Читать книгу Mühlviertler Kreuz - Eva Reichl - Страница 9
4. KAPITEL
Оглавление»Wow!«, entfuhr es Grünbrecht, als sie in Gutau vor einer imposanten Villa aus Sterns Audi A6 stiegen. Der Anblick des Gebäudes entschädigte die Gruppeninspektorin für die langsame Fahrt hierher.
Für die zugegeben kurvenreiche Strecke – aber dennoch lediglich elf Kilometer – hatten sie beinahe 25 Minuten gebraucht, und das nur, weil Stern hinterm Steuer gesessen hatte. Grünbrecht hätte die Entfernung in der Hälfte der Zeit zurückgelegt und dabei noch eine Pause einlegen können. Nun standen sie jedoch endlich vor dem Sitz der Familie Hallsteiner und bestaunten die alte Villa, die mit modernen Glas- und Metallelementen auf sich aufmerksam machte.
»Ja, wow«, wiederholte Stern Grünbrechts begeisterten Ausruf, allerdings mit weitaus weniger Euphorie. Menschen, die in solchen Häusern wohnten, kannte er nur zu gut. Seiner Erfahrung nach glaubten sie, sie könnten mit der Exekutive machen, was sie wollten, bloß weil sie genügend Geld besaßen. Und die Polizisten hätten ihnen zu dienen, als wären sie ihre Leibeigenen, weil die ach so wichtigen Leute ebenso wichtige Kontakte zu Wirtschaft und Politik pflegten. In Stern breitete sich Unbehagen aus.
»Was wissen wir über die Hallsteiners?«, fragte er, während er den Wagen versperrte. Angesichts des Fuhrparks, der vor der Villa abgestellt war, würde sich ein Dieb jedoch niemals für seinen schon ein paar Jahre alten Audi interessieren. Dennoch drückte er ein zweites Mal auf die Fernbedienung, um den Wagen ganz sicher abzuschließen.
»Den Hallsteiners gehören riesige Waldflächen im Mühlviertel, angefangen bei Linz bis hinauf zur tschechischen Grenze. Der Besitz des alten Hallsteiner war ursprünglich allerdings noch größer gewesen, aber er hatte in seinem Testament veranlasst, dass sein Vermögen auf seine zwei Söhne aufgeteilt wurde, um Streitigkeiten zu vermeiden. Der andere Bruder, er heißt Sebastian, lebt in Tschechien und hat die Wälder und Grundstücke dort vererbt bekommen, und Viktor Hallsteiner die Ländereien hier in Österreich. Danach hat er zwei Sägewerke gekauft und saniert, diese zählen heute zu den größten im Land. Ihm gehören außerdem ein Bauunternehmen und je eine Spielhalle in Freistadt und Linz. In Kitzbühel hat er in mehrere Luxuswohnungen investiert, die er um ein kleines Vermögen an Gäste vermietet, hauptsächlich an Russen. Er selbst ist Jurist und Betriebswirt. Anscheinend hat er ein Händchen für marode Unternehmen. Er kauft und saniert sie, bis sie wieder Gewinne abwerfen. Dann verkauft er sie großteils weiter«, spulte Grünbrecht herunter, was sie während der Herfahrt in Erfahrung gebracht hatte. Da Stern so langsam gefahren war, hatte sie ja genügend Zeit gehabt.
»Wissen wir schon, ob man das Opfer als vermisst gemeldet hat?«
»Nein, keine Vermisstenanzeige.« Grünbrecht schüttelte den Kopf.
»Na, dann mal los«, brummte der Chefinspektor und schritt auf den Eingang zu.
Das prächtige Gebäude wurde von einem noch prächtigeren Garten übertroffen. Allein die Zufahrt zur Villa war an die 80 Meter lang und von niedrig geschnittenen Buchsbäumen gesäumt. Im hinteren Bereich des Gartens wuchsen Weiden und Buchen und verliehen dem Gebäude den passenden Rahmen.
Sterns Finger senkte sich auf die goldene Klingel neben der massiven hölzernen Eingangstür. Eine Tonabfolge wie bei einem Klavierkonzert erklang.
»Beethoven«, sagte Grünbrecht.
