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Kapitel 4:

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Im Café español war wie jeden Morgen nicht besonders viel los. Am einen Tisch schlürfte ein Rentner in eine Zeitung versunken sein tiefschwarzes Gebräu mit einer Ladung Zucker. Auf dem Sofa tankten zwei Frauen mittleren Alters mit Kinderwägen ihre Vorräte für einen weiteren stressigen Tag als frischgebackene Mami auf. Und ein paar Studenten holten sich ihre morgendliche Koffeindröhnung zum Mitnehmen.

Die „bocadillos“ belegte ich morgens vor den Öffnungszeiten immer frisch, wusste jedoch aus Erfahrung, dass diese frühestens um zehn Uhr geordert werden würden.

Mein Chef, der Besitzer des kleinen aber feinen Cafés, das im Laufe der letzten Jahre zu einer Art Szenetreffpunkt geworden war, war ein großer Spanienfan - oder sogar selbst Spanier, was man seinem Namen - Ferdinand Maler - jedoch nicht entnehmen konnte. Seine Leidenschaft spiegelte sich deshalb in jedem Detail wider, angefangen vom Namen bis hin zu den Speisen und Getränken und der überdimensionalen Spanien-Flagge an der Wand gegenüber der Theke. Hier hieß ein Espresso wie überall bekannt nicht einfach Espresso, sondern „café solo“ und ein Milchkaffee nicht caffè latte, sondern „café con leche“. Zwar angesichts der spanischen Übersetzung durchaus sinnvoll, aber bei Nicht-Stammgästen eher verwirrend. An die italienischen Namen wie „Latte macchiato“ oder „Cappuccino“ hatte sich hier in Deutschland mittlerweile jeder gewöhnt, doch mit den spanischen Entsprechungen wussten die meisten nichts anzufangen. Auch ich hatte die meisten Kaffeegetränke im Wörterbuch nachschlagen müssen, da wir diese in unserer Spanisch-AG im Gymnasium nicht alle behandelt hatten. Die falsche Aussprache der Namen bei der Bestellung brachte zudem des Öfteren ein spannendes Rätselraten mit sich. Die beiden kleinen Worte „cortado“ oder „con hielo“ konnten beispielsweise leicht zur Verwechslung führen.

Doch mein Chef, der selten anzutreffen war, bestand auf das spanische Ambiente durch und durch, weshalb meine Kollegen und ich irgendwann aufhörten, zu protestieren und uns somit weiterhin tagtäglich mit Spanischübungen herumschlagen mussten. Unsere T-Shirts, die wir bei der Arbeit trugen, waren übrigens knallgelb und die dazugehörigen Schürzen rot - wie die Nationalfarben Spaniens…

Gegen halb 12 stieß an diesem Tag meine Kollegin Johanna zu mir, die mittwochs immer zeitig Schule aus hatte - sie ging in die Oberstufe eines Gymnasiums in der Innenstadt. Auch sie kommentierte beim Eintreten kurz die leeren Tische, die sich in der Zeit vom Öffnen des Cafés bis jetzt immer noch nicht so recht füllen wollten. Aber wahrscheinlich würde es demnächst voller werden, wenn die arbeitende Bevölkerung aus dem Büro hier ihre Mittagspause verbrachte.

Eine Viertelstunde später kam ein gutaussehender junger Mann ins Café, dessen Bestellung ich aufnehmen wollte.

„Ich möchte bitte einen Milchkaffee und einen Kuss von Johanna“, grinste er frech und warf der schönen Gymnasiastin hinter mir einen anzüglichen Blick zu.

„Geht das in Ordnung, Johanna?“, fragte ich sie schmunzelnd und ließ meine Kollegin bedienen, während ich die leeren Tassen einer vierköpfigen Familie abräumte, die gerade gegangen war. Wenig später standen Johanna und der fremde Typ tuschelnd neben der Theke und kicherten wie zwei verliebte Teenies. Innerlich lächelnd musterte ich die beiden und freute mich für das junge Glück, musste allerdings unwillkürlich an meine letzte Beziehung zurück denken, in der es trotz der Krise am Schluss durchaus schöne Momente gegeben hatte. Damals war ich etwa im gleichen Alter wie Johanna jetzt gewesen.

