzeit erfüllte sich ein beruflicher Wunsch. Als Key-Account-Managerin wurde ich betraut mit den öffentlichen Verwaltungen sowie sämtlichen Banken und Versicherungen. Darauf habe ich sehr lange hingearbeitet, denn obwohl ich in der Innerschweiz ein schönes Zuhause hatte, habe ich meinen Papa vermisst.

Wo gibt es die meisten Verwaltungen und Bundesbetriebe? In der Hauptstadt!

Durch meine Tätigkeit war ich mehrmals in der Woche im schönen Kanton Bern. Einmal war es für ein Mittagessen, dann für einen frühen Kaffee. Wir haben uns mindestens einmal pro Woche getroffen, wie früher, ganz geheim. Das war eine fantastische Zeit, ich habe sie und meine Freiheit genossen und nicht mehr Monat für Monat darauf gewartet, endlich schwanger zu sein. Es spielte keine Rolle, ob ich eine Stunde früher oder später nach Hause kam.

Mein Mann Alex hat sich gerade zu dieser Zeit selbstständig gemacht. So wurde das leerstehende Zimmer zum Büro umfunktioniert und diente als Firmensitz.

Wir waren beide sehr erfüllt von unseren beruflichen Herausforderungen und haben viel gearbeitet.

Die Tage von Alex waren lang, ein Geschäftsaufbau erfordert viel Zeit, Disziplin und Durchhaltevermögen. Zudem mussten ja von irgendwo Aufträge kommen.

Ich war seit Monaten in der Rangliste der Verkaufsberater unter den Top Ten und ich habe das sehr genossen. Wir waren sechsundvierzig Verkäufer, darunter nur zwei Frauen. Der erste Kontakt, die ersten Gespräche waren immer sehr prüfend und kritisch. Wenn ich dann technisch punkten konnte, griff das Zwischenmenschliche. Ich habe schnell bemerkt, dass meine Kunden in erster Linie Menschen sind und sie es schöner finden, wenn wir zwei Drittel der Zeit über sie reden, dass sie sich freuen, wenn ich mich noch an den Namen von ihrem Enkel erinnere und auch noch in etwa wusste, wie alt er ist, ob er schon sitzt oder gar schon die ersten Schritte macht, oder wie der Urlaub auf Sizilien war.

Ja, es war ein gegenseitiges, respektvolles und doch sehr herzliches Verhältnis, und oft fragte der Kunde nach einer Weile, ob ich auch den Bestellblock dabeihätte.

Ich konnte den Umsatz stetig steigern, und dieser Erfolg gab mir Sicherheit und Vertrauen.

Ich wurde, geprägt von einigen Vorbildern in meinem Leben, eine gute Unternehmerin, und daraus hatte ich die Kraft, auch außergewöhnliche Sachen zu machen. Dabei fand ich mich immer mehr selber.

Wenn etwa ein Kunde mit einem Wunsch auftauchte, den unsere Firma nicht, also in keiner Weise, erfüllen konnte, wurde er umgesetzt – egal wie sehr ich kämpfen musste. Dann war unser Produktekatalog eben um einen neuen Artikel reicher. Mein Chef hat das nicht nur sehr geschätzt, sondern manchmal mit Applaus unterstützt. Er war auch ein Macher und ein wundervoller Unternehmer.

Dass er immer hinter mir stand, ließ mich weiter wachsen und machte mich glücklich. Ich lebte für diese Firma, ich lebte für diesen Erfolg.

Ich fahre leidenschaftlich gerne Auto und ich liebte es, über den Brünig nach Interlaken zu fahren, zu sehen, wie sich die Nebeldecke öffnet, um der Sonne Platz zu machen.

Besonders aber genoss ich die Freiheit, und die ließ mir mein Chef zu hundert Prozent. Einzig am Montag war Bürotag in Kloten, da gab es kein Wenn und Aber. Teamsitzung, Besprechung mit dem Innendienst und unser gemeinsames Mittagessen nicht zu vergessen. Sonst konnte ich mich eigenständig organisieren, durfte von zu Hause aus arbeiten oder kurz im Büro von meinem Papa ein paar Telefonate erledigen, wenn ich in Bern war. Das Vertrauen meines Vorgesetzten hat mich zu Höchstleistungen angetrieben, und so bin ich oft frühmorgens um fünf losgefahren, um in der Früh schon beim ersten Kunden zu sein – Kaffeezeit mit meinem Papa eingerechnet.