Weder wunderte es Stern, dass Grünbrecht dieses Musikstück kannte, noch dass die Hallsteiners für ihre Türglocke eine Klaviersonate ausgewählt hatten.
Die Tür wurde geöffnet und eine schwarz gekleidete Frau stand vor ihnen. Offenbar hatte sich der Tod von Marion Balduin schneller herumgesprochen, als Stern angenommen hatte. Bestimmt war der Eintrag auf Facebook daran schuld.
»Ja bitte?« Fragend sah die Dame die Inspektoren an.
»Frau Hallsteiner?«
»Nein, Frau Hallsteiner empfängt im Augenblick keine Besucher.«
»Wer sind Sie?«, fragte Stern, zog seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn der Frau hin.
»Fiona Mühlböck, die Haushälterin«, antwortete sie gefasst. Dass die Kriminalpolizei vor der Tür stand, schien sie nicht zu überraschen.
»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt in Linz und müssen Herrn und Frau Hallsteiner sprechen sowie deren Sohn … äh …«
»Fabian«, half Grünbrecht ihm.
Stern erkannte, dass ihr Gegenüber zögerte. »Es geht um Marion«, schob er deshalb nach, was der Haushälterin nun doch eine Reaktion entlockte. Die Augenbrauen wanderten nach oben, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dann trat sie zurück und ließ die Tür aufschwingen, als hätte Stern ein Codewort genannt.
Die Inspektoren betraten eine pompöse Empfangshalle, wie Stern sie in einem Herrenhaus erwartet hätte, nicht aber in einer alten Landvilla, die zugegeben äußerst großzügig gestaltet war. Der Boden war mit schwarzem Marmor ausgelegt, die Wände waren in Weiß und Beige gehalten und die dunklen Möbel mit goldenen Elementen an Ecken und Füßen verziert. Hinter ihnen schloss die Frau die ebenso eindrucksvolle Pforte.
»Wir hab’n es gerade erfahr’n«, flüsterte sie den Beamten zu. Dabei hielt sie beide Arme gegen die Brust gedrückt und senkte den Blick für einen Moment, als spräche sie ein stummes Gebet. »Es war ein großer Schock für uns. Herr Hallsteiner ist sogar die Treppe herunterg’fallen, als er davon g’hört hat. Er hat sich den Kopf verletzt, aber er will net, dass ich einen Arzt oder die Rettung ruf.«
»Das tut uns leid«, sagte Stern.
Die Haushälterin nickte. »Wenn S’ mir bitte folgen woll’n.« Sie geleitete die Kriminalbeamten durch den Eingangsbereich, von dem aus mittig eine breite Stiege nach oben führte, wo sich vermutlich die Schlafräume befanden. Das Wohnzimmer war im rechten Flügel der Villa untergebracht, dort saß die Familie beisammen und unterhielt sich. Wahrscheinlich redeten sie über Marions Tod. Als Fiona Mühlböck klopfte, verstummte das Gespräch.
»Ja?«, war eine männliche Stimme zu hören.
Die Haushälterin öffnete die Tür und trat halb ein. »Zwei Polizisten sind da und woll’n Sie sprechen.«
»Sie sollen hereinkommen«, ertönte es von drinnen.
Fiona Mühlböck trat zur Seite und ließ Stern und Grünbrecht passieren.
Das Wohnzimmer entpuppte sich als Wohnsalon. Ein offener Kamin war das Herzstück des riesigen Raumes, davor standen mehrere moderne Ledersofas in einem Halbkreis aneinandergereiht. Heuer war der Mai bereits angenehm warm, weshalb kein Feuer im Kamin brannte. Kostbare Teppiche lagen auf dem Boden und moderne, in unterschiedlichen Techniken gefertigte Gemälde zierten die Wände. So mancher Linzer Galerist würde vor Neid erblassen, sähe er die hier aufgehängte Bandbreite an moderner Kunst.
