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3. KAPITEL
ОглавлениеDie Burgruine Reichenstein thronte im Feldaisttal auf einem Felsen, der die daneben fließende Feldaist zwang, einen Bogen zu machen. Chefinspektor Oskar Stern stand neben der Straße, die unterhalb der Burg vorbeiführte, und starrte nach oben. Hier musste ebenso die Person gestanden haben, die das Foto von der Toten gemacht hatte, das sich im Internet mit dem Hashtag »Mühlviertler Kreuz« verbreitete. Die Tote hatte die Arme seitwärts weit von sich gestreckt wie ein Priester bei der Predigt, was die Assoziation mit einem Kreuz erweckte. Und sie trug ein Brautkleid, dessen Rock weit auseinanderfiel, was sie engelsgleich wirken ließ. Sie hing in den Ästen der Bäume, die am Fuße der Ruine neben der Straße wuchsen, als würde sie schweben. Als wäre sie von den Toten bereits auferstanden. Stern fuhr bei ihrem Anblick ein Schaudern durch die Gliedmaßen. Er konnte seine Augen nicht von ihr lösen. Ihre Erscheinung war faszinierend und verstörend zugleich, ein menschliches Kreuz im Engelsgewand.
Man hatte sie nicht sofort entdeckt, hatte man Stern mitgeteilt, die Blätter hatten das verhindert, ebenso der Umstand, dass sie über dem normalen Sichtfeld im Geäst feststeckte.
Sterns Blick wanderte weiter hinauf bis zum Rand der Ruine. Von dort musste die Tote gefallen sein, denn fliegen konnte sie zweifelsohne nicht, auch wenn sich der Vergleich mit einem Engel nicht nur durch ihr Äußeres, sondern desgleichen durch ihre Auffindungsposition aufdrängte.
»Wissen wir, wie sie heißt?«, fragte er Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht, die neben ihm gewartet hatte, bis er mit der Begutachtung der Leiche und deren Erscheinung fertig war. Das schätzte Stern an ihr. Sie wusste immer, was er wollte, manchmal sogar bevor er selbst Kenntnis davon hatte.
»Marion Balduin«, antwortete Grünbrecht. Ihre braunen schulterlangen Locken trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre haselnussbraunen Augen blickten wie die von Stern hinauf in die Baumkrone.
»Balduin, den Namen kenne ich doch irgendwoher …«, grübelte Stern nach.
»Von den Balduin Gewürzen. Gustav Balduin ist der österreichische Gewürzkönig und kauft alle Kräuter und Gewächse auf, egal ob sie oben am Berg oder unten im Tal wachsen, und macht daraus seine berühmten Gewürzmischungen. Soviel ich weiß, exportiert er sie in die ganze Welt. Das Mühlviertler Lavendelsalz ist nicht nur bei uns sehr beliebt«, erzählte ihm Grünbrecht, was sie wusste und was bei ihr daheim offenbar im Küchenregal stand.
»Ist sie mit ihm verwandt?«
»Sie war seine Tochter.«
»Und wie es aussieht, ist sie am Tag ihrer Hochzeit gestorben.« Stern hielt nach wie vor den Blick auf die Leiche gerichtet. Es war seltsam, und er konnte nicht sagen, warum, aber ihr Anblick berührte ihn auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte.
»Ja, sie hat gestern geheiratet. Die Hochzeit fand hier auf der Burgruine statt«, erläuterte Grünbrecht und deutete hinauf zu den alten Gemäuern.
»Warum heißt sie dann noch immer Balduin?«
»Mensch, Chef, das ist doch ein alter Hut! Seit 1995 ist es sogar bei uns in Österreich möglich, dass die Frau nach der Heirat ihren Nachnamen behalten kann und nicht den des Mannes annehmen muss«, echauffierte sich Grünbrecht über Sterns Unwissenheit.
Stern erwiderte nichts. Natürlich wusste er über die Gesetzeslage Bescheid, dennoch war es bis heute die häufigste Form, dass die Frau den Familiennamen des Mannes übernahm.
»Sind die Gäste etwa noch da?«, fragte er.