Gegen 15 Uhr hatte ich endlich Feierabend. Inzwischen war ich von der 30-jährigen Sandy, einer guten Bekannten des Chefs, abgelöst worden, die gleich wieder lossprudelte, wie wir es von ihr gewohnt waren. Heute jedoch hatte ich kein besonderes Interesse daran, der Plaudertasche zuzuhören und verabschiedete mich daher schnell von meinen Kolleginnen. Draußen stellte ich fest, dass es trotz der guten Wetteraussichten für heute während meiner Schicht heftig geregnet hatte, die Bänke waren noch feucht. Glücklicherweise war es der einzige Guss des Tages gewesen - meinen Regenschirm hatte ich in der Eile wieder einmal liegen lassen. Bei meiner Lieblingseisdiele ließ ich mir zwei Kugeln Stracciatella-Eiscreme im Becher schmecken und schlenderte genüsslich nach Hause.

Ein Blick in den Briefkasten verriet mir, dass heute keine Post für Melanie oder mich gekommen war, also hatte ich nur den inzwischen leeren Eisbecher in der Hand, als ich die Wohnungstür aufsperrte. Da im Fernsehen um diese Zeit ohnehin nichts besonders tolles lief, beschloss ich voller Motivation, noch ein wenig aufzuräumen und zu saugen, bevor ich mich auf die Couch lümmelte und in meinem aktuellen Lesestoff schmökerte - einem kitschigen Roman meines Lieblingsautors.

Mit meinem Zimmer war ich schnell fertig - es war nicht besonders groß und im Grunde genommen war ich ein recht ordentlicher Mensch. Einzig die Briefutensilien des gestrigen Abends legte ich vorerst in meine Schreibtischschublade und wischte auf meinen Schränken Staub, dann nahm ich mir Wohnzimmer, Küche und Bad vor. Gerade wollte ich den Staubsauger wegstellen, da kam mir vor Melanies Tür auf einmal ein Gedanke: Was wäre, wenn Melanie in ihrem Zimmer Sachen von Robin aufbewahrte? Irgendwelche Erinnerungen, von denen sie sich nicht trennen konnte, Notizen oder Hinweise auf die gemeinsame Zeit.

Vielleicht sogar zu dieser einen „Sache“…

„Nein“, protestierte wieder der vernünftige Teil in meinem Inneren, „lass es sein, du darfst nicht in anderer Leute Dinge rumschnüffeln…“

Doch der Frust, den ich verspürt hätte, wenn ich es nicht wenigstens versuchte, wäre viel zu groß gewesen.

Vorsichtig, so, als sei ich mir nicht vollkommen sicher, dass meine Mitbewohnerin in der Uni sei, öffnete ich die Tür einen kleinen Spalt und warf einen Blick in den chaotischen Raum, in dem ich vor einigen Stunden erst gewesen war. Dieses Zimmer gehörte mal aufgeräumt, dachte ich mir kopfschüttelnd und fragte mich zugleich, warum ich Melanie damals das größere der beiden Schlafzimmer angeboten hatte. Wie konnte man seine eigenen vier Wände nur dermaßen verunstalten? Kopfschüttelnd richtete ich ihre Bettwäsche, die zusammengeknüllt da lag, ohne, dass sie ordentlich ausgeschüttelt und neu gemacht worden war.

Nur, um sie gleich danach wieder zu verkrumpeln - Melanie sollte ja nicht schon beim Reinkommen merken, dass ich in ihrem Zimmer gewesen war; sie sollte nicht den kleinsten Hinweis darauf finden. Andernfalls würde sie mir garantiert eine Szene machen - zu Recht natürlich! - und würde mir nicht mehr vertrauen können. Dass ich den Brief an sie ohne ihr Einverständnis gelesen hatte, hatte ihr genug missfallen. Doch das hier war eine ganz andere Geschichte, es war ein regelrechter Vertrauensmissbrauch. Wenn Melanie mir nicht vertraut hätte, hätte sie sicherlich die Tür abgeschlossen…

Und dennoch stand ich nun mitten in ihrem Zimmer und schwor mir, nur so lange zu suchen, bis ich das Rätsel des Vorfalls zwischen Melanie und Robin gelöst hatte. Das konnte ja wohl nicht so schwer sein, oder?!

