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1. KAPITEL

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Die Hochzeit auf der Burgruine Reichenstein im Mühlviertel war in vollem Gange. Marion Balduin tanzte ausgelassen mit Albert Freiherr, ihrem Zubräutigam. Hin und wieder erhaschte sie in dem unbeschwerten Treiben die Blicke ihres frisch angetrauten Ehemannes. Sie vermochte nicht zu sagen, ob er eifersüchtig war, bereits heute am Tag ihrer Hochzeit. Aber eigentlich interessierte sie es nicht. Sie wollte Spaß haben und ausgelassen feiern, wenn sie schon einen Mann heiraten musste, den sie aus freien Stücken niemals genommen hätte. Fabian Hallsteiner.

Er war nicht Marions Typ. Sie bevorzugte ältere, reifere Männer, die wussten, was sie wollten. Fabian hingegen war lieb und nett, ein Träumer. Und er spähte zu ihr herüber. Beobachtete sie bei allem, was sie tat, und strich sich die blonden Haare zurück, die seitlich kurz geschnitten und oben etwas länger waren. Stumm forderte er sie heraus.

Sie reckte das Kinn, zog Alberts Kopf zu sich herab und küsste ihn. Mit Zunge. Leidenschaftlich. Er machte mit, schien den Kuss zu genießen, erwiderte ihn und drückte sie an sich, bis sie seine Erregung spürte. Dann löste sie sich von ihm und drehte sich ausgelassen im Kreis. Sie wusste, dass die Aufmerksamkeit aller Hochzeitsgäste ihr galt, lachte und verlangte nach einem Glas Wein. Jemand reichte es ihr und Albert führte sie von der Tanzfläche.

Doch sie wollte nicht aufhören. Sie wollte tanzen!

Sie ließ Albert stehen und eilte zurück auf die Fläche im Burghof, wo sich die Menschen ausgelassen im Rhythmus der Musik bewegten. Jeder von ihnen war froh, endlich wieder gemeinsam feiern zu können, denn während der Hochblüte der Corona-Pandemie war eine so große Hochzeit nicht möglich gewesen.

Gleich neben dem Eingang in die Burgkapelle hatte sich auf einer Bühne die Band positioniert. Canticum Lupi war eine Mittelalterrockband, passend zum Ambiente der Burg, von deren Gemäuer nur noch Teile erhalten waren. Dennoch konnte man sich gut in das Leben zur damaligen Zeit hineinversetzen – oder zumindest in eine moderne Vorstellung davon. Bestimmt hatten einst die tapferen Ritter mit ihren Frauen desgleichen hier gefeiert, wenn sie einen blutigen Sieg errungen hatten. Hatten Tische und Bänke aufgestellt und diese mit Speis und Trank beladen, bis sie zum Bersten voll gewesen waren. Dies war zumindest die romantische Idee davon, und so ähnlich fand es heute auch tatsächlich statt. Geld spielte keine Rolle, Marions Schwiegervater hatte keine Kosten gescheut, die Feier zu einem rauschenden Fest werden zu lassen, denn so mancher der Anwesenden hatte mit dem heutigen Tag wie die Ritter zur damaligen Zeit erreicht, was er wollte.

Die Klänge des Dudelsackes und des Schlagzeuges peitschten Marion hoch und ließen sie dieses Gefühl eines Sieges spüren. Jemand nahm ihre Hand, drehte sie im Kreis, fing sie auf, lachte. Es war ein junger Mann mit strahlenden blauen Augen.

Der Dudelsackspieler von Canticum Lupi vollführte auf der Bühne eine Glanzleistung in dieser sternenklaren Mainacht, unterstützt von der Stimme des Sängers, der ein Lied über Krieg und Frieden zum Besten gab.

Marion verschüttete ihren Wein und sah in die blauen Augen, die sie zu vergöttern schienen. Nur für diese eine Nacht wollte sie seine Königin sein. Nur dieses eine Mal war er ihr blauäugiger Ritter. Danach würde sie sich in die Rolle der Ehefrau fügen und verrotten, wie all die anderen Ehefrauen auch, wenn man den Geschichten derer, die längst verheiratet waren, Glauben schenken durfte. Den Geschichten ihrer Tanten und Cousinen. Der Geschichte ihrer Mutter.