»Nein, aber ich habe mit dem Caterer gesprochen, der seine Sachen abholen wollte. Ich hab ihm gesagt, dass das nicht geht und er warten muss, bis wir den Tatort freigeben.«
Stern nickte und sah ein letztes Mal hinauf zur Leiche in dem Brautkleid. Kein schöner Tod, auf diese Weise abzutreten. In die Tiefe zu stürzen auf der eigenen Hochzeit.
Oder war sie gar freiwillig gesprungen? Was war vorgefallen, dass sie diesen Tod möglicherweise selbst gewählt hatte?
Das galt es nun herausfinden.
Er wandte sich ab und gab den Kollegen ein Zeichen, dass sie die Tote vom Baum holen konnten.
»Du, sag mal, hätte sie den Sturz nicht eigentlich überleben müssen, wenn sie in den Ästen landet?«, fragte Stern Dominik Weber, der darauf wartete, die Tote einer ersten Beschau unterziehen zu können. In seinem Wagen führte der Gerichtsmediziner immer einen Koffer mit, in dem sich die wichtigsten Utensilien für die Untersuchung einer Leiche befanden. Deshalb war er stets einsatzbereit, und die Chancen, vor Stern einen Tatort zu erreichen, stiegen dem geschuldet ebenso.
»Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass man so einen Sturz überlebt«, schätzte der Gerichtsmediziner. »Wenn du mit dem Kopf aber auf einen massiven Ast prallst, brichst du dir genauso das Genick, wie wenn du auf der Erde landest. Andererseits hab ich schon von Fällen gelesen, da haben Menschen Abstürze aus über 100 Meter überlebt, und andere sterben, wenn sie bloß von einer zweistufigen Leiter runterfallen. Bei einem Sturz spielen so viele Faktoren eine Rolle, ob man ihn überlebt oder nicht, nicht nur die Fallhöhe ist ausschlaggebend. Sobald ich mir die Tote genauer angeschaut habe, sage ich dir, was in diesem Fall Sache ist.«
Weber folgte den Kollegen, die die Bergung des Opfers mit einer Drehleiter samt Korb von der hiesigen Feuerwehr vorbereiteten. Damit ließen sich der Gerichtsmediziner und ein Polizeifotograf Minuten später bis zu jener Stelle in den Bäumen hochheben, wo die Leiche festhing. Der Fotograf machte Fotos, wo und wie das Opfer zum Liegen gekommen beziehungsweise der Fall gebremst worden war, und Weber diktierte alle Informationen in ein Aufnahmegerät, die für die Bestimmung der Todesursache später hilfreich sein könnten.
Inzwischen erklommen Oskar Stern und Mara Grünbrecht über einen schmalen Trampelpfad, der beidseitig von kleinen kunsthandwerklichen Gegenständen gesäumt wurde, den Hügel hinauf zur Burg. Diese war vor dem 13. Jahrhundert errichtet worden und wurde seit dem Jahr 1750 nicht mehr herrschaftlich bewohnt, was ursächlich für ihren Verfall war.
Oben vor dem Eingang warteten die Gruppeninspektoren Edwin Mirscher und Hermann Kolanski auf sie. Sie hatten sich währenddessen die Burgruine angesehen und mit den Personen gesprochen, die die Überreste des vortägigen Festes aufräumen wollten.
»Grüß dich, Oskar. Jetzt wird wohl nichts aus eurer Wanderung durchs schöne Mühlviertel.« Mirscher empfing seinen Chef mit einem breiten Grinsen. Er wusste, dass Stern nicht freiwillig mit Weber den Johannesweg hatte gehen wollen.
»Ja, leider«, antwortete Stern mit demselben Lächeln.
»Das lässt sich bestimmt nachholen«, meinte Kolanski. Er trug wie immer Sonnenbrille und Lederjacke und könnte ruhig mal wieder zum Friseur gehen. Seine Haare waren für einen Ermittler der Mordgruppe am Landeskriminalamt Oberösterreich viel zu lang, fand Stern, verkniff sich aber einen Hinweis darauf. Immerhin war er nicht Kolanskis Vater, sondern sein Vorgesetzter, obwohl sich das mit dem Vatersein auch ausginge, wenn er schon ganz früh ein Kind gezeugt hätte.