Eine gute Stunde später dachte ich allerdings nicht mehr so, als ich in Melanies gesamtem Zimmer nicht einen einzigen Hinweis auf Robin gefunden hatte. Gerade so, als sei er nur erfunden worden und existiere gar nicht.

Erst einmal hatte ich natürlich an das Naheliegendste gedacht: Melanies Tagebuch. Aber - besaß meine Mitbewohnerin so etwas überhaupt? Hatten das nicht nur verschlossene, eventuell depressive Menschen, die sich statt ihrem besten Freund einem kleinen Büchlein anvertrauten? Die Beschreibung passte nicht zu Melanie, darum fand ich nur ein kleines Notizbuch, das sie sparsam mit Vermerken gefüllt hatte. Es waren weder Adressen aufgeschrieben worden, noch tauchte Robins Name irgendwo auf. Immerhin war ich fast gerührt, als ich meinen Geburtstag in dem kleinen Heftchen entdeckte. Wann dieser Robin Geburtstag hatte, fand ich nicht heraus. Auch in ihrem Kleiderschrank gab es nichts Verdächtiges, außer einem weiten Männersweatshirt, auf dem der Name einer anderen Universität prangte. Also ging das Suchen weiter und in ihren drei Schreibtischschubladen fand ich wirklich einiges: diverse Kaugummis, Einkaufszettel, Notizen für die Uni, Schokoriegel, Fotos von sämtlichen Studenten und ihrer Wenigkeit, Fotos von ihrer Familie, Kondome, Gratis Flyer, Bon Bons, Ohropax… nur nicht einen einzigen kleinen Hinweis auf Robin - so oft ich mir die Fotos von ihr und irgendwelchen Männern anschaute. Alle samt waren auf der Rückseite beschriftet, und der Name „Robin“ tauchte nirgendwo auf.

Es war zum Verrücktwerden. Durch Melanie ließ sich nichts über diesen fremden Mann herausbekommen. Ich konnte sie weder darauf ansprechen, noch fand ich in ihrem Zimmer auch nur ansatzweise etwas über ihn heraus.

„So ein verdammter Mist!“, dachte ich mir, „wie soll ich jetzt nur Robin zurück schreiben?“

Es war aussichtslos. Hastig wischte ich mir eine winzige Träne aus dem Auge, die gerade über meine Wange laufen wollte, und ging in mein Zimmer.

Warum hatte ich bloß angefangen, mich in Melanies scheiß Vergangenheit einzumischen? Ich hätte den Brief doch einfach wegwerfen können, ohne ihn gelesen zu haben - genau, wie Melanie es getan hätte.

Robins Worte waren es gewesen, die mich so berührt hatten, dass ich diese Liebe retten wollte.

Verzweifelt versuchte ich, mich mit einer Packung Mini Schoko Cookies abzulenken, die ich beim Aufräumen in meinem Schreibtisch gefunden hatte - allerdings verstärkten diese meine emotionale Seite eher und ich hielt mich gerade noch zurück, laut los zu heulen. Das tat ich meistens zuerst, wenn ich mit einer unvorhersehbaren Situation überfordert war. Wie ein kleines Kind, einfach den Tränen freien Lauf lassen. Ich ärgerte mich über diese schlechte Angewohnheit, denn schließlich war ich schon 23, einigermaßen selbstständig und wohnte längst nicht mehr im Hotel Mama. Meine beiden Arbeitsstellen hatte ich mir selbst gesucht und auch die Wohnung, die ich mir mit meinem eigenen Geld finanzierte.

Aber das alles hatte ja nicht das Geringste mit dem jetzigen Problem zu tun, wenn es denn überhaupt so ein großes Problem war, wie ich im Augenblick dachte. Doch, wie konnte ich mich noch ablenken, außer mit Keksen? Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es bereits 18 Uhr war und meine beste Freundin Sam längst zu Hause sein musste. Als ich sie anrief, freute sie sich überschwänglich, meine Stimme zu hören, und erklärte mir, dass sie zurzeit Stress mit ihrem Freund und auf der Arbeit hatte und mit mir am Wochenende unbedingt ein paar Drinks kippen müsse. Da mir das im Augenblick nicht groß schaden würde, schlug ich ihr vor, am Samstagabend Essen zu gehen und danach unsre Lieblingscocktailbar aufzusuchen. Natürlich hatte sie nichts dagegen, bedankte sich für den wie sie es nannte „rettenden“ Anruf und legte auf. Besonders lang war unser Gespräch nicht gewesen, daher hatte es sicherlich nicht die beste Möglichkeit dargestellt, mich abzulenken.