Doch Marion hatte Pläne, Ziele, Visionen, die sie nicht zu begraben gedachte. Sie würde durch die Ehe wachsen, hoffte sie, und sich all das nehmen, was ihr durch den Kopf flatterte wie Schmetterlinge, weil es bislang unausgegorene Ideen waren. Diese Schmetterlinge würden sich zur gegebenen Zeit auf einer Blüte niederlassen. So lange musste sie warten. Dann aber würde sie ihre frisch erhaltene Fessel wieder ablegen.

Der Blauäugige packte Marion an der Taille und zog sie an sich. Sie warf das Glas in die tanzende Menge und konzentrierte sich auf den Unbekannten, auf seine Hände, auf sein Lächeln, und fragte sich, wer ihn eingeladen hatte? Zu ihrer Verwandtschaft gehörte er nicht, auch nicht zu der entferntesten, das wusste sie. Diese Augen und dieser Mund wären ihr bestimmt im Gedächtnis geblieben, hätte sie beides schon mal gesehen.

Vielleicht war er Fabians Cousin? In diesem Fall würde sie den Fremden jetzt öfter sehen, dachte sie und lachte wieder.

Die Musik wurde langsamer. Marion passte ihre Bewegungen dem Takt an. In der Menge suchte sie nach ihrem Ehemann in der Annahme, er würde sie eifersüchtig beobachten. Doch wider Erwarten tanzte er mit der Zubraut, Leona Sipacher, ebenso eng umschlugen wie sie es selbst mit ihrem blauäugigen Ritter tat.

Marion traute ihren Augen nicht!

Die Zubraut, die ihr zur Seite stehen sollte, ihr behilflich sein musste bei den vielen Dingen, die bei einer Hochzeit anfielen, machte sich an ihren Ehemann ran! Unerwartet spürte Marion Eifersucht ihre Knochen emporkriechen. Was widersinnig war, da sie Fabian Hallsteiner gar nicht liebte. Sie verabscheute ihn in diesem Augenblick sogar, kniff die Augen zusammen und streckte den Rücken durch. Dann versprühte sie ihr Gift.

»Ich finde, wir sollten uns ein kuscheliges Plätzchen suchen, wo wir ungestört sind«, flötete sie ihren blauäugigen Helden an.

»Wenn du möchtest.«

»Heißt das, du willst nicht?«, fragte sie keck ob der zurückhaltenden Antwort.

»Es ist deine Hochzeit, nicht meine«, erwiderte der Unbekannte.

»Wie heißt du? Nein! Sag es mir nicht! Ich möchte einmal in meinem Leben mit jemandem ficken, dessen Namen ich nicht kenne.« Marion zwinkerte ihm zu und entwand sich seinen Armen. Anschließend verließ sie die Tanzfläche, ihr Ritter folgte ihr.

Bei ihrem Gang über den Burghof bemerkte Marion, dass sie betrunken war. Nicht beschwipst und auch nicht angeheitert, sondern richtig betrunken. In diesem Zustand würde es nicht leicht sein, die Stufen in die Hochburg zu erklimmen. Ihr Schwiegervater hatte die komplette Burg für diesen Abend gemietet, demnach standen ihnen die Räumlichkeiten ganz oben ebenfalls zur Verfügung. Doch schon nach den ersten Stufen musste sich Marion setzen. Sie brauchte eine Pause.

»Was ist mit dir?«, fragte derjenige, den sie eben noch hatte abschleppen wollen.

»Mir ist schlecht«, antwortete Marion, den Kopf in beide Hände gestützt.

»Also wird es nichts mit …«

»Nein! Hau ab!«, schrie sie ihn an.

»Schon gut, beruhige dich …«

»Ich will mich nicht beruhigen, hau einfach ab!«

In diesem Augenblick kam ein Pärchen die Treppe herab und bemerkte Marion und ihren Ritter am Fuße derselben. Es war Marions Cousine Luise mit ihrem Ehemann Floyd. Marion hatte sich schon immer über den seltsamen Namen gewundert.