»Sag das ja nicht Weber!«, drohte er ihm dennoch. »Für mich ist die Sache vorbei – aus! Finito!«
Kolanski lachte und folgte wie die anderen Kollegen seinem Chef hinauf zur Burgruine. Sie durchquerten den Eingangsbereich des Burgmuseums, wo sie an Wissenswertem rund um Reichenstein aus mehreren 100 Jahren vorbeigingen, ohne es eines Blickes zu würdigen. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Todesfall, der sich letzte Nacht zugetragen hatte, und nicht den Toten des Mittelalters. Aber ob es tatsächlich Mord war, würde sich erst noch herausstellen.
Als sie die erste Stiege hinter sich gebracht hatten, traten sie in den Burghof, wo die Bühne und die Equipments der Band und des Caterers aufgebaut waren. Hier hatte das rauschende Hochzeitsfest also stattgefunden, dachte Stern und verschaffte sich einen Überblick. Die Stühle und Tische hatte man bereits gestapelt, da zu jener Zeit noch niemand vom Tod der Braut gewusst hatte. Nun waren die Aufräumarbeiten jedoch eingestellt und die Burg menschenleer, damit keine Spuren mehr vernichtet wurden.
Stern suchte nach einer Möglichkeit, hinauf zur Hochburg zu gelangen, von wo aus die Tote gestürzt sein musste. Das wollte er sich zuerst ansehen. Er entdeckte den Aufstieg und steuerte darauf zu. Auf teils original erhaltenen Burgbeständen und teils hölzernen Begehungen, die nachträglich dazugebaut worden waren, schritten sie in den dritten Stock der Burg. Dort waren zwei Räume gut erhalten, der Rest bestand nur mehr aus Außenwänden, die wie der Boden Tag und Nacht jeglichem Wetter ausgesetzt waren, von Regen und Schneefall ganz zu schweigen, die den jahrhundertealten Gemäuern sichtlich zusetzten.
»Von hier aus muss sie gefallen sein«, sagte Stern und trat näher an die mannshohen Fenster heran. Sie waren mit dicken Gitterstäben abgesichert, um zu verhindern, dass jemand hinabstürzte.
Jedoch genau das war passiert!
»Die Stäbe reichen nicht bis ganz nach oben. Wenn jemand die Absicht hegt, zu springen, klettert er einfach darüber«, resümierte Kolanski.
»Oder wenn jemand bewusstlos ist, kann man ihn auch runterwerfen«, überlegte Mirscher und fuhr sich über seine kurzen brünetten Haare. Jedes Mal, wenn der Frühling in den Sommer überging, entschied sich der Kollege für einen Beinahe-Kahlschlag. Dieser sei in den heißen Monaten besser zu pflegen, und er brauche sich ja keine Gedanken mehr über sein Aussehen zu machen, war er der Meinung. Schließlich würde er bald Grünbrecht heiraten.
»Schwierig, aber es geht«, pflichtete ihm seine Verlobte bei. Stern wartete darauf, dass wieder ein angedeuteter Kuss durch die Luft geflogen käme, so wie es die beiden seit der Bekanntgabe ihrer Verlobung hielten, doch der blieb aus. Anscheinend wirkte sich der Fall der toten Braut dämpfend auf ihre Liebesbekundungen aus.
»Die Spurensicherung soll sich das Brautkleid genau ansehen, ob Spuren darauf sind, die belegen, dass jemand nachgeholfen hat«, sprach Grünbrecht aus, was Stern gerade hatte sagen wollen.
»Ja, das soll sie machen, obwohl ich mir sicher bin, dass so ein Abend nicht ohne Spuren auf dem Kleid vorübergeht«, fügte er an und dachte dabei vor allem an das Hochzeitsessen und das Gemenge beim Tanzen.
»Ob es einen Kampf gegeben hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Hier sind unzählige Leute herumgetrampelt. Bei so einem Fest will man ja auch mal ungestört sein.« Kolanski deutete auf ein benutztes Kondom, das mehrere Meter weiter vorne neben der Burgmauer lag, und einige Zigarettenstummel. »Die Spurensicherung soll alles eintüten.«
Stern blickte durch das Gitter auf jene Stelle, wo die Braut gerade vom Baum geholt wurde. Sehr tief ging es da hinab, und er konnte sich kaum vorstellen, dass eine junge Frau am schönsten Tag ihres Lebens – wie man es ja oft zu hören bekam, dass die Hochzeit dies sein sollte – in den Freitod sprang. Was war vorgefallen, dass Selbstmord der letzte Ausweg für sie gewesen war? Oder was war geschehen, dass jemand sie dort hinuntergestoßen hatte?
»Seht mal!«, rief Mara Grünbrecht. Sie stand vor einem Fragment der Burgmauer, das zum Teil in die Hochburg ragte.
»Was ist?« Stern, Kolanski und Mirscher traten näher.
»Da ist Blut.« Grünbrecht deutete auf die Überreste der Mauer. Daran befand sich eine eingetrocknete braune Masse.
»Sie könnte sich den Kopf gestoßen haben und war daraufhin vielleicht bewusstlos. Dann wäre es für den Täter ein Leichtes gewesen, sie über das Gitter zu heben und in die Tiefe zu stoßen«, spekulierte Mirscher.
»Oder sie hat sich das Genick gebrochen und war schon tot, bevor man sie hinuntergeworfen hat«, zeigte Kolanski eine weitere Variante auf, wie es abgelaufen sein könnte.
»Oder das Blut stammt von jemand anderem, der in diese Sache verwickelt ist«, ergänzte Grünbrecht die Liste der möglichen Szenarien, was passiert sein könnte.
»Okay. Hiermit erkläre ich den Todesfall offiziell zu einem Mord oder den Versuch, einen Unfall zu vertuschen, warum auch immer. Selbstmord war es mit größter Wahrscheinlichkeit nicht«, kam Stern zu dem Schluss. »Wir müssen die Gäste befragen, die bei der Hochzeit anwesend waren. Wir fangen mit dem Bräutigam an. Mich interessiert, warum er seine Frau nicht als vermisst gemeldet hat. Oder vielleicht hat er es getan und wir wissen nur noch nichts davon. Klärt das bitte ab! Anschließend nehmen wir uns die Brauteltern, die Schwiegereltern, die Zubraut und den Zubräutigam vor. Ich hoffe, dass wir dadurch ein Bild davon erhalten, was gestern hier vorgefallen ist. Gebt der Spurensicherung Bescheid, dass sie alles gründlich absuchen soll.« Stern warf wieder einen Blick durch das vergitterte Fenster hinab auf die Baumwipfel. Die Tote war bereits aus dem Geäst geholt worden und lag auf einer Plastikplane am Boden neben der Straße, die für den Verkehr wegen des Einsatzes vorübergehend gesperrt worden war. Weber kniete neben ihr und begutachtete den Leichnam.
»Wer nimmt sich wen vor?«, wollte Grünbrecht wissen.
»Du und ich, wir beide befragen den Bräutigam«, antwortete Stern.
»Damit bleiben für uns entweder die Brauteltern oder die Eltern des Bräutigams«, sagte Kolanski. »Die Zubraut und den Zubräutigam erledigen wir später.«
»Wir übernehmen die Schwiegereltern der Toten«, entschied Mirscher. »Eltern zu sagen, dass ihr Kind tot ist, ist eindeutig Chefsache.«
Stern seufzte. Todesnachrichten zu überbringen war etwas, an das sich kein Ermittler gewöhnen konnte, auch er nicht. Dennoch musste es erledigt werden.
»Haben wir schon eine Adresse?«, wandte er sich Grünbrecht zu.
»In fünf Minuten«, antwortete die Gruppeninspektorin, die ihr Handy zückte, um die gewünschte Information in Erfahrung zu bringen.
»Ich rede einstweilen noch mal mit Weber, vielleicht weiß er inzwischen ein wenig mehr über den Todeszeitpunkt oder die Todesursache.« Stern drehte dem vergitterten Fenster den Rücken zu und verließ die Hochburg.
Auf dem Weg nach unten musste er das Burgmuseum passieren. Dort stand ein Herr neben einer Schautafel, der jedoch nicht diese, sondern den herbeieilenden Chefinspektor auffallend musterte. Stern beschloss herauszufinden, ob ihm der Mann etwas sagen wollte, und blieb stehen.
»Chefinspektor Oskar Stern vom Landeskriminalamt Oberösterreich«, stellte er sich vor.
»Nikolaus Brandtner.« Der Mann streckte Stern die Hand zum Gruß entgegen, was wegen der Corona-Pandemie zu einer seltenen Geste geworden war. Dann fügte er erklärend hinzu: »Ich bin der Museumsführer.«
»Waren Sie gestern auch bei der Hochzeit?«, wollte Stern von ihm wissen.
Der Mann um die 50 schüttelte den Kopf. »Nein, war ich net. Da war’n nur die Familie und die Verwandten eing’laden. Ich gehör ja quasi zum Burgpersonal.«
»Wie läuft das eigentlich ab? Wenn jemand auf der Burg heiraten will, was muss er da tun?«
»Sie meld’n sich bei mir und wir such’n einen freien Termin. Wenn der für Sie passt, können S’ hier heiraten«, erwiderte Nikolaus Brandtner. »So einfach geht das.«
»Ist in diesem Offert die ganze Burg inbegriffen?«, hakte Stern nach.
»Wir haben verschiedene Angebote. Die reichen von der kirchlichen Trauung in der Burgkapelle mit anschließender Agape im Burghof bis hin zur kompletten Hochzeitsfeier in der Burg. Da dürfen S’ natürlich sämtliche Räume benutzen. Wie es das Geldbörserl halt zulässt oder die Wünsche der Brautleute es verlangen.« Nikolaus Brandtner verschränkte zufrieden die Arme von der Brust. Er war sichtlich stolz auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, die er den Heiratswilligen bieten konnte. Trüge er statt des legeren Anzuges eine Ritterrüstung, käme sich Stern in die Zeit des Mittelalters zurückversetzt vor. Der Mann war unrasiert und seine Haare waren zu lang, ähnlich wie die von Kolanski. Vielleicht war das aber auch die heutige Mode für Männer mittleren Alters, was wusste Stern schon.
»Und die Hochzeit gestern? Welches Arrangement war dafür gebucht?«
»Äh … Sie wiss’n, Datenschutz und so …«, stammelte der Mann herum, weil es ihm sichtlich schwerfiel, dem Chefinspektor diese Frage nicht zu beantworten.
»Wir haben eine Tote, Herr Brandtner. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es kein Selbstmord. Also, wenn Sie mir die Auskunft nicht geben, kehre ich mit einem Gerichtsbeschluss zurück und nehme Ihre Burg auseinander«, stellte Stern klar.
»Natürlich.« Brandtner räusperte sich. »Die Gesellschaft gestern hat die Burg im Gesamten g’mietet. Das sind keine einfachen Leut’, wenn S’ versteh’n, was ich mein.«
»Nein, das tue ich nicht. Also könnten Sie das …«
»Die hab’n Geld wie Heu, Geschäftsleute mit Beziehungen bis ganz nach oben«, erläuterte Nikolaus Brandtner, noch bevor Stern zu Ende geredet hatte. »Und er, der alte Hallsteiner, der das alles bezahlt hat, ist ein ziemlich schwieriger Mann, mit dem man sich besser net anlegt.«
»Und wenn er der Kaiser von China wäre, ist mir das egal. Für mich ist er wie jeder andere, dessen Hintergrund ich durchleuchten muss. Wir untersuchen hier einen Mordfall«, erwiderte Stern energisch. Diese Obrigkeitshörigkeit ging ihm auf die Nerven. Gerade er mit seinem Job wusste, dass Reichtum und Ansehen niemanden davon abhielt, ein Verbrechen zu begehen.
»Ja, das ist schlimm. Wirklich schlimm.« Brandtner schüttelte den Kopf. »Hoffentlich wirft das kein schlechtes Licht auf unsere Burg und das Museum. Kommen S’! Ich zeig Ihnen was.« Brandtner steuerte auf eine alte Mauer zu, die in den Ausstellungsraum hereinragte. »Sehen S’ das? Das sind die Reste einer für diese Gegend ungewöhnlich großen Renaissanceanlage, die man bei archäologischen Ausgrabungen g’funden hat. Außerdem hat man diese Badegrotte entdeckt.« Brandtner führte Stern zu einer weiteren Anhäufung von Steinen. »Man weiß es net genau, aber man vermutet, dass diese Badegrotte in der Barockzeit dazugebaut worden ist. Aber eines weiß man …« Brandtner beugte sich ein wenig nach vorne und machte eine Pause, die der folgenden Information genügend Raum zum Wirken verschaffen sollte. »So, wie sie jetzt von uns präsentiert wird, ist die Badegrotte einzigartig in Österreich. Ein richtiges Unikat!« Der Museumsführer strahlte Stern an. Anscheinend hatte er längst vergessen, weswegen der Chefinspektor bei ihm war und dass auf seiner geliebten Burg womöglich ein Mord passiert war, deshalb wollte Stern ihn daran erinnern.
»Danke, Herr Brandtner, für diese Informationen, allerdings …«
»Und noch was ist ganz wichtig«, unterbrach Brandtner den Chefinspektor.
»Ja?« Stern horchte auf. Wenn etwas wichtig war, wollte er es natürlich schon erfahren.
»Das Museum steht quasi auf den Überresten der alten Burg, und wir hab’n die Mauerreste und die Badegrotte voll schön ins Museum integriert, damit alle was davon hab’n. Wie finden S’ das?« Erwartungsvoll blickte Brandtner den Chefinspektor an.
»Ist eigentlich eh ganz toll geworden«, druckste Stern herum, da er einerseits nicht unhöflich sein wollte, andererseits diese Information als nicht so wichtig erachtete. Zumindest nicht für die Aufklärung des Falls. Das enttäuschte Gesicht des Mannes ließ ihn aber hinzufügen: »Wenn ich mal etwas mehr Zeit hab, schau ich mir das Museum an, versprochen!«
Der Mann lächelte wieder. »Sie dürf’n kostenlos rein, das versprech ich Ihnen.«
»Dann … auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Stern von dem diensteifrigen Museumsführer.
»Auf Wiederseh’n!«, rief Nikolaus Brandtner ihm hinterher.
Draußen vor dem Museum und den Weg hinab zur Straße dachte Stern über das eben geführte Gespräch nach. Der Museumsführer war ein komischer Kauz, doch er hatte eine große Leidenschaft für die Überreste der Burg an den Tag gelegt, die Stern beeindruckend fand. Der Chefinspektor war sich sicher, dass es nichts über die Burgruine Reichenstein gab, was Nikolaus Brandtner ihm nicht hätte beantworten können. Menschen mit einer derartigen Begeisterung für eine Sache trugen dazu bei, dass Kulturschätze wie die Burgruine erhalten blieben. Sollte er diesbezüglich noch Fragen haben, würde er sich direkt an ihn wenden.
»Kannst du uns schon etwas zu Todesursache und Zeitpunkt sagen?«, fragte er Weber, als er unten neben der Straße anlangte, wo dieser neben der toten Braut kniete und deren Haut massierte. Stern wusste, dass der Gerichtsmediziner daraus unter anderem schließen konnte, wann das Opfer gestorben war.
»Die Totenflecken lassen sich noch wegdrücken, das deutet darauf hin, dass die Frau nicht länger als zehn bis zwölf Stunden tot ist. Aber die Augen kann ich ihr nicht mehr schließen, und die Gelenke sind steif. Das wiederum heißt, dass der Tod vor mindestens acht Stunden eingetreten sein muss. Genügt dir das als Zeitfenster für die Tat?«
Stern brummte und blickte auf sein Handgelenk. Es war jetzt 11 Uhr vormittags, demnach musste das Opfer zwischen 23 Uhr gestern Abend und 3 Uhr morgens gestorben sein, also während oder unmittelbar nach der Hochzeitsfeier. Ein genauerer Todeszeitpunkt würde sich erst durch die Befragungen der Gäste ergeben, wann die Braut zuletzt gesehen worden war.
»Ja, das reicht vorerst. Was ist mit der Todesursache? Hast du da schon etwas für mich?«
»Ich tippe auf Genickbruch«, antwortete Weber. Mit beiden Händen bewegte er den Kopf der Leiche hin und her, um seine Vermutung zu untermauern. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher.«
»Hat sie sich bei dem Sturz das Genick gebrochen?« Stern sah wieder nach oben zum Burgfenster, aus dem die Braut gefallen war.
»Das kann ich dir nicht sagen, aber möglich wäre es. Außerdem hat sie jede Menge Abschürfungen, die von den Ästen herrühren könnten, in denen sie gelandet ist. Um das endgültig zu bestätigen, muss ich noch ein paar Untersuchungen anstellen.« Der Gerichtsmediziner packte seine Utensilien in den Koffer zurück und ließ ihn geräuschvoll zuschnappen. Seine Arbeit vor Ort war getan. Weitere Informationen würde er der Leiche entlocken, wenn er sie obduzierte.
»Danke dir, Weber«, antwortete Stern und wandte sich von dem Gerichtsmediziner und der Toten ab. In dem Getümmel von Einsatzkräften und Schaulustigen, die sich mittlerweile eingefunden hatten und die den Ort wie bei einer öffentlichen Kundgebung bevölkerten, suchte er nach Mara Grünbrecht. Er kniff die Augen zusammen und erinnerte sich, dass er nach dem letzten Mordfall zu einem Augenarzt hatte gehen wollen. Seine Sehkraft ließ zunehmend zu wünschen übrig. In die Ferne und in der Nähe. Er brauchte unbedingt eine Brille.
Als er gerade zurück zur Burg gehen wollte, um dort nach Grünbrecht zu suchen, sah er sie den schmalen Weg zur Straße herunterkommen. Hoffentlich würde ihre und Edwin Mirschers Hochzeit keinen Polizeieinsatz wie diesen nach sich ziehen, schoss es ihm durch den Kopf. Diesen grauenvollen Gedanken schob er sofort beiseite.
Der Termin für die Vermählung stand längst fest, es war der 21. Juni, die Sommersonnenwende. Stern hatte bereits eine Einladung erhalten und sollte außerdem Mirschers Trauzeuge sein. Mit Monatsende würde der Kollege dann aus dem Team der Mordgruppe im Landeskriminalamt Oberösterreich ausscheiden, er hatte sich zum Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung versetzen lassen. Bormann, der Dienststellenleiter, hatte darauf gedrängt. Er hieß es nicht gut, wenn Eheleute in einer Abteilung zusammenarbeiteten. Das sorge für Komplikationen und Unstimmigkeiten, war er der Meinung und hatte damit nicht ganz unrecht. Dennoch schmerzte es Stern, Edwin Mirscher ziehen lassen zu müssen. Schließlich arbeiteten sie seit vielen Jahren zusammen, und auch wenn er nicht immer auf einer Linie mit ihm lag, schätzte er ihn. Vor allem Mirschers Menschlichkeit und sein kindliches Wesen, das er sich trotz des oft harten Jobs erhalten hatte, waren eine Bereicherung für das Team.
Ein Kollege vom Landeskriminalamt Wien würde Mirscher ersetzen. Dieser hatte in Wien noch einen Fall abzuschließen und würde anschließend zu ihnen stoßen, hatte Bormann Stern kürzlich mitgeteilt.
»Und? Haben wir die Adresse vom Bräutigam?«, fragte er Mara Grünbrecht, als sie bei ihm anlangte. Die Gruppeninspektorin hatte dieses Mal ungewöhnlich lange für das Herausfinden der Information benötigt.
»Ja, die habe ich auch«, antwortete die Gruppeninspektorin mystisch.
»Was heißt hier auch? Welche hast du denn noch?«, hakte Stern nach.
»Die der Schwiegereltern.«
Stern sah seine Kollegin irritiert an. »Dort wollten doch Mirscher und Kolanski hinfahren«, glaubte er sich zu erinnern, was sie vorhin ausgemacht hatten. »Die beiden sollen sich die Informationen, die sie brauchen, selber beschaffen. Ich hab gehört, dass es da für ältere Leute so einen Kurs gibt, in dem man lernt, wie man das macht. Wie man treffsicher im Internet surft und was weiß ich dort alles recherchieren kann.«
Grünbrecht lachte. »Du kannst das den beiden ja mal vorschlagen. Ich bin mir sicher, sie werden es begeistert aufnehmen.«
»Ich meine es ernst«, erwiderte Stern.
»Ich auch.«
»Dann sag mir, warum du die Adresse der Schwiegereltern recherchiert hast, wenn doch Kolanski und Mirscher dort hinfahren sollen.«
Grünbrecht räusperte sich und