Читать книгу Liebesbriefe aus Australien - Eva Menzel - Страница 5
Kapitel 2:
ОглавлениеAls ich im Supermarkt ankam, der nur wenige hundert Meter von unserer Wohnung entfernt lag, war es bereits früher Nachmittag und sämtliche Oberstufenschüler sowie Rentner und Familien mit kleinen Kindern waren im Laden zusammengetroffen. Normalerweise mochte ich das Gedränge, das dort um diese Zeit herrschte, nicht besonders. Vor allem, wenn man hinter jemandem an der Kasse stand, der den gesamten Jahresvorrat an Lebensmitteln aufs Band gehievt hatte und dann noch ewig lange mit dem Kassierer über irgendetwas diskutierte.
An diesem Tag jedoch ließ ich mir mehr Zeit, meinen Wagen durch die engen Gänge zu schieben und las mir die Zutatenliste einzelner Produkte genauer durch. Die Hektik, die um mich herum herrschte, konnte ich gut ignorieren. Schließlich hatte ich heute mal einen freien Tag und konnte mir alle Zeit der Welt lassen, nachdem ich mich beim morgendlichen Joggen so verausgabt hatte. Gerade hatte ich einen ordentlichen Vorrat an Obst und Gemüse zusammengestellt, da tippte mir jemand auf die Schulter.
„Tschuldigung, ich hätt‘ gern gewusst, wo die Eier sind“, wurde ich angesprochen und dabei wohl aufgrund meines roten T-Shirts für eine Mitarbeiterin der Supermarktkette gehalten. Glücklicherweise konnte ich trotzdem Auskunft geben und setzte meinen Weg ungehindert fort. Am Süßigkeitenregal angekommen entschied ich mich, mir eine Packung Schokoladenkekse zu gönnen, obwohl ich genau wusste, dass die sich meistens als Hüftgold absetzten. Aber heute war ich immerhin aktiv gewesen, das musste doch belohnt werden!
Nach dem Bezahlen stellte ich fest, dass ich es mal wieder zu gut gemeint hatte, und mir wie schon so oft viel Gewicht auflud - aber irgendwie schaffte ich es trotzdem nach Hause, ohne dass ich die Taschen unterwegs einmal absetzten musste. Für Vorbeigehende sah es zwar mit Sicherheit seltsam aus, als ich mit zwei überfüllten Stoffbeuteln durch die Straßen schlurfte und dabei trotz guter Kondition keuchte, doch das ließ mich heute kalt.
Zurück in der Wohnung verlagerte ich das meiste in den Kühl- und Vorratsschrank und machte mir anschließend noch einen Kaffee, den ich zu meiner Packung Kekse trinken wollte. Mit der Schachtel in der Hand ging ich in Richtung Couch, als mein Blick auf einmal zur Seite fiel und ich ungewollt den Brief wieder sah. Irgendwie brachte mich dieser schon wieder ins Grübeln. Doch, so sehr ich darüber nachdachte, ich fand keine Erklärung dafür, warum Melanie den Brief nicht einmal lesen wollte.
Plötzlich kam ich auf die Idee, dass zwischen meiner Mitbewohnerin und ihrem Ex vielleicht mehr passiert sein könnte, als nur der Streit wegen Robins Abreise. Könnte er sie vielleicht wegen einer anderen verlassen haben? Das klang unlogisch, da er sich ja offensichtlich tatsächlich in Australien befand und sicherlich keinen gekannt hatte, als er dorthin geflogen war. Allerdings konnte es doch sein, dass er sie vor seiner Abreise hintergangen hatte. Vielleicht kam Melanie ja genau in dem Moment ins Schlafzimmer, als Robin und Kira… Moment mal, Kira?! Wie kam ich jetzt darauf?!
Ach ja, das war ja dieses billige Weibsstück, auf das sich mein ach so treuer Freund auf unsrer Abschlussfahrt nach Paris - Paris! Die Stadt der Liebe, wohlgemerkt… - eingelassen hatte. Hätte ich nach dieser Aktion den Brief meines Exfreundes gelesen und einen auf verständnisvoll getan?! Wohl kaum. Nein, ich hätte ihn vor seinen Augen in klitzekleine Stücke gerissen, damit der Mistkerl mal gemerkt hätte, wie weh es getan hatte, als er das mit meinem Herzen gemacht hatte! Tja, leider hatte er mir keinen Brief geschrieben… seine Entschuldigung klang noch nicht einmal besonders aufrichtig! Ich hatte es danach richtig genossen, an unserem letzten Abend der Reise vor seinen Augen mit Davie, dem englischen Austauschschüler, herumzuknutschen - verdammt gut küssen konnte der! Mehr lief allerdings nicht, Erik war bisher mein einziger fester Freund gewesen, mit dem ich natürlich auch mein erstes Mal gehabt hatte. One-Night-Stands waren nichts für mich und trotz der Aktion von Erik glaubte ich immer noch an die große Liebe.