»Geht es dir gut?«, fragte Luise. Zumindest nahm Marion an, dass es ihre Cousine war. Sie sah das Gesicht der Frau nur verschwommen und wünschte sich, dass die Stufen endlich aufhörten sich zu drehen.

»Alles bestens«, stieß Marion aus.

Luise musterte den Mann an Marions Seite, der unschuldig mit den Schultern zuckte und sich lässig an die Mauer lehnte.

»Ihr ist schlecht«, sagte er und deutete auf Marion, als wüssten die Anwesenden nicht, wen er meinte.

»Wenn du Hilfe brauchst …«

»Wir schaffen das«, unterbrach er sie. »Sie braucht nur ein paar Minuten Auszeit. Danach ist sie wieder ganz die Alte.«

Luise und Floyd zogen von dannen.

»Was jetzt? Willst du hier sitzen bleiben?«, fragte er Marion, als niemand mehr in Hörweite war.

»Nein«, antwortete Marion. »Bring mich zurück zur Feier.« Sie versuchte sich aufzurichten, was kläglich misslang, und rutsche lediglich auf ihrem Hinterteil eine Stufe nach unten.

»Los, ich zieh dich hoch«, sagte er und fasste ihr unter den Arm. Mit Schwung half er Marion auf die Beine. Da sie nicht wusste, wie lange das funktionieren würde, weil ihr immer noch schwindelig war, hakte sie sich bei ihm unter.

»Warte!«, sagte ihr Ritter und hielt ihr seinen Finger hin.

»Was soll das?«, wollte sie von ihm wissen und starrte den Finger an, als wäre er eine obszöne Geste. Als würde der Blauäugige erwarten, dass sie ihn lutschte.

»Spuck darauf! Deine Wimperntusche ist verschmiert.«

Marion lachte. Der Mann war fürsorglich, genau wie Fabian. Doch während sie diese Eigenschaft bei ihrem frisch angetrauten Ehemann verabscheute, gefiel sie ihr bei ihrem Gegenüber. Sie leckte seinen Finger ab, und er wischte ihr damit die verschmierte Mascara weg. Wieder vorzeigbar schlenderten sie Arm in Arm zurück, wohl wissend, dass sie von den Gästen neugierig beobachtet wurden.

An der eigens für die Hochzeit aufgestellten Bar genehmigte sich Marion ein Glas Wasser, um klarer im Kopf zu werden. Sie bat den Barkeeper, ihr das Wasser in ein Weinglas zu füllen, damit niemand sie mit dem alkoholfreien Getränk ertappte. Schließlich wollte sie den Eindruck machen, dass sie Spaß hatte, und wie bei einer Hochzeitsfeier üblich, musste dafür reichlich Alkohol fließen. Nüchtern würde sie den heutigen Abend und die folgende Nacht auch nicht ertragen. Aber noch war die Hochzeitsfeier ja nicht vorüber. Das traditionelle Brautstehlen fehlte, und Marion wünschte sich, dass ihr blauäugiger Ritter sie ganz weit weg von hier brächte, an einen Ort, von wo sie nie mehr zu dieser Feier zurückkehren würde und ein freies Leben führen könnte, ganz so, wie sie es sich vorstellte.

»Wie geht es dir?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Ihr Ritter war es nicht, der war auf seltsame Weise verschwunden. Es war Albert Freiherr, der Zubräutigam.

»Warum fragen mich alle, wie es mir geht?«, fuhr Marion ihn an.

»Weil es deine Hochzeit ist und du glücklich sein solltest«, antwortete Albert und nippte an seinem Rotwein.

Marion erwiderte nichts, sondern sah hinüber zu dem Tisch, an dem ihre Eltern saßen. Sie unterhielten sich angeregt mit Leuten, die Marion nicht kannte. Wahrscheinlich Geschäftspartner ihres Vaters oder Verwandte von Fabian. Vielleicht auch irgendjemand, der für sie immer unbekannt bleiben würde, weil diese Menschen nur wichtig für andere waren.

»Lass uns tanzen«, sagte sie an Albert gewandt.

