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Kapitel 5

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Mit verschränkten Beinen in schwarzen Leggings sitzt Anke Forster auf dem Sofa, das gut und gerne Platz für fünf erwachsene Menschen bietet. Die zierliche Frau verschwindet beinahe zwischen unzähligen, mit Glitzersteinen bestickten Kissen. Eine Orgie in allen nur denkbaren Pink- und Lilatönen. Sie strahlt mich an mit den mandelförmigen Augen, die sie ihrer aus Japan stammenden Großmutter verdankt. Niemand käme auf die Idee, dass diese federleichte Person, die auch mit 65 Jahren noch wie ein junges Mädchen durch ihr Leben wirbelt, in ihren jungen Jahren als Krankenschwester gearbeitet hat.

Im zweiten Semester meines Psychologie- und Politikstudiums stolperte ich buchstäblich in Ankes Leben. Sie hatte ihren Beruf an den Nagel gehängt und studierte Medizin. In einer Kreuzberger Kneipe saßen wir zufällig nebeneinander am Tresen. An dem Tag, an dem sie das Physikum vermasselt hatte.

„Zum dritten und letzten Mal. Aus, der Traum“ schniefte sie, während die Tränen über ihr Gesicht liefen.

Wir betranken uns gemeinsam. Ich folgte Anke nach Hause, stolperte über die Fußmatte. Wir landeten auf dem Boden der Diele und schafften es erst sehr viel später bis zum Bett.

Am Ende einer ebenso stürmischen wie kurzen Affäre ging jeder seine eigenen Wege. Geblieben ist uns eine lebenslange belastbare Freundschaft.

Anke Forster ist eine gefragte Therapeutin. Sie hat sich auf Körperpsychotherapie spezialisiert. Trotz ihres vollen Terminkalenders hat sie Zeit für mich, wann immer ich sie brauche. Im Lauf der Jahre ist sie so etwas wie meine ganz persönliche Supervisorin geworden. Sie kann gut zuhören, stellt kluge Fragen. Nur mit meinem privaten Kram soll ich sie nicht behelligen, hat sie zur Bedingung gemacht. Ich denke, die Tatsache, dass ich nicht für eine feste Beziehung zu haben war, hat sie mir nie ganz verziehen.

An diesem Sonntagnachmittag sitze ich in ihrem Wohnzimmer, das ein wenig an einen buddhistischen Tempel erinnert.

„Was treibt dich heute in meine Höhle?“

Neugierig betrachten mich die dunklen Augen. Außer den Zehen mit rot lackierten Nägeln bewegt sich nichts an der grazilen Gestalt, der ich gegenüber sitze. Während ich von meiner Klientin erzähle, kommt mir der Gedanke, dass ich sie Anke gegenüber bisher nie erwähnt habe, obwohl dieses Thema mich schon länger beschäftigt. Das ist ungewöhnlich. Warum habe ich nicht früher mit meiner Freundin geredet?

Ich fasse meine Eindrücke zusammen, die ich in den Sitzungen mit Frau Bastian gewonnen habe. Die vordergründigen Ziele, die sie mir serviert, ohne zum Kern ihres Anliegens zu kommen; meine Hypothese, dass diese Frau ein Problem hat, das ihr, salopp ausgedrückt, bis auf die seelischen Schuhsohlen geht; ich keine Ahnung habe, was das sein könnte; meine zögerliche Haltung zu der Frage, ob ich nicht das Coaching beenden und eine Psychotherapie empfehlen sollte; schließlich mein Entschluss, in der Sitzung am folgenden Tag eine Klärung herbeizuführen.

Ich kämpfe mit mir und schaffe es nicht, zu erwähnen, dass ich diese Frau attraktiv finde und öfter an sie denke, als es für eine Klienten-Berater-Beziehung angemessen ist. Auch die Geschichte mit dem Foto in der Handtasche lasse ich weg. Ich spiele ein unehrliches Spiel und fühle mich elend.