»Grüß Gott!«, begrüßte Stern die Anwesenden, sofort nahm er die Betroffenheit wahr, die in dem Raum herrschte. »Mein Name ist Oskar Stern, ich bin Chefinspektor am Landeskriminalamt Oberösterreich, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht …«
»Sie kommen gewiss wegen Marion«, unterbrach der Hausherr Sterns Vorstellung. Er hielt sich ein Tuch an den Kopf, bestimmt wegen des Sturzes. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass sein Hemd und die Ledercouch mit Blut besudelt wurden, weil er sich eine Verletzung zugezogen hatte. »Das ganze Internet ist voll mit diesem Foto, das so ein sensationslüsterner Trottel von Marion gemacht hat, wie sie tot in den Bäumen hängt. Sie müssen umgehend Sorge dafür tragen, dass es verschwindet! Sofort!«, forderte er echauffiert und wollte aufstehen, doch die Bewegung verursachte ihm offensichtlich Schmerzen. Sein Gesicht verzerrte sich und er stöhnte.
»Wir werden unser Bestes tun. Außerdem möchten wir Ihnen unser aufrichtiges Beileid aussprechen«, sagte Stern und trat näher. »Sollen wir einen Arzt rufen?« Er deutete auf Viktor Hallsteiner, der umständlich mit der rechten Hand das Tuch in Position hielt und sich in die Couch zurückfallen ließ. Dadurch konnte Stern nicht sehen, wie schwer die Verletzung war, die er sich bei dem Sturz zugezogen hatte.
»Das mit Marion war ein schrecklicher Unfall, oder? Es kann nur ein Unfall gewesen sein«, sagte der Hausherr und bot den Beamten an, sich zu setzen. Die Frage nach dem Arzt ignorierte er.
Sowohl Fabian als auch seine Mutter und Schwester schwiegen. Sie sahen betroffen aus, wenn auch nicht auf die Weise, die Stern kannte, wenn ein nahestehender Mensch von einem gegangen war. Der Chefinspektor war schon oftmals zu Familien heimgekommen, die einen geliebten Menschen durch eine Gewalttat verloren hatten, hatte die Verzweiflung und Fassungslosigkeit, die Wut und Trauer erlebt. Hier aber war es anders.
»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte er.
»Wie meinen Sie das?« Viktor Hallsteiner richtete sich auf, und die Gesichter der übrigen Familienmitglieder schwenkten ebenfalls in Sterns Richtung.
»Wie ich sagte: Wir wissen nicht, ob es tatsächlich ein Unfall war oder nicht. Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir von Mord aus. Die Indizien sprechen dafür.« Gespannt blickte Stern die Anwesenden der Reihe nach an. Die Schwester fing an zu weinen, die Mutter reichte ihr ein Taschentuch. Fabian wurde kreidebleich. Stern konnte erkennen, dass er das Gehörte erst verarbeiten musste.
»Das ist doch ein ausgemachter Schwachsinn!«, erwiderte Viktor Hallsteiner aufgebracht. Er wollte aufstehen, doch sichtlich hinderten ihn seine Kopfschmerzen daran. »Stefanie, bring mir eine Schmerztablette!«, forderte er von seiner Frau.
Stefanie Hallsteiner stand auf und verschwand aus dem Raum. Jetzt war für die Kriminalbeamten klar, wer hier das Kommando führte.
»Herr Hallsteiner«, richtete Stern das Wort an Fabian. »Warum haben Sie Ihre Frau nicht als vermisst gemeldet? Hätten Sie nicht bemerken müssen, dass sie nach Ihrer Hochzeit nicht neben Ihnen im Bett liegt?«
»Nein, hat er nicht«, antwortete Viktor Hallsteiner anstelle seines Sohnes. »Und zwar wegen …«
»Ich rede nicht mit Ihnen, sondern mit Ihrem Sohn«, ließ Stern ihn nicht ausreden. »Wenn Sie sich bitte zurückhalten!«
»Was denken Sie, wen Sie vor sich haben?«, brauste der Vater auf und erhob sich. Wieder verzog er vor Schmerzen das Gesicht, blieb aber stehen.