»Jederzeit gerne, das weißt du.«

»Ja, das weiß ich.«

Albert zog Marion hinter sich her auf die Tanzfläche. Die Band stimmte im selben Augenblick eine Ballade an und der Sänger zwinkerte Marion zu. Sie löste sich von Albert, marschierte in Richtung Bühne und neckte den Frontman der Band mit lockendem Zeigefinger, er möge sich zu ihr herunterbeugen. Der Sänger kam der Aufforderung nach, und anstatt eine weitere Zeile Text zu singen, ließ er sich von der Braut küssen. Ein Raunen ging durch die Gäste, und Marion fing den erzürnten Blick ihres Vaters auf. Volltreffer!, dachte sie und ging beschwingt zu Albert zurück.

»Findest du das klug?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Marion ehrlich. »Aber was bringt es mir, klug zu sein?«

»Du würdest nicht den Unmut deiner Alten auf dich ziehen, auch nicht den deiner Schwiegereltern«, resümierte Albert.

Marion sah, während sie sich von Albert über die Tanzfläche führen ließ, zu Viktor und Stefanie Hallsteiner hinüber, ihren Schwiegereltern. Anhand deren Mimik erkannte sie, dass ihnen ihre kleine Einlage nicht gefallen hatte. Sie würde sich nach der Hochzeit demnach nicht nur von ihren Eltern und ihrem Ehemann etwas anhören müssen, sondern auch von ihrer angeheirateten Familie. Sie seufzte, hatte jedoch keine Lust, zu dem bösen Spiel, das um sie herum stattfand, eine fröhliche Miene aufzusetzen.

»Es ist mir egal, was sie über mich denken«, sagte sie schließlich.

»Ist es dir nicht«, konterte Albert.

»Ist es wirklich. Schließlich ist das hier meine Abschiedsparty.«

»Abschiedsparty? Du heiratest doch bloß.«

»Ja, aber einen Mann, den ich mir nicht ausgesucht hab.«

»Was hast du vor?« Albert hielt Marion eine Armlänge von sich gestreckt und musterte sie. Dann zog er sie wieder heran und drehte sich mit ihr, wie es der Tanz verlangte.

»Keine Ahnung. Abhauen?« Marion setzte ein Lächeln auf, doch es war nur eine Maske, die sie trug, damit niemand ihre wahren Gefühle erkannte.

»Mach dich nicht lächerlich. Du kannst immer zu mir kommen, das weißt du.«

»Ja, das weiß ich.«

Die Musik verstummte und die Gäste applaudierten. Danach kündigte der Sänger eine 20-minütige Pause an. Sofort strömten alle Richtung Bar.

»Darf ich dir einen Drink spendieren?«, fragte der Frontman der Band, der plötzlich hinter Marion und Albert auftauchte. Seine rot gefärbten Haare hatte er auf einer Seite wegrasiert, dafür trug er sie auf der anderen umso länger. Die Klamotten, die er anhatte, waren aus Leinen gefertigt und der breite Gürtel aus weichem Rindsleder. Das Outfit könnte gut und gerne aus jener Zeit stammen, die er und seine Band ein Stück weit aufleben lassen wollten. Und das taten sie mit Erfolg, das musste Marion zugeben.

»Du weißt schon, dass die Getränke für die Braut gratis sind?«, erwiderte sie lachend.

»Klar weiß ich das. Das ist auch nur so eine Anmache, die du sicher kennst«, konterte der Sänger.

»Natürlich kenne ich die, genau wie dich, Goliat, aber deine Anmache ist halt nicht sonderlich originell«, erwiderte Marion. Die Melancholie von vorhin war wie weggeblasen. Sie wollte nur noch im Hier und Jetzt existieren. »Von einem wie dir hätte ich etwas anderes erwartet.«

»Ja? Was denn?«

»Keine Ahnung.« Marion zuckte mit den Schultern.

»Ich könnte dir ein Lied trällern …«

»Oh ja, genau darauf hab ich gewartet.«

Goliat stimmte einen schmalzigen Liebessong an.

»Sei still! Die anderen schauen schon«, lachte Marion.

Goliat verstummte, ebenso in bester Laune. Es war ihm anzusehen, dass er Freude daran hatte, im Mittelpunkt zu stehen. Das war er als Frontman der Band gewöhnt. »Was willst du trinken?«

»Einen Gin Tonic, bitte.«

Goliat bestellte zwei dieser Mix-Getränke und reichte ein Glas Marion. »Was war das denn vorhin?«, fragte er unschuldig und stieß mit seinem Drink gegen ihren.