Anke schweigt lange, als ich meinen Bericht beendet habe. Sie streicht mit der Hand über ihren Kopf, durch die pechschwarzen Haare, die so kurz sind, dass sie sich sofort wieder senkrecht stellen.

„Was denkst du, wie ich dich unterstützen könnte, Leo?“

„Keine Ahnung.“ Ich lasse mich tief in den weichen Sessel zurückfallen.

„Was ich höre, ist folgendes“, Anke räuspert sich. „In mehreren Sitzungen mit deiner Klientin hast du den Eindruck gewonnen, dass sie nicht offen zu dir ist. Es ist dir nicht gelungen, eine auf gegenseitigem Vertrauen basierende Beziehung aufzubauen. Deine Hypothese ist, dass die Frau ein Problem hat, das sie mit dir nicht besprechen will, aus welchem Grund auch immer. Trotzdem kommt sie weiterhin zu den Sitzungen. Du hast ihr deine Wahrnehmungen mitgeteilt und sie über die möglichen Konsequenzen aufgeklärt. Für dich selbst hast du die Entscheidung getroffen, den Coachingprozess zu beenden und der Klientin eine Psychotherapie als Alternative zu empfehlen, falls sie nicht erkennen lässt, dass sie ab sofort ihr eigentliches Thema mit dir bearbeiten will und kann. Ist das zutreffend beschrieben?“

„Ich könnte es nicht besser machen.“

Ich bin sicher, Anke weiß, dass da noch etwas ist. Was ich beschrieben habe und was sie perfekt zusammengefasst hat, ist ein Alltagsproblem für jeden Coach. Warum also sitze ich hier? Ich denke, das wissen wir beide. Ich will, dass sie mich einfängt bei meinen Versuchen vor mir selbst zu fliehen.

Anke betrachtet ihre Hände, dann mich.

„Du siehst müde aus, Leo.“

Meine Hand versucht, die Müdigkeit aus meinem Gesicht zu wischen. „Ich habe miserabel geschlafen.“

Die Beine in den engen schwarzen Hosen lösen sich aus dem Lotussitz. Anke rutscht auf dem Sofa ein Stück weit nach vorne, näher zu mir. Sie sitzt sehr aufrecht. Strahlt Wärme aus und hohe Konzentration. Die Füße hängen in der Luft. Sie kann alle Zehen einzeln bewegen. Ich habe das mal ausprobiert. Es geht nicht. Wie kann ein Mensch mit solch kleinen Füßen so fest mit der Erde verankert sein?

„Möchtest du mir sagen, was dich beschäftigt?“

Ich blicke auf. „Deine Füße. Und deine Power.“

Wir schweigen lange. Ich fühle mich vollkommen kraftlos. Starre vor mich hin und stelle fest, dass ich nicht alleine auf der Welt bin, als Anke aufsteht und ein Fenster öffnet. Es ist ungewöhnlich warm an diesem ersten Sonntag im Mai und so fühlt sich der Windhauch, der mich streift, schon ein wenig nach Sommer an.

„Bist du sicher, Leo, dass du das Gespräch fortsetzen möchtest?“

Ich fühle mich ertappt. Bemühe mich in meinem Sessel um eine halbwegs aufrechte Haltung. Wirklich gut scheint mir das nicht zu gelingen. Auf dem Weg zurück zum Sofa bleibt Anke kurz bei mir stehen, berührt mich sanft an der Schulter.

„Ich würde dir gerne sagen, was mir durch den Kopf geht, habe aber Zweifel, ob es für dich passt im Moment. Wenn ich dich so anschaue in deinem Sessel, habe ich das Bild eines Menschen vor Augen, der sich aufzulösen scheint und zwischen den Kissen zu zerfließen droht.“

„Leg’ los, Anke.“

Meine kleine alte Freundin mit der Attitüde einer Geisha zwischen tausend bunten Kissen. Das vertraute Gesicht mit den Mandelaugen. Augen, die Energie aussenden. Ich schaue vorsichtig aus meinem inneren Versteck hervor. Warte auf das, was kommt.