Jedenfalls… 1:0 für Melanie, falls sich Robin vor seiner Abreise wirklich so scheiße benommen hatte.
Doch aus irgendeinem Grund - sei es nun weibliche Intuition oder bloße Vermutung - glaubte ich, dass es bei der Sache nicht ums Betrügen ging. Das hätte mir Melanie bestimmt erzählt, egal, ob sie damals gedemütigt wurde. Außerdem gab es noch tausend andere Gründe für Streit in einer Beziehung - alle hatte ich während meiner vierjährigen Beziehung zu Erik schon durchlebt. Und darauf war ich nicht im geringsten stolz, falls das so klang. Da wären natürlich die klassischen Streitpunkte wie Eifersucht, Beziehungspause oder Lügen und ebenso Langeweile - wobei die in einer zweimonatigen Beziehung eher nicht so schnell auftrat. Vielleicht war Robin ja schlecht im Bett. Ach nein, damit hätte Melanie sicherlich geprahlt - es sei denn, es war andersrum… was für eine Blamage.
So wütend konnte sie außerdem nicht auf diesen Robin sein - schließlich hatte sie den Brief ja nicht zerrissen, sondern schlichtweg ignoriert - oder war das etwa noch schlimmer?! Das hieße nämlich, Robin war ihr egal! Und sagte man nicht, dass Hass besser als Gleichgültigkeit war, da man so immerhin irgendein Gefühl für die verachtete Person hatte?! Andererseits hatte Melanie den Brief nicht weggeworfen. Sie hatte ihn ja kaum fünf Sekunden in der Hand gehabt, nachdem ich ihn ihr gebracht hatte… ob das jetzt gut war oder schlecht, wusste ich nicht. Dennoch meinte ich, einen kleinen Anflug von... Angst auf ihrem Gesicht entdeckt zu haben, als sie den Absender las. Oder war es eher der Schock?
Ich konnte nur mit Sicherheit sagen, dass Robin Melanie einen ziemlich langen Brief aus Australien geschickt hatte. Den zu schreiben war sicherlich nicht leicht für ihn gewesen. Er wäre bestimmt am Boden zerstört, wenn Melanie den Brief nicht wenigstens lesen würde…
Vorsichtig nahm ich den braunen Umschlag noch einmal in die Hand und strich ihn dabei behutsam glatt. Mit einem Mal schien es immer verlockender, einen Blick auf den Inhalt zu werfen. Doch dazu hatte ich wirklich kein Recht. Ich konnte mich nicht einfach in eine längst vergangene Beziehung einmischen, mit der ich nichts zu tun hatte.
Konnte ich Melanie umstimmen und dazu bringen, den Brief selbst zu lesen? Wohl kaum - nach ihrer Rede von heute Morgen, hatte sie den Brief inzwischen wahrscheinlich längst vergessen und konzentrierte sich stattdessen lieber in der Uni auf die Lehre des Lebens oder so etwas. Außerdem war Melanie ein unglaublich sturer Mensch, der sich ungern in irgendwelche Sachen hineinreden ließ. Wenn sie also beschlossen hatte, von ihren Eltern wegzuziehen oder mit dem tollsten Jungen aus ihrem Kurs zu schlafen oder eben den Brief von ihrem Ex nicht zu lesen, dann tat sie das auch. Von ihren Eltern ließ sie sich wohl noch weniger sagen, als von mir, aber ich würde sie trotzdem nicht umstimmen können, was das Lesen des Briefes betraf. Und so würde der Brief früher oder später im Altpapier verschwinden, ob das Entsorgen nun ich oder Melanie erledigte - es spielte keine Rolle. Robin würde sich wahrscheinlich trotzdem eine schöne Reise in Australien machen, doch er würde sich bestimmt immer fragen, was aus seinem Brief geworden war. Und ich würde mich immer fragen, was wohl gewesen wäre, wenn Melanie den Brief doch gelesen und Robin verziehen hätte und zurückschreiben würde…
Vielleicht sollte ich den Brief einfach aufmachen und selbst lesen - wenn dieser Robin vielleicht gar nicht so ein schlechter Kerl war, könnte ich das Melanie ja sagen. Womöglich würde sie sich sogar dafür bedanken - sonst hätte sie doch niemals erfahren, dass Robin sie zurück wollte. Vielleicht sollte ich in dieser komplizierten Angelegenheit vermitteln. Dann wäre ich die Heldin, die…
Verdammt, dachte ich mir in diesem Moment, das hörte sich nach einer ziemlich miesen Ausrede dafür an, dass ich vor Neugier schier platzte, je länger ich den Brief in der Hand hielt. Und dennoch könnte ich irgendwie recht haben… Das würde ich jedoch nie erfahren, wenn ich den Brief nicht lesen würde. Was würde das ausmachen, dachte ich mir, wenn Melanie nach meinem Lesen immer noch nichts mehr von Robin wissen wollte, war das Ganze eben umsonst.