»Was meinst du?« Marion stellte sich unwissend.

»Der Kuss vor all den Leuten«, erinnerte Goliat sie daran.

Marion schlürfte ihren Gin Tonic. Nach einer Weile sagte sie: »Mir war einfach danach.«

»Tust du immer, worauf du gerade Lust hast?«

»Meistens.«

»Das ist gut.« Goliat grinste.

Das Gedränge an der Bar wurde heftiger und jemand rempelte Marion von hinten an.

»Entschuldige«, sagte der blauäugige Ritter, als Marion sich umwandte. Er schob sich durch die Umstehenden an die Bar, um ebenfalls Getränke zu ordern. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie nicht ablesen, ob er sauer auf sie war, weil aus dem Stelldichein nichts geworden war, oder ob er nur ihre Aufmerksamkeit erregen wollte. Sie machte ihm Platz und drückte sich an Goliat, der nicht zurückwich. Es kam ihr sogar vor, als würde seine Hand die Konturen ihrer Beine unter dem Brautkleid nachzeichnen. Ein schlimmer Finger, dachte sie und stellte sich vor, wie selbiger in sie eindrang und sich bewegte.

»Alles okay?«, fragte Goliat, mit dem Glas in der Hand und einem Grinsen im Gesicht, das Marion signalisierte, dass er genau wusste, was sie im Augenblick fühlte.

»Küss mich!«, forderte sie ihn auf.

»Ich werde dich bestimmt nicht ein weiteres Mal vor all den Leuten küssen. Die würden mich lynchen, und darauf hab ich echt keinen Bock.«

»Du bist ein Feigling«, provozierte Marion ihn.

»In fünf Minuten oben in der Hochburg«, raunte er ihr ins Ohr, leerte seinen Gin Tonic und verschwand in der Menge.

Marion stand an der Bar inmitten von 400 Hochzeitsgästen und mit dem Rücken zu ihrem Ritter, dennoch fühlte sie sich allein. Und unsicher. Ob sie Goliat folgen sollte?

»Marion!« Die Stimme ihres Bruders riss sie aus ihren Überlegungen. Im Schlepptau hatte er ihren Ehemann. Sie genehmigte sich einen Schluck, um sich für das Bevorstehende zu wappnen. Danach ging sie auf David und Fabian zu. Die zwei könnten Brüder sein, schoss es ihr durch den Kopf, sie glichen einander im Aussehen wie Zwillinge. Beide hatten blonde Haare, die oben länger und seitlich kurz geschnitten waren, blaugraue Augen und ein markantes Kinn. Marions Haare waren im Gegensatz dazu braun und lockig und reichten ihr bis über die Schultern – heute trug sie sie jedoch mit weißen Perlen verziert hochgesteckt –, und ihre Augen funkelten in einem angriffslustigen Grün. Kaum zu glauben, dass David und sie Geschwister waren.

»Mensch, Marion!«, wiederholte David ihren Namen, und Marion machte sich auf Vorwürfe gefasst.

»Was willst du?«, herrschte sie ihn an.

»Ich bringe dir deinen Ehemann. Du solltest auch mal mit ihm tanzen«, brachte David das Anliegen vor, das sie beide hertrieb, als hätte es Fabian die Sprache verschlagen. Als könnte er nicht für sich selbst eintreten.

»Hörst du vielleicht Musik, zu der wir tanzen könnten?«, maulte Marion.

»Ich finde, ihr solltet euch wie Mann und Frau verhalten, jetzt, wo ihr verheiratet seid«, sagte David Marions Einwand ignorierend. »Die Liebe wird schon noch kommen.«

»Wann?«, keifte Marion ihren Bruder an.

»Irgendwann«, sagte Fabian ruhig. Es waren die ersten Worte, die er seit seinem Ehegelübde an sie richtete. Sie spürte seine Traurigkeit über die Vermählung. Auch wenn sie sonst nichts gemeinsam hatten, diese Traurigkeit einte sie.

»Willst du etwas trinken?«, fragte sie ihn, weil David und Fabian nun schwiegen und die Menschen rundum zu tuscheln begannen. Dabei brachte sie sogar ein Lächeln zustande.