„Du hast gesagt, dass deine Klientin kein Vertrauen zu dir aufbauen konnte.“ Pause.

Ich sollte das Atmen nicht vergessen.

„Wie viel Vertrauen bringst du denn dieser Frau entgegen?“

Die hohe Wand, vor der Anke sitzt, ist in einem satten Dunkelrot gestrichen. Neben dem Sofa, auf dem außer ihr noch mindestens vier Menschen bequem Platz nehmen könnten, steht eine Buddhastatue aus hellem Stein, etwa einen Meter groß. Für jemanden, dem derartige Symbole nichts bedeuten, der triviale Wohnzimmerschmuck eines Esoterikers. Für mich in diesem Augenblick ein hilfreicher Anker, um meine Gedanken zu sortieren. Dass der Buddha aussieht, als wüsste er die Antwort schon, stört mich nicht.

„Alles was sie mir bisher an Themen aufgetischt hat, ich kann das nicht anders nennen, halte ich für vorgeschoben. Was sie wirklich bewegt, teilt sie mir nicht mit. Wenn sich deine Frage auf diesen Aspekt bezieht, trifft es zu, ich misstraue der Klientin.“

Ich warte auf ein weiteres Stichwort. Es kommt nicht.

„Da ist noch etwas“ höre ich den mutigen Leo sagen, der plötzlich auf meiner inneren Bühne etwas weiter vorne an der Rampe erschienen ist.

Der Buddha schweigt. Anke wartet. Sie reicht mir nicht die Hand, um mir aus meinem Versteck herauszuhelfen.

„Ich habe den Verdacht, dass sie meinetwegen das Coaching begonnen hat.“

Anke schaut mich fragend an. „Was genau hat dich auf diesen Gedanken gebracht?“

„Ich kann es nicht erklären. Es ist eher ein diffuses Gefühl.“

„Kannst du einen konkreten Anlass beschreiben, bei dem du dieses Gefühl hattest?“

„Als ich ihr in unserem Vorgespräch nahelegte, sie solle sich weitere Coaches anschauen und erst dann entscheiden, mit wem sie arbeiten wolle, sagte sie, sie wisse genug von mir, so etwa drückte sie sich aus. Um sich dann zu korrigieren mit den Worten, sie habe einige Informationen über mich von einem Kollegen bekommen. Ich habe dem zunächst keine Bedeutung beigemessen.“

„Fallen dir noch andere Ereignisse ein?“

„Nichts Konkretes. Sie versucht mit mir zu flirten, glaube ich.“ Ich sinke in den Sessel. Versuche tief durchzuatmen.

„Glaubst du, sie flirtet mit dir oder bist du es, der… ?“

„Stop, Anke. Bitte nicht die Strophe mit der Übertragung.“

Sie lässt sich nicht einschüchtern. Schaut mich ernst an.

„Möchtest du weiter machen, Leo?“

„Ja, was willst du mir sagen?“ Auf meinen gereizten Tonfall geht sie nicht ein.

„Beschreibe doch bitte das letzte Zusammentreffen mit deiner Klientin.“

Jetzt muss ich entscheiden, gestehe ich dem Buddha, der anders als ich, vollkommen mit sich im Reinen zu sein scheint, ob ich endlich den Mut aufbringe, ehrlich zu mir selbst zu sein. Wenn nicht, habe ich Ankes Zeit und Zuwendung vergeudet und sollte mich verabschieden.