»Ich weiß, wen ich vor mir habe. Und Sie halten sich jetzt aus der Befragung raus, sonst …«
»Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren!«
»Tun Sie das, aber draußen. Mara, würdest du bitte Herrn Hallsteiner vor die Tür begleiten und einen Arzt rufen? Ich glaube, dass er sich bei dem Sturz eine Gehirnerschütterung zugezogen hat«, sagte Stern und wandte sich Fabian zu. Ein klares Zeichen, dass er nicht beabsichtigte, mit dem Oberhaupt der Familie weiterzureden, solange das sich nicht unter Kontrolle hatte und Sterns Anweisungen Folge leistete.
Die Gruppeninspektorin stellte sich vor Viktor Hallsteiner und sah ihn auffordernd an.
»Das werden Sie bereuen!«, zischte er und schritt Grünbrecht voran. In diesem Augenblick kehrte Stefanie Hallsteiner zurück, in der einen Hand ein Glas Wasser und in der anderen zwei Schmerztabletten.
»Was ist hier los?«, fragte sie verwundert und blickte ihrem entschwindenden Gatten hinterher. Anschließend wandte sie sich Stern zu und hoffte auf Aufklärung.
»Ihr Mann hat sich entschieden, der Befragung nicht beizuwohnen«, erläuterte Stern knapp. Im Eingangsbereich konnte er den Hausherren zetern hören. Wahrscheinlich rief der jetzt den Landespolizeidirektor an und dieser daraufhin Bormann, Sterns Chef. Doch ein paar Minuten blieben Stern noch, bis Bormann versuchen würde, ihn zu erreichen.
»Herr Hallsteiner, bitte beantworten Sie meine Frage«, kam er auf das ursprüngliche Thema zurück. »Warum haben Sie Ihre Frau nicht als vermisst gemeldet? Oder haben Sie etwa gar nicht gewusst, dass sie nicht zu Hause war?«
Fabian Hallsteiner rückte nervös auf dem Sofa hin und her. Er rieb sich die Hände und sah zu Boden. Es war unschwer zu erkennen, dass ihm die Situation stark zusetzte.
»Ich war letzte Nacht ziemlich weggetreten, ich weiß nicht einmal, wie ich nach Hause gekommen bin«, sagte er leise.
»Heißt das, Sie haben auf Ihrer Hochzeit so viel Alkohol getrunken, dass Sie sich an nichts erinnern?«, hakte Stern nach.
»Ich hab nicht alles vergessen, was gestern passiert ist, aber es gibt schon ein paar Lücken. Vor allem, was zum Schluss passiert ist, liegt unter einem dicken Nebel verborgen«, stellte Fabian klar.
»Dann erzählen Sie mir von der Hochzeit, soweit Sie es noch wissen«, forderte Stern den jungen Witwer auf.
»Von der ganzen Hochzeit?« Fabians Stimme klang unsicher.
Stern nickte.
»Ja, wo fange ich da an? Also, wir haben auf der Burg Reichenstein geheiratet, anschließend fand dort die Hochzeitsfeier statt. Es waren viele Gäste da, Verwandte, Bekannte, Freunde, Geschäftspartner meines Vaters. Marion war unglücklich …« Fabian brach ab und schien sich mit Augenkontakt beim Chefinspektor rückversichern zu wollen, ob seine Erzählung dessen Erwartungen entsprach.
»Weshalb war sie unglücklich? Es war doch ihre Hochzeit?«, fragte Stern. War eine Hochzeit nicht der Traum der meisten Frauen? Warum also war Marion an diesem Tag nicht überglücklich gewesen?
Fabian warf einen Blick zu seiner Mutter hinüber, die sich mittlerweile gesetzt hatte, nach wie vor das Glas Wasser und die Tabletten in Händen. Sie nickte ihrem Sohn aufmunternd zu.
»Sie müssen wissen, dass wir nicht aus Liebe geheiratet haben«, erzählte Fabian stockend.
»Weswegen dann?« Stern konnte sich nicht vorstellen, dass es heutzutage für junge Leute noch andere Gründe gab, den Bund der Ehe einzugehen. Die Zeiten der arrangierten Verehelichungen von Kindern waren längst vorüber. Natürlich wusste er, dass es in anderen Kulturen und auf anderen Kontinenten durchaus bis heute üblich war, junge Mädchen mit Männern zu vermählen, aus den unterschiedlichsten Gründen. Oder weil es schlicht und einfach Tradition war. Aber in Österreich dürfte das seiner Meinung nach eigentlich nicht mehr vorkommen.
»Unsere Eltern haben uns verkauft!«, stieß Fabian verächtlich aus. Sein Gesicht verzog sich zu einer leidenden Fratze.
Stern glaubte sich verhört zu haben, doch Stefanie Hallsteiner liefen plötzlich Tränen über die Wangen. Die Worte ihres Sohnes schmerzten sie, das sah Stern deutlich. Der Vorwurf war schwerwiegend, und Stern wollte ihn näher erklärt haben, was für die Mutter bedeutete, den verletzenden Worten des Sohnes weiterhin ausgesetzt sein zu müssen.
»Was heißt verkauft?«, hakte er nach.
»Weil ich Marion geheiratet habe, bekommt ihr Vater einen Haufen Geld von meiner Familie, um seine Firma zu retten. Dadurch steht Marions Vater für immer und ewig in unserer Schuld. So ist es doch, oder, Mutter?« Fabians Lippen bebten, als er sie um Bestätigung bat.
Die Angesprochene schluchzte laut auf. »Ich hab es nicht verhindern können«, gestand sie unter Tränen. »Ich hab Viktor angefleht, es nicht zu tun. Dass er unseren Sohn nicht an diesen Gewürzhändler verkauft wie eine Ladung frischer Senfkörner. Aber er hat nicht auf mich gehört. Er hat gemeint, dass Fabian etwas dafür tun müsse, wenn er irgendwann einmal unser Vermögen erben will. Und Fabians Beitrag ist eben, jemanden zu heiraten, der in Viktors Pläne passt.« Die Mutter ließ erschöpft die Schultern hängen. Das Versagen, dass sie ihren Sohn nicht vor dieser Heirat hatte beschützen können und dies dann auch noch zugeben musste, kostete sie ihre ganze Kraft.
»Was hat Marion zu diesem Plan gesagt?«, wollte Stern wissen.
»Sie war nicht begeistert«, erwiderte Fabian. »Und sie hat mich dafür gehasst.«
»Und ich hasse deswegen meinen Mann. Soll er doch verrecken!« Stefanie Hallsteiner stand auf und schüttete das Wasser in den Topf einer Zimmerpflanze, die Schmerztabletten steckte sie in die Schublade einer Kommode. Das war ihre kleine Revolte, wenngleich sich Stern sicher war, dass sie ihrem Mann wieder gehorchen würde, sobald dieser zur Tür hereinmarschierte.
»Wie war das gestern Abend? An was können Sie sich erinnern und wann haben Sie Marion das letzte Mal gesehen?«, machte Stern mit der Befragung des Bräutigams weiter.
»Nach dem Brautstehlen. Wir haben zusammen getanzt, und Marion war eigentlich nicht so schlecht drauf. Sie hat sogar gemeint, dass das, was ich zu ihr gesagt habe, und zwar, dass die Liebe noch kommen könne, wenn wir erst mal eine Zeitlang verheiratet seien und uns besser kennengelernt hätten, dass sie das ein wenig hoffnungsvoller gestimmt hat. Ich hatte den Eindruck, als wenn sie mich nicht mehr ganz so verabscheuen würde. Aber vielleicht habe ich mich geirrt.« Fabian starrte traurig auf seine Hände.
»Marion hat gestern mit vielen Männern geflirtet«, meldete sich Fabians Schwester Christine zu Wort. »Es war offensichtlich, dass sie nicht mit dir verheiratet sein wollte.« Bislang hatte die junge Frau geschwiegen und dem Gespräch aufmerksam gelauscht. Stern konnte nicht einschätzen, auf welcher Seite sie stand. Auf Marions? Oder auf der ihrer Familie, die ja erst das Leid über Marion gebracht hatte? Stern würde es herausfinden, ebenso, warum Marion und Fabian der Heirat überhaupt zugestimmt hatten.
»Ich hab’s gesehen«, antwortete Fabian, den Blick zu Boden gerichtet, als schämte er sich für das Verhalten seiner nun toten Ehefrau.
»Die Leute werden sich über uns das Maul zerreißen«, redete Christine weiter. Sie hatte die Beine angezogen und hielt einen kuscheligen Fell-Polster von der Couch dicht an ihren Bauch.
Stern beobachtete sie und ihm fiel auf, dass sie lächelte. »Und das freut Sie?«
»Das ist voll cool!«, sagte Christine. »Endlich kriegt Papa das, was er verdient. Sonst kuschen immer alle vor ihm. Ich finde es übrigens toll, dass Sie ihn rausgeworfen haben. Sie haben echt Eier, Mann! Aber Sie wissen, was jetzt auf Sie zukommt?«
»Ich kann es mir vorstellen …«
»Verdoppeln Sie Ihre Vorstellung! Er wird Ihnen den Arsch aufreißen, bis Sie vor ihm in die Knie gehen, genau wie wir.« Christine deutete in die Runde und drückte mit der anderen Hand den Fell-Polster noch fester an sich, als könnte der sie vor den zukünftigen Angriffen des Vaters schützen.
»Das wäre ja noch schöner«, murmelte Stern. »Also, Sie haben Marion das letzte Mal nach dem Brautstehlen beim Tanzen gesehen. Wie spät war es da?«, richtete er die nächste Frage an den jungen Witwer.
»So gegen halb eins, würde ich meinen.« Fabian versuchte sich zu erinnern. »Ich hatte so viel intus, dass ich nicht länger tanzen konnte. Beim Brautstehlen haben wir Schnaps getrunken, immer wieder. Die Wirkung setzte aber erst später ein, und danach … Ich glaub, ich hab auf Marions Kleid gekotzt.«
Christine kicherte. »Ja, das hast du. Und das hat sie wirklich sauer gemacht!«
»Dann weiß ich nichts mehr. Ich hab auch nicht den blassesten Schimmer, wie ich nach Hause gekommen bin.«
»Mit uns«, sagte die Mutter, die sich mittlerweile gefangen hatte. Die Tränen waren versiegt, die Nase geputzt, und das verschmierte Make-up unter den Augen mit einem Taschentuch weggewischt. Sie saß aufrecht auf der Ledercouch und massierte ihre Hände. »Viktor hat dich aufgelesen und von ein paar kräftigen Männern auf die Rücksitzbank seines Wagens verfrachten lassen. Die Reinigung wird deinen Vater eine Stange Geld kosten.«
»Ja, du hast nämlich auch in Papas BMW gekotzt«, sagte Christine mit sichtlicher Genugtuung.
»Wann haben Sie Marion das letzte Mal gesehen?«, wollte Stern von Frau Hallsteiner wissen.
»Ich hab Marion gefragt, ob sie mit uns nach Hause fahren will, aber sie hat gemeint, da mit Fabian heute ohnehin nichts mehr ginge, weil der so viel getrunken habe, könne sie noch bleiben und ein wenig Spaß haben. Ich hab ihr den Spaß gegönnt.« Stefanie Hallsteiner betrachtete den Chefinspektor unsicher. Sie schien sich zu fragen, ob der verstünde, was sie damit ausdrücken wollte. »Ich hatte irgendwie Mitleid mit ihr, obwohl mir nicht gefallen hat, wie sie sich bei der Hochzeit aufgeführt und unsere Familie bloßgestellt hat«, erklärte sie.
»Das hört sich an, als wären Sie selbst nicht glücklich in Ihrer Ehe«, schloss Stern aus ihrer Antwort.
»Ich habe zwei wundervolle Kinder. Das ist mehr, als ich mir jemals zu erträumen gewagt habe.« Sie lächelte Fabian und Christine an. »Doch gegen meinen Mann habe ich keine Chance. Der bekommt immer, was er will. Ohne Rücksicht auf andere. Ohne Rücksicht auf mich.« Ihre Stimme war leise geworden, und während sie das sagte, hatte sie wieder begonnen, ihre Hände zu massieren.
»Und wann haben Sie Marion das letzte Mal gesehen?«, stellte Stern erneut diese Frage, nun an Fabians Schwester gerichtet.
»Als sie mit dem Sänger der Band gevögelt hat«, antwortete Christine.