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1. Dezember

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Das erste Türchen

Niemand würde den blonden Henning und seinen dunkelhaarigen Bruder Martin für Geschwister halten. Sie ähnelten sich überhaupt nicht, und auch sonst waren sie ganz verschieden. Martin aß für sein Leben gern Schokolade, um nur ein Beispiel zu nennen, und Henning nicht. Eins hatten sie jedoch gemeinsam: Sie liebten Adventskalender. Natürlich wünschte sich Martin immer einen mit Schokolade und Henning einen mit Bildern.

Deshalb hingen im Kinderzimmer auch dieses Jahr wieder zwei Kalender. Auf beiden war ein Weihnachtsbaum abgebildet, aber der eine war mit Glitzerzeug verziert und der andere nicht.

„Dein Kalender sieht toll aus“, sagte Martin. „Schade, dass es keine Schokoladenkalender mit Glitzerzeug gibt.“

„Selbst schuld. Wenn du nicht so verfressen wärst, hättest du auch so einen.“

„Was kann ich dafür, dass ich gern Schokolade mag?“ Martin sah aus, als würde er gleich wütend werden.

„Ach komm! Ich wollte dich doch bloß ein bisschen veräppeln! Heute dürfen wir das erste Türchen aufmachen. Ich freu mich schon!“

„Ich auch.“

Damit war der Frieden fürs Erste wieder hergestellt.

Am Abend standen sie vor den Kalendern.

„Darf ich anfangen?“ Ungeduldig hüpfte Martin von einem Bein aufs andere.

„Meinetwegen.“

Normalerweise war es ja gar nicht so einfach, die Türchen aufzukriegen. Aber zu Martins Verwunderung ließ sich das erste ganz leicht öffnen.

An dem Bildchen konnte man erkennen, dass dahinter ein Glückspilz gewesen sein musste. Aber die Vertiefung war bis auf einen winzigen Krümel leer.

Martins Augen füllten sich mit Tränen.

„Vielleicht war von Anfang an keine Schokolade drin?“, überlegte sein großer Bruder.

„Glaub ich nicht. Du hast sie geklaut.“

„Spinnst du?“, brauste Henning auf. „Ich mag doch gar keine Schokolade.“

„Du wolltest mich ärgern!“

„So was Gemeines würde ich nie tun!“

Martin warf sich schluchzend auf sein Bett und presste das Gesicht ins Kissen.

Obwohl Henning die Lust vergangen war, wollte er noch schnell sein erstes Türchen aufmachen. Auch das ging ganz einfach auf.

„Das gibt’s doch nicht!“

Martin hob den Kopf.

„Komm mal her und guck dir das an!“

Als Martin vor Hennings Adventskalender stand, fing er an zu lachen.

„Ich finde das gar nicht witzig!“, protestierte Henning.

Hinter dem Türchen war ein Engel abgebildet. Aber der sah ziemlich komisch aus, denn jemand hatte ihm mit schwarzem Kuli einen Schnurrbart gemalt und riesengroße Ohren.

„Das warst du!“, schrie Henning. „Und nun findest du das auch noch komisch!“

„Gar nicht wahr!“, gab Martin hitzig zurück. „Aber es geschieht dir recht!“

„Ich habe deine blöde Schokolade nicht genommen!“

„Und ich deinen dämlichen Engel nicht verhunzt.“

„Du lügst!“

„Nein, d u lügst! Wer soll es denn sonst gewesen sein? Niemand anders war in unserem Zimmer außer …“ Plötzlich hielt Henning inne. „Mir fällt da was ein.“

Die beiden Brüder schauten sich an.

„Paul!“, riefen sie wie aus einem Mund.

„Der kann was erleben!“, verkündete Henning grimmig.

In diesem Augenblick kam ihre Mutter herein. „Streitet ihr euch etwa?“, fragte sie. „Am Abend, wo ihr das erste Türchen aufmachen dürft?“

„Paul hat die Schokolade aus meinem Kalender geklaut.“

„Und mein Bild verdorben!“

Die Mutter besah sich die Bescherung. „Seid ihr ganz sicher, dass Paul das gemacht hat?“

„Er ist der Einzige, der heute allein in unserem Zimmer war, außer dir natürlich. So eine Gemeinheit!“

Die Mutter lachte ein bisschen. „Eigentlich gefällt mir der Engel mit dem Bart und den Segelohren. Das ist mal was anderes.“

Henning guckte genauer hin. Nun musste auch er grinsen. „Stimmt! Das Bild ist ganz lustig.“

„Und was ist mit mir?“, mischte sich Martin ein.

„Ich weiß was.“ Die Mutter ging hinaus und kam mit einem ganzen Riegel Schokolade wieder.

„Danke!“, rief Martin erfreut. „Wenn das so ist, könnte Paul von mir aus jeden Tag die Schokolade aus meinem Adventskalender klauen.“

Als die beiden Brüder im Bett waren, schmiedeten sie Rachepläne.

Am nächsten Nachmittag stand Martin die ganze Zeit am Fenster und beobachtete das Haus gegenüber.

„Da ist er!“, rief er aufgeregt.

Am Spätnachmittag holte Paul nämlich immer seine kleine Schwester vom Kinderhort ab.

Sie liefen sofort los.

Frau Hillers öffnete die Tür und lächelte sie an. „Hallo, ihr beiden. Kommt rein. Paul ist gleich zurück. Ihr könnt im Kinderzimmer auf ihn warten, wenn ihr wollt.“

Genau das wollten sie.

„Hoffentlich ruinieren wir nicht aus Versehen den Adventskalender von Pauls kleiner Schwester“, flüsterte Martin. „Sie kann ja nichts dafür.“

Henning blickte sich um. „Mal eine ganz andere Frage: Wo sind die Kalender?“

Martin sah auch keinen. „Ob sie in einem anderen Zimmer hängen?“

In diesem Augenblick kam die Mutter herein. „Ich weiß gar nicht, wo Paul so lange bleibt. Sicher trödelt er wieder herum.“

„Frau Hillers“, fragte Henning, „wo ist eigentlich Pauls Adventskalender?“

Die Mutter zögerte einen Augenblick. „Er hat keinen.“

Martin wunderte sich. „Warum denn nicht?“

Sie räusperte sich. „So ein Ding kostet Geld. Und Adventskalender sind nun mal nicht so wichtig.“

Henning erinnerte sich plötzlich an etwas, das seine Mutter vor kurzem gesagt hatte: „Die armen Hillers! Jetzt, wo der Vater arbeitslos geworden ist, wird es sicher eng für sie.“

Während er noch darüber nachdachte, trat Paul ein.

„Du hast ...“, fing Martin sofort an. Ein Rippenstoß seines großen Bruders brachte ihn zum Schweigen.

„Hi, Paul“, sagte Henning.

Sie warteten, bis Frau Hillers hinausgegangen war.

„Sei ehrlich! Du warst gestern an unseren Adventskalendern“, begann Martin aufs Neue.

Paul sah zu Boden und antwortete nicht.

„Der Engel mit den Segelohren und dem Schnurrbart ist spitze!“ Henning kicherte.

„Echt?“ Paul klang erleichtert.

„Du hast meine Schokolade aufgegessen!“, beschwerte sich Martin.

„Tut mir Leid“, murmelte Paul. „Ich war auf einmal so wütend. Ich dachte: ‘Wozu brauchen die zwei Adventskalender?’ Aber ich weiß: Das war nicht okay.“

Henning klopfte ihm auf die Schulter. „Sooo schlimm war’s nun auch wieder nicht.“

Martin kämpfte mit sich. Nein, die Schokoladenstückchen waren zu klein. Die konnte man beim besten Willen nicht teilen. Und sie Paul ganz zu geben, das wäre übertrieben. Da fiel ihm etwas ein.

„Hast du nicht bald Geburtstag?“, fragte er.

„Ja, am elften.“

„An deinem Geburtstag und an Heiligabend kriegst du das Stück Schokolade in meinem Kalender“, verkündete er.

„Danke.“ Paul grinste ihn an.

Henning setzte sich neben ihn. „Ich hab eine Idee. Wenn du willst, kannst du jeden Nachmittag rüberkommen und dann machen wir zusammen ein Türchen auf.“

„Ach nee, lass mal. Eins muss ich euch noch fragen. Habt ihr meiner Mutter ...“

„Natürlich nicht!“, unterbrach ihn Henning.

Paul knuffte ihn in die Seite. „Da bin ich aber froh! Ihr seid wirklich echte Kumpel.“

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