Mein Mann und ich waren unabhängig und kamen finanziell gut zurecht, was uns viel bedeutete, denn das war nicht immer so. Als wir uns kennen gelernt haben, hatten wir beide nichts außer Schulden. Das wollten wir ändern.

Wir wünschten uns, erfolgreich und finanziell unabhängig zu sein. Darüber waren wir uns einig und haben uns vom ersten Tag an gegenseitig dabei unterstützt. Das ist bis heute so.

Es mag kitschig klingen, und doch ist es genau so: Wir haben uns nicht nur gut verstanden, wir haben uns perfekt ergänzt und wir sind, seit wir zusammen sind, permanent aneinander gewachsen.

Alex und ich haben uns immer gegenseitig motiviert, einen weiteren Schritt zu machen.

Wenn einer sich etwas nicht zugetraut hat, wurde er vom anderen sanft angetrieben, wenn nötig, auch weniger sanft gedrängt, den Schritt endlich zu machen.

Plötzlich war ich aber schwanger. Ich wusste es einfach, bevor ich einen Test gemacht habe. Ich stand am Morgen auf und habe es gefühlt. Ich kann gar nicht mit Worten sagen, wie es war. Es war einfach anders als jedes bisherige Gefühl, das ich kannte. Viel intensiver und stärker.

Ich wollte, dass es so ist, und gleichzeitig wollte ich nicht, dass es so ist, weil gerade alles so gut lief, alles so schön war.

«Aber das lässt sich doch mit einem Kind nur noch toppen», sagte die eine Stimme in mir.

«Dann musst Du das alles aufgeben», meinte die andere hingegen. So habe ich mir vorgenommen, noch ein paar Tage zu warten, bevor ich einen Test mache.

Vorhaben und Umsetzung sind manchmal zwei Paar Schuhe.

Ich habe viele gute Eigenschaften, aber Geduld gehört definitiv nicht dazu. Schon in der Mittagspause kaufte ich gleich zwei Tests. Einen davon habe ich prompt auf der Kundentoilette im Globus an der Marktgasse in Bern gemacht. Zehn Minuten lang habe ich auf dieses Stäbchen gestarrt, auf dem sich ganz langsam ein kaum sichtbarer Punkt bildete. Er wurde immer stärker, bekam eine Kontur und füllte sich mit violetter Farbe.

Wieder schaute ich auf die Packung. Es war idiotensicher abgebildet. Violetter, ausgefüllter Punkt = positiv! Da war ein Punkt, ausgefüllt in Violett. Nochmals ein Blick auf die Verpackung, auf das Teststäbchen.

Ein violetter Punkt! Ein violetter Punkt!

Ich war ganz aus dem Häuschen. Ich bin schwanger! Am liebsten hätte ich geschrien. Es war ein so starker Moment, wie ich ihn nie zuvor gefühlt habe. Dieses Wissen, dass in mir ein Kind heranwächst, war schier überwältigend.

Ich kam als zukünftige Mami, so erfüllt und glücklich aus dieser Toilette, die ich zuvor mehr als fünfzehn Minuten lang blockiert hatte. Nur wenige Minuten später fand ich mich eine Etage höher in der Kinderabteilung wieder. Mit einem Nuggi, auf welchem «Papa ist der Beste» stand, kam ich an die Kasse. Ich hatte die Idee, Alex diesen Nuggi an diesem Abend auf den Teller zu legen. Wir hatten schon lange nicht mehr über das Thema Kinder gesprochen und ich war gespannt, wie er reagierte.


«Uiiiiiiiijuuuu!» Dieses helle, zufriedene Jauchzen holt mich wieder in die Gegenwart zurück. Jan liegt so glücklich da, spielt mit seinen Füßen und mir ist in diesem Moment klar: Egal wie groß meine Angst ist, egal was es ist, ich muss es angehen. Als könnte er meine Gedanken lesen, lächelt Jan. Ein größeres Glück, ein wertvolleres Geschenk als Jan gab es nicht in meinem Leben, und allein seinetwegen ich Gewissheit darüber haben, was mit mir los ist.

Ich hatte als Kind immer eine blühende Fantasie und habe mit meiner Großmutter zusammen manchmal mit «dem großen Meister» da oben geredet.