Darum musste ich jetzt handeln.

In der Hoffnung, dass ich mein Geschreibsel des gestrigen Abends wenigstens einigermaßen retten konnte, holte ich Robins und meinen angefangenen Brief hervor, überflog beide noch einmal schnell und kam dann zum Abschluss, ohne irgendeine Sache zu erwähnen, die zwischen Robin und Melanie einmal gelaufen war, sondern beendete erst einmal den letzten Satz mit:

Genetik. Das ist ziemlich schwer, wie du ja weißt.

Hm, sollte das etwa schon alles gewesen sein? Mein Schreiben war ja im Vergleich zu Robins der reinste Witz und bestand aus gerade mal... zehn Zeilen? Doch, wie sollte ich weitermachen?

Aber ich bin immer noch die Beste im Kurs und das Lernen macht mir Spaß. Trotzdem kann ich natürlich verstehen, dass es dich nach dem ganzen Stress ins Ausland verschlagen hat.

Ja, damit konnte ich zufrieden sein. Robin wusste sicherlich, dass Melanie von seinem Plan, nach Australien zu gehen, nicht sonderlich begeistert gewesen war, aber dieser Satz von ihr... von mir… klang versöhnlich. Womöglich würde dieser eine Vorfall, der Robin und Melanie auseinander gebracht hatte, nicht mehr zur Sprache kommen, falls… wir noch einmal Kontakt haben würden. Bereits jetzt hoffte ich inständig, dass Robin mir zurück schrieb - auch, wenn es unwahrscheinlich war. Erstens klang ich womöglich nicht wie Melanie oder er kannte ihre Schrift. Zweitens war er so weit weg bestimmt mit anderen Dingen beschäftigt, wahrscheinlich mit gutaussehenden Frauen, anstatt sich in Deutschland um eine zu kümmern, die er erst in ein paar Monaten wieder sehen würde.

Es wäre schön, wenn du mir ein Foto von dir - vielleicht mit einem Känguru ;-) - schicken könntest, damit ich ein aktuelles Bild von dir habe.

Alles Gute und bis bald

M

Ich stockte kurz, und stellte fest, dass wir ja den gleichen Anfangsbuchstaben hatten. Mona und

Melanie

So beendete ich den Brief und hoffte, dass die letzten Worte nicht zu auffällig wirkten.

Plötzlich hörte ich, dass von außen ein Schlüssel im Türschloss umgedreht wurde. Melanie kam heim.

Vor Schreck ließ ich den Kugelschreiber fallen, packte hastig die Briefe zusammen und schob sie unter mein Kopfkissen. Keine Sekunde zu früh, denn Melanie steckte augenblicklich ihren Kopf durch meine Zimmertür, in der Hand eine rote Rose.

„Hi Mona, na wie geht’s?“, fragte sie lachend und hielt die Blume hoch.

„Die hier hab ich von einem heimlichen Verehrer.“

Sie zwinkerte und machte die Tür wieder hinter sich zu, um in ihr Zimmer zu gehen.

„Aha“, kommentierte ich ihr kurzes Auftauchen, lauschte kurz nach draußen, um sicher zu gehen, dass Melanie nicht mehr im Gang war, und holte den fertigen Brief wieder hervor. Sollte ich ihn lieber noch einmal durchlesen?

„Nein, Augen zu und durch! Und abwarten…“

Abwarten, ob Robin mir zurück schreiben würde, oder viel eher „Melanie“.

„Bitte schreib mir“, flehte ich still, als ich das Papier in den Umschlag schob und die beiden Briefe in meiner obersten Schreibtischschublade einschloss. Bereits jetzt wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab, denn ich hatte fest vor, den Brief morgen noch abzuschicken. Und er würde mit Sicherheit in spätestens einer Woche bei Robin ankommen…

Liebesbriefe aus Australien

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