»Gerne. Was trinkst du?« Fabian deutete auf das Glas in ihrer Hand, in dem nur mehr Eiswürfel vor sich hin schmolzen.

»Das war ein Gin Tonic. Willst du einen?«

Fabian nickte.

»Zwei Gin Tonic bitte!«, rief sie dem Barkeeper zu, froh, etwas zu tun zu haben und nicht höfliche Konversation mit ihrem Ehemann treiben zu müssen. Umgehend standen die bestellten Drinks auf dem Tresen. Das war der Vorteil, wenn man die Braut war: Man musste nicht auf die Getränke warten, sondern wurde vorrangig bedient. Einen Drink reichte sie an Fabian weiter.

»Danke«, sagte er.

Klirrend stießen die Gläser aneinander.

»Glaubst du wirklich, dass die Liebe eines Tages kommen wird?«, fragte Marion ihn.

»Wenn es unsere Eltern zulassen, kann das durchaus der Fall sein.«

»Das bezweifle ich.«

»Weshalb?«

»Weil sich mein Vater überall einmischt.«

»Genau wie meiner.«

Wieder klirrten die Gläser.

Als sie getrunken hatten, sagte Marion: »Ich dachte immer, dass nur dort, wo es zum Überleben der Familien dient, die Mädchen zwangsverheiratet werden.«

»Dein Vater bekommt einen Haufen Geld von meinem, damit sein Unternehmen weiterläuft. Das dient doch zum Überleben deiner Familie«, antwortete Fabian.

»Und was hat deine Familie davon?«

»Das frag ich mich auch schon die ganze Zeit.«

»Was fragst du dich die ganze Zeit?«, ertönte es hinter ihnen. Viktor Hallsteiner war unbemerkt an sie herangetreten und hatte Fabians letzte Worte gehört.

»Nichts, Vater«, antwortete Fabian. Es war unschwer zu erkennen, dass zwischen ihm und seinem Erzeuger nicht das beste Verhältnis bestand. Aber ein Sohn gehorchte, wenn er nicht wollte, dass ihm das Erbe entzogen wurde. Dass ihm bis auf den Pflichtteil alles genommen wurde, was ihm von Geburt an zustand.

»Ich würde es begrüßen, wenn ihr mehr Freude ausstrahlen würdet. Es ist schließlich eure Hochzeit«, sagte Viktor Hallsteiner.

»Jawohl, Vater«, antwortete Fabian gehorsam. »Komm, Marion, lass uns tanzen.« Er hielt seiner Angetrauten den Arm hin und die hakte sich unter, nicht ohne ihrem Schwiegervater ein süffisantes Lächeln zu schenken. Es war ihr gar nicht aufgefallen, dass die Band wieder zu spielen begonnen hatte, demnach hatte sie ihr heimliches Rendezvous mit dem Sänger Goliat verpasst. Das würde sie nachholen, die Nacht war ja noch jung.

Fabian führte sie elegant über die Tanzfläche, war charmant und ganz der wohlerzogene Spross einer einstmals adeligen Familie. Wäre die Monarchie nicht schon vor über 100 Jahren abgeschafft worden, wäre Fabian ein »von Hallsteiner«. Zugegeben schmeichelte dieser Umstand Marion, und sie fühlte sich ein wenig wie eine Prinzessin, in diesem Fall – und vor allem dank des Ambientes – wie ein Burgfräulein. Als der Tanz zu Ende war, klatschte Marions Schwiegervater ab.

»Darf ich bitten?«, fragte er und wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Er entzog seinem Sohn dessen Ehefrau und deutete dem Bandleader, er möge ein langsameres Lied anstimmen. Gleichzeitig orderte er mehrere Krüge Bier für die Band. Zum Takt einer deutschsprachigen Mittelalter-Ballade zog er Marion an sich und geleitete sie über die Tanzfläche.

»Du siehst wunderschön aus«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Danke«, antwortete Marion brav, wenngleich es sie störte, dass Viktor so tat, als gehörte sie ihm. Das war schon immer sein Problem gewesen.

»Hast du mein Geschenk bekommen?«, fragte er leise.