Inzwischen war mein Kaffee unter der Maschine bestimmt kalt geworden und auf Kekse hatte ich keinen Heißhunger mehr. Darum schnappte ich mir augenblicklich den Brief und setzte mich damit in mein Zimmer aufs Bett - vorsichtshalber mit verschlossener Tür, obwohl ich wusste, dass Melanie noch mindestens drei Stunden in der Uni sein würde. Doch, statt den Brief einfach aufzureißen, streichelte ich ihn erst einmal vorsichtig und sah mir die Schrift des Unbekannten nochmals genauer an. Für einen jungen Mann schien er eine ganz ordentliche Handschrift zu haben. Überhaupt einen Mann zu finden, der heutzutage - im Zeitalter von E-Mails, SMS und Voice Mail - überhaupt noch Briefe schrieb, war nahezu unmöglich. So einer konnte doch nicht von Natur aus schlecht sein…
Nach einigen Minuten des stillen Betrachtens gab ich mir endlich einen Ruck und öffnete langsam, mit angehaltenem Atem, den Umschlag, in dem sich ein etwa vier Seiten langer Brief befand. Schon auf den ersten Blick bemerkte ich, dass die Sauberkeit der Handschrift sich durchgesetzt hatte. Geschickt faltete ich die einzelnen Seiten auseinander und las gezielt den Anfang des weit hergekommenen Briefes.
Liebe Melanie, begann er - kein ungewöhnlicher Anfang - es tut mir leid, dass ich mich erst jetzt bei dir melde - ein Blick auf das Datum verriet mir, dass der Brief vor etwa einer Woche abgeschickt worden war.
Vor drei Tagen bin ich hier in Australien, genauer gesagt Sydney, angekommen - ob er das für eine lange Zeit hielt? Oder meinte er, weil er sich überhaupt so lange nicht gemeldet hatte? Ungeduldig las ich weiter, ohne mir über jedes einzelne Wort Gedanken zu machen.
Eine Entschuldigung wäre schon längst fällig gewesen, das weiß ich. Doch nach dieser Sache neulich… weißt du, da wusste ich einfach nicht, wie es mit uns weitergehen sollte. Vielleicht habe ich falsch reagiert und es war sicherlich feige von mir, mich einfach nicht mehr zu melden, aber ich sah keinen anderen Ausweg… ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass du mir das verzeihst und wir noch einmal über den Vorfall sprechen können - vielleicht war alles nur ein großes Missverständnis. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du mir nicht egal bist, Melanie. Du bist eine ganz besondere Frau für mich und ich hoffe, wir bleiben in Kontakt.
Dass ich dir einen Brief geschrieben habe, soll in erster Linie zeigen, wie viel du mir bedeutest. Der andere - unromantischere - Grund dafür ist die Zeitverschiebung. Hätte ich dich anrufen wollen, wärst du wahrscheinlich gerade in der Uni gewesen oder hättest geschlafen. Da ich bis jetzt noch keinen Job habe, weiß ich auch noch nicht, ob sich daran in den nächsten Wochen etwas ändern wird. Aber, falls du gerne persönlich mit mir sprechen möchtest, lass es mich bitte wissen, dann finden wir einen Weg, versprochen!
Hier im Studentenwohnheim, in dem ich kurzfristig untergekommen bin, ohne wirklich hier zu studieren, gibt es einen Telefonanschluss und mit einer günstigen Telefonkarte kann ich bestimmt auch mal nach Deutschland telefonieren. Das macht Brad, mein Zimmergenosse aus Amerika, auch oft, hat er mir erzählt. Er ist echt funny, wie man hier sagen würde ;-)
Gestern hat er mir hier in der Gegend - einem Vorort von Sydney - ein Internetcafé gezeigt, in dem ich mir einen Lebenslauf angelegt habe. Demnächst will ich in der Innenstadt nach einem Job fragen. Wobei mir im Moment egal ist, als was ich arbeiten werde, denn nach dem teuren Flug muss ich erst einmal wieder zu Geld kommen. Mit dem Visum ist das aber geregelt, bis 30 darf man hier nämlich als Ausländer eine Arbeitserlaubnis beantragen. War auch gar nicht so schwer, eines zu bekommen - Papierkram eben.