„Es lief nach dem bekannten Muster. Sie beschäftigte mich mit einer aktuellen Geschichte aus dem Büro und der Bitte, gemeinsam ihr Verhalten in diesem Zusammenhang zu analysieren und andere Handlungsoptionen zu entwickeln. Meine Geduld war am Ende. Sie muss das gespürt haben, als ich ihr mitteilte, dass wir so nicht weiter machen können. Sie floh geradezu auf die Toilette. Als sie zurück kam, konnte ich sehen, dass sie geweint hatte. Ich bat sie, sich zu überlegen, ob sie bereit sei, in einer weiteren Sitzung darüber zu sprechen, was sie so sehr bedrückte. Andernfalls würden wir die Zusammenarbeit beenden. Ich sprach auch das Thema Psychotherapie an. Wir vereinbarten, dass sie mir nach einer Bedenkzeit mitteilen solle, für welchen Weg sie sich entschieden hatte. Das war’s.“

„Du hast ihr angesehen, dass sie geweint hatte. Was hast du gefühlt?“

„Angst. Und Schuld.“

„Was genau hat dir Angst gemacht?“

„Ich war in diesem Moment nicht sicher, ob ich in der Lage wäre, die gebotene Distanz zu wahren. Das habe ich noch nie erlebt im beruflichen Kontext.“

„Was war anders als sonst?“

„Es kommt hin und wieder vor, dass Klienten sehr starke Gefühle zeigen, auch dass sie weinen. Ich denke, dass mir in diesem Fall, mit dieser Klientin, meine eigenen Gefühle in die Quere kamen. Oder vielmehr die Tatsache, dass ich nicht professionell damit umgegangen bin.“

Es fällt mir schwer, aber ich mache weiter.

“Sie ist eine schöne Frau, strahlt etwas aus, das mich zugleich anzieht und verwirrt. Der Coach wollte die Sache beenden. Leo nicht.“

„Was genau hat dich daran gehindert, das Coaching zu beenden?“

„Ich habe es genossen, sie zu sehen. Sie spielt ein Spiel mit mir. Es war faszinierend, gleichzeitig Beobachter und Objekt ihres Spiels zu sein. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich die Absicht, Grenzen zu überschreiten.“

Anke braucht eine Pause, kocht Tee und schickt mich an die Luft, auf die Terrasse ihrer Wohnung im 6. Stock. Ein guter Platz, um Energie zu tanken, Licht und Schatten zu beobachten, Überblick zu gewinnen.

Mit dampfenden Teebechern sitzen wir uns in dem verschwenderisch bunten Wohnzimmer gegenüber. Einen Teil meiner Schwere habe ich auf der Terrasse zurück gelassen. Vielleicht hat auch Anke sie mitgenommen und irgendwie entsorgt.

„Dir geht es etwas besser“, stellt sie mit einem kleinen Fragezeichen versehen fest. Ich erwidere dankbar ihren Blick.

„Gut. Machen wir weiter?“

Ich nicke zustimmend und stelle meine Tasse auf den kleinen Tisch an meiner Seite, den Anke mir vor ein paar Jahren in einem Laden mit indonesischen Möbeln gezeigt hatte. Mein Geschenk zu ihrem 60. Geburtstag.

„Du hast von Schuld gesprochen, Leo. Wenn es nicht die Absicht war, Grenzen zu überschreiten, was ist es dann, das dir Schuldgefühle macht?“

„Ich weiß, dass ich schon viel zu lange die absolut notwendige Entscheidung, das Coaching zu beenden, hinauszögere. Damit habe ich mich in höchstem Maß unprofessionell verhalten. Auch das war mir von Anfang an bewusst. Ich habe gemerkt, dass ich der Klientin nicht helfen konnte und trotzdem habe ich weiter gemacht. Mit meinem Verhalten verstoße ich gegen so ziemlich jede Regel unserer Profession.“

Zum ersten Mal seit Stunden habe ich das Gefühl, tief durchatmen zu können.

„Das war unprofessionell, kein Zweifel. Und jetzt, lieber Leo, hast du den Weg hierher gefunden und dich diesem Gespräch und damit dir selbst gestellt. Vergiss’ das nicht, wenn du in Versuchung gerätst, dich niederzumachen.“

Noch einmal wandert mein Blick zu der Ecke, wo der Buddha schon darauf zu warten scheint, dass ich auch noch die anderen Seiten der Wahrheit preisgebe.