»Hab ich. Aber ich dachte, es ist ein wenig unpassend, wenn ich es heute trage, wo ich doch deinen Sohn heirate.«

»Es wäre niemandem aufgefallen, und ich hätte gewusst, dass du es zu schätzen weißt. Immerhin hat es ein Vermögen gekostet.« Viktor Hallsteiner klang eingeschnappt.

»Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt jemals tragen werde«, ließ Marion ihn abblitzen. Es war ein Stich mitten ins Herz, mit einer sehr feinen Klinge, aber der Tadel ihres Schwiegervaters weckte in ihr die Rebellin.

»Wie meinst du das?«, fragte er verwundert.

»So wie ich es sagte«, antwortete Marion erleichtert, dass das Lied zu Ende war. Sie löste sich von ihrem Schwiegervater und verließ das Tanzparkett. Auf ihrem Weg sah sie Albert, der sie anstarrte. Und ihre Zubraut Leona Sipacher, die sich an Fabian ranmachte. Leona hatte ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie es unfair fand, dass Marion den begehrtesten Junggesellen des Landes ehelichen durfte, obwohl sie ihn gar nicht liebte. Marion hatte nicht gewusst, was sie hätte dagegenhalten können. Es war in der Tat ungerecht. Mehr als ungerecht. Sie wollte lieber frei sein!

Aufgebracht achtete sie nicht auf den Boden und stolperte. Der Ritter mit den blauen Augen fing sie auf.

»Du hast wohl zu viel getrunken«, sagte er.

»Noch nicht genug, um das hier auszuhalten«, murmelte Marion und zupfte ihr Kleid zurecht.

»Wie bitte?«

»Ach nichts. Bringst du mir noch einen Gin Tonic?«

»Wenn du möchtest.«

»Ja, ich will.«

»Ich glaube, diese Worte hast du heute schon mal gesagt, aber nicht zu mir«, erwiderte der blauäugige Mann.

»Jetzt sag ich sie aber zu dir. Ich will dich, ich will ihn, ihn und ihn. Sie will ich nicht und ihn auch nicht.« Marion deutete dabei auf unterschiedliche Gäste und wollte gar nicht mehr aufhören, auf sie zu zeigen.

»Ist gut. Ich bring dir deinen Gin Tonic. Lauf nicht weg.« Marions Ritter machte sich auf den Weg zur Bar.

»Wo soll ich denn hin?«, murmelte Marion und nahm den Sänger der Band ins Visier. Goliat sah süß aus, wie er dort oben auf der Bühne stand und eine Hymne nach der anderen schmetterte. Bald würde sie den Hochzeitsbräuchen im Mühlviertel nach »gestohlen« werden, das hieß, man brachte sie an einen anderen Ort und ihr Ehemann musste sie auslösen mit vielen Gesängen, Spielen und noch mehr Schnaps. Sie war gespannt, wer ihr Entführer sein würde. Wer sich ihr für dieses Spiel anböte. Goliat würde es nicht sein, der wurde auf der Bühne gebraucht, um die restlichen Gäste zu unterhalten.

Was war mit David, ihrem Bruder?

Oder Albert?

Ihr blauäugiger Ritter?

Bis es so weit war, wollte sie noch Spaß haben. Sie betrat erneut die Tanzfläche und inhalierte die Rhythmen der mittelalterlichen Klänge. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Musik treiben. Drehte sich im Kreis und streckte die Arme aus, als könnte sie fliegen. Sie fühlte sich wie ein Vogel. Frei und unbeschwert. Ja, in diesem Augenblick dachte sie tatsächlich, sie könnte davonfliegen in ein anderes Leben.

Jemand packte sie am Arm. Erschrocken riss sie die Augen auf. Es war ihr Bruder, der sie mit fröhlicher Miene von der Tanzfläche führte.

»David, was ist los?«

»Es ist so weit«, antwortete er geheimnisvoll und zog sie hinter sich her die Treppe der Burg hinab. Ein ganzer Schwung angetrunkener Hochzeitsgäste folgte ihnen.

Marion lachte, ohne zu ahnen, dass einer von ihnen diese Hochzeit nicht lebend verlassen würde.

Mühlviertler Kreuz

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