Und wie läuft es bei Dir so zurzeit? Macht dir das Biologiestudium noch Spaß? Ich habe dich als sehr ehrgeizige Person kennen gelernt und bin mir sicher, du wirst als Beste abschneiden bei den Endprüfungen dieses Jahr. Vielleicht fängst du dann auch etwas Sinnvolleres an, anstatt wie ich mein ganzes Geld auf den Kopf zu hauen, um ins Ausland zu reisen ;-)
Aber das ist natürlich Quatsch, bisher finde ich es hier echt toll, und bin froh, nicht gleich in den Berufsalltag eingestiegen zu sein - trotz meines erfolgreichen Masterabschlusses.
Das einzig Traurige ist natürlich, dass du nicht mit mir hier sein kannst. Ich bin mir sicher, du wärst von der Stadt total begeistert - hier kann man nämlich shoppen bis zum Umfallen. Viel habe ich zwar leider noch nicht gesehen, aber das wird sich in nächster Zeit bestimmt ändern!
Wenn du willst, darfst du mir gerne an die Adresse auf dem Umschlag zurückschreiben, daran ändert sich bis auf Weiteres nichts. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, mal wieder etwas von dir zu hören und hoffe, du bist nicht zu sehr enttäuscht von mir…
Liebste Grüße und a big hug from Sydney
Dein Robin
Ich las die letzten Zeilen gleich noch einmal. Dann noch einmal und danach den ganzen Brief noch einmal von Anfang an. Den Großteil des Inhalts hatte ich verstanden - der klang nicht weiter persönlich, sondern eher wie ein kleiner Reisebericht auf einer Postkarte… doch was war mit dem Rest? Was meinte er mit dieser Sache, die zwischen den beiden vorgefallen war und mit dem möglichen Missverständnis?
Diesen Teil konnte ich mir als außenstehende Person schwer erschließen. Dennoch hatte mich mein Gefühl nicht betrogen: Robin schien in der Tat ein aufrichtiger, emotionaler und rücksichtsvoller Mensch zu sein. Den einzigen Fehler, den er möglicherweise begangen hatte, hatte Melanie verschwiegen, denn es war eindeutig, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit über ihre Trennung von Robin gesagt hatte. Was ich jedoch nachvollziehen konnte - schließlich war ich nicht ihre beste Freundin und der Vorfall war vermutlich persönlich…
Natürlich hätte ich gerne gewusst, was hinter der Geschichte steckte. Am liebsten hätte ich Melanie direkt danach gefragt, aber es ging mich nichts an. Mit dem Lesen des Briefes hatte ich bereits eine wesentliche Grenze überschritten und mich in das Privatleben zweier erwachsener Menschen eingemischt, die ich beide auf ganz andere Art nicht das Geringste kannte. Von Robin konnte ich mir allerdings ein vages Bild machen, nachdem ich seine Worte mehrmals gelesen hatte, die mich zugegebenermaßen zutiefst berührten und beeindruckten. Wer hätte gedacht, dass eine mir völlig fremde Person, die mir zuvor sogar noch als unzuverlässig und egoistisch beschrieben wurde, von mir solche Sympathien bekam?! Was hatte dieser Robin nur an sich, dass ich seinen Worten so einfach glaubte, ohne mich zu fragen, ob er vielleicht genauso wie Melanie wesentliche Details verschwieg? Sogar die einfachsten Sachen wie das Studentenwohnheim oder seinen amerikanischen Mitbewohner könnte er einfach erfunden haben, schließlich hatte ich Robin nie kennen gelernt, um mir ein richtiges Bild von ihm machen zu können. Er hätte sich Brad ausdenken können, genau wie Melanie ihre eigene Wohnung erfunden hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Und schreiben konnte man viel, manche Menschen dachten sich eine neue Persönlichkeit aus und stellten deren Profil ins Internet, um andere zu beeindrucken und zu täuschen und hinterher womöglich zu benutzen…
Doch mein Gefühl sagte mir, dass dieser Robin nicht zu dieser Sorte Mensch gehörte. Sicherlich hatte mich meine sogenannte Menschenkenntnis schon mal verlassen - Stichwort Erik - doch ich hatte mit Vorahnungen auch oft richtig gelegen. Mit Melanie hatte ich mir ja im Endeffekt eine ganz passable Mitbewohnerin ausgesucht. Mochte sie auch die Wahrheit verschweigen oder von Bett zu Bett hüpfen, sie hatte einen guten Charakter, das wusste ich.
Doch sie kannte Robin natürlich besser als ich. Und sie hätte wohl gewusst, was er mit dieser Sache meinte. Ich wiederum brannte darauf, es zu erfahren. Doch weder Robin, noch Melanie würden mir ihr Geheimnis so einfach anvertrauen, darum musste ich wohl oder übel damit leben, erst einmal im Ungewissen zu bleiben.