„Wenn ich gesagt habe, ich wollte die Klientin dabei unterstützen, ihr Problem zu bearbeiten, habe ich nur die Hälfte der Geschichte erzählt.“

Die Gelassenheit und Wärme, die meine wunderbare Freundin ausstrahlt, verleihen mir Mut, fortzufahren.

„Am Ende der Sitzung, von der ich dir berichtet habe, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Vielmehr waren es zwei Szenen, kurze Momente nur, die mich umgehauen haben. Wir waren in meinem Beratungsraum im Begriff uns zu verabschieden. Meine Klientin machte eine Bemerkung über meinen Namen. Er sei ungewöhnlich und man vergesse ihn wohl nie wieder, nachdem man ihn einmal gehört habe.“

„Was hat dich irritiert?“

„Ich erinnerte mich daran, dass sie zu Anfang gesagt hat, sie kenne mich. Nun hatte ich wieder das Gefühl, dass sie mir eine versteckte Botschaft schickte, als gäbe es etwas, das uns verbindet, als ob wir ein Geheimnis teilten. Vielleicht wollte sie mich zu einer Frage provozieren. Ich ließ mich nicht darauf ein. Und ich habe nach wie vor keine Ahnung, was sich hinter diesem Verhalten verbirgt.“

„Du hast von zwei Szenen gesprochen. Was war noch?“

’Sag’s ihr, Buddha.’ Die Statue in der Ecke nimmt mir die Arbeit nicht ab.

„Während ich noch über die seltsame Bemerkung wegen meines Namens grübelte, fiel meiner Klientin die Tasche aus der Hand. Sie war nicht verschlossen und der Inhalt landete auf dem Fußboden. Die üblichen Utensilien einer Damenhandtasche.“

Ich hole tief Luft. Mein Mund ist trocken.

„Und noch etwas schlidderte über den Boden, direkt vor meine Füße. Ein Foto von mir. Das Foto, das auf meiner Internetseite abgebildet ist. Ein Ausdruck davon. Etwas kleiner als eine Ansichtskarte.“

Ich versuche, Ankes nonverbale Antwort zu deuten. Sie neigt den Oberkörper eine Nuance nach vorn, ohne die Lotushaltung aufzulösen. Presst eine Sekunde lang ihre Lippen aufeinander. Fährt durch die Stoppelhaare.

„Sprich weiter.“

„Nichts weiter. Ich meine, ich wollte ihr helfen, die Sachen aufzuheben.“ ’Bitte lassen Sie das’, sagte sie.

„Als sie alles eingesammelt und in ihre Tasche gestopft hatte, zauberte sie ein Lächeln auf ihr Gesicht und ließ sich von mir zum Ausgang begleiten. Sie sprach kein Wort.“

„Und du?“

„Ich auch nicht. Ja, ich hätte sie sofort zur Rede stellen müssen. Ich war völlig überfordert in diesem Augenblick.“

„Ja, ich verstehe“, Anke nickte, „und was hast du später unternommen?“

Warum konnte ich nicht einfach in den Tiefen des Sessels verschwinden?

„Leo, wohin bist du verschwunden? Komm, bleib’ hier. Das ist wichtig. Für dich.“ Meine Freundin sieht angespannt aus.

„Ich habe nichts unternommen. Das heißt, ich habe darauf gewartet, dass sie anruft. Redete mir ein, dass sie mir eine plausible und natürlich harmlose Erklärung liefern würde für die Geschichte mit dem Foto. Tatsächlich meldete sie sich schon zwei oder drei Tage später wieder. Um mir mitzuteilen, dass sie sich entschlossen habe, in der nächsten Sitzung endlich auszupacken, diesen Begriff verwendete sie. Und fügte hinzu, dass sie das Coaching fortsetzen werde. Über die Ereignisse unserer letzten Begegnung verlor sie kein Wort.“

Während ich mir beim Reden zuhöre, kann ich spüren, dass eine enorme Anspannung von mir abfällt. Meine Stimme klingt zunehmend klarer und entschlossener, mein Rücken, der unter Stress oftmals kollabiert, strafft sich.

„Ich bin auf dem besten Weg gewesen, mir das Heft aus der Hand nehmen zu lassen, nicht nur was meine Rolle als Coach betrifft.“

„Wie hast du reagiert bei eurem Telefongespräch?“

„Ich habe mich für die Rückmeldung bedankt, der Klientin mitgeteilt, dass wir die Frage der Fortführung oder Beendigung unseres Vertrages in einem Gespräch klären werden und ihr ein Datum genannt. Der Termin ist morgen um 11 Uhr.“

„Was wirst du morgen tun, Leo?“

„Das was ich längst hätte tun sollen. Ich werde der Klientin meine Entscheidung, die Zusammenarbeit zu beenden mitteilen und ich werde begründen, was mich zu diesem Entschluss bewogen hat. Darüber hinaus werde ich ihr anbieten, sie dabei zu unterstützen, eine passende Alternative, sei es ein anderer erfahrener Coach oder ein Psychotherapeut, zu finden. Sollte sie diese Möglichkeit nicht wahrnehmen, werde ich keinen Zweifel daran lassen, dass der Coachingprozess mit diesem Tag beendet ist.“

„Leo, wie geht es dir jetzt?“

„Ich denke, es wird eine schwierige Begegnung werden. Aber ich weiß, was ich zu tun habe und dass meine Entscheidung richtig ist. Das fühlt sich gut an. Was bleibt ist das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben. Dass es so gekommen ist, war eindeutig meine Schuld. Es wird mich noch lange beschäftigen.“

Ich wage ein Lächeln. „Erteilst du mir die Absolution?“

„Leo, das ist albern. Ich möchte dir etwas sagen. Auch wenn Ratschläge bei euch Systemikern verboten sind. Es ist wichtig, dass du morgen deine Rolle als Coach nicht aus den Augen verlierst. Und dass du deiner Klientin vermitteln kannst, sie steht nicht alleine da, auch wenn du konsequent bei deiner Haltung bleibst.“

„Ich danke dir, meine Liebe. Fühle dich umarmt. Du hast mir sehr geholfen.“

„Du würdest jetzt sagen“, lachte sie vergnügt, „ich habe doch nichts gemacht, du hast dir selbst geholfen.“

Die winzige Person kommt auf mich zu. „Im Übrigen ist unser Gespräch beendet und ich habe nichts dagegen, dass du mich umarmst.“

Meine alte Freundin quietscht vor Vergnügen wie ein Kind, als ich sie hochhebe und ihr einen Kuss auf die Stirn drücke.

„Kann ich sonst noch was für dich tun? Ich wüsste da…“

„Leo, wenn ich deine zuweilen fragwürdigen Scherze nicht kennen würde, könnte ich jetzt wütend werden. Du solltest jetzt gehen. Damit du morgen ausgeschlafen bist.“

Sie schiebt mich in Richtung Ausgang.

„Lass’ uns doch essen gehen irgendwann in dieser Woche.“

„Gerne, nur morgen wird’s eng. Außerdem steht meine Mutter auf dem Programm.“

„Na, dann erst recht.“ Anke lacht. Sie kennt jede Menge Anekdoten über meine Mutter.

Ich warte auf den Fahrstuhl. Anke lehnt im Türrahmen ihrer Wohnung.

„Meine Mutter ist ein Kinderspiel im Vergleich mit Frau Bastian.“ Der Aufzug kommt. Die Tür öffnet sich.

„Frau Bastian?“

Mensch, Leo. Wo hast du deinen Verstand gelassen? Ich erwähne niemals die Namen meiner Klienten. Zu spät. Egal, Anke kann ich vertrauen.

„Ihretwegen war ich hier. Vergiss’ es einfach.“

Ich schaue zurück. Sehe nur noch, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt.

Der Coach

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