Jetzt war meine Fantasie auf die Größe einer Haselnuss zusammengeschrumpft, jede noch so abwegige Möglichkeit habe ich gedanklich durchgespielt, und die einzige, die blieb, war die, dass ich verrückt sei, genau wie meine Mutter und mein Bruder. Aber das wollte ich nicht. Nein, nein und nochmals nein!

Nur reicht es, etwas nicht zu wollen?

Ich habe schon als Kind gebetet, dass ich nie in so eine Klinik müsse.

Jedes Mal, wenn wir ohne Mutter von Münsingen, Meiringen, Münchenbuchsee, Burgdorf oder Bern nach Hause fuhren, waren wir so traurig. Martin hat gar nichts gesagt, Papa hat nur durch die Windschutzscheibe gestarrt. Und wenn er doch etwas gesagt hat, klang seine Stimme so, als wäre ein Stück Brot in seinem Hals steckengeblieben.

Ich habe immer probiert, schöne Sachen zu sagen, und doch wusste ich, dass jetzt der ganze Haushalt wieder auf meinen Schultern lastete, neben der Schule.

Aber wir haben es immer geschafft. Jeder hat seinen Teil dazu beigetragen.

Das Einliefern war das Schlimmste, weil mich danach jedes Mal das schlechte Gewissen heimsuchte, dass ich vielleicht doch schuld daran wäre, weil ich nicht krank war oder weil ich Papa mehr liebte als sie. Und es ging mir auch nicht besser, wenn ich sah, wie traurig Papa war. Meine allergrößte Angst war zu der Zeit, dass ihm etwas passieren, dass ich ihn verlieren könnte. Diese Angst machte mich klein und verletzlich. Gleichzeitig ließ das meine Mutter noch stärker werden, und sie sagte so ganz beiläufig, währenddessen ich im gerade bezogenen Zimmer ihre Kleider in den Schrank einräumte und mein Vater den Kulturbeutel im Bad platzierte, Sätze wie:

«Du musst einfach dafür sorgen, dass Papa jeden Tag nach Münsingen kommt, sonst passiert etwas.»

Was konnte etwas sein? Etwas konnte alles sein, und genau dieses etwas war jetzt wieder so präsent.

Auch bei mir konnte dieses Etwas alles sein.

In dem Moment mit Jan war ich diesem Etwas ausgeliefert, genau wie früher, und das war der Moment, in dem ich zum allerersten Mal ganz bewusst verstand, dass dahinter ein Muster, ein Glaube steckte!

Es war, als würde dieses aktuelle «Etwas» das alte abgespeicherte «Etwas» aufwecken.

Was sollte sonst der Grund dafür sein, dass ich mitten in den Kinderjahren steckte mit 31 Jahren? Sie kann mir doch längst keine Angst mehr machen.

Weshalb aber habe ich Gänsehaut?

Kann sie mir wirklich keine Angst mehr machen?

«So ein Scheiß!», fluchte ich innerlich.

«Ich bin Mutter, ich bin 31 Jahre alt, selbstständig, unabhängig, erfolgreich und kein Schulmädchen mehr. ETWAS, ALLES – Was soll das?

Es sind Worte, einfach nur Worte.»

Ich hatte keine konkrete Vorstellung davon, wie ich es anpacken musste, aber ich wusste, dass ich es anpacken konnte und wollte! Mir war bewusst, dass alleine dieses Wort «etwas» bei mir einen Film ins Laufen bringt, welchen ich weder anschauen will, geschweige denn Lust habe, mich damit gedanklich und emotional zu beschäftigen.


Doch dieser Film war da, irgendwo zwischen Bauch und Hals eingeklemmt, «gespeichert», und er hatte Macht über mich. Er hatte mehr Kraft als ich, er schaffte es, dass ich einfach so – aus dem Nichts – die Handlungsvollmacht über mich verlor. Diese Erkenntnis beunruhigte mich sehr, denn ich war es gewohnt, Sachen selber zu entscheiden.

Freiheit und Unabhängigkeit waren mir sehr wichtig, und anzunehmen, dass ein Wort in mir ein Gefühl auslöst, welches mehr Macht hat als mein Verstand, das war ganz schön schwer.

HAST DU AUCH SO EIN «ETWAS»-WORT GEFUNDEN?




Ungewollt und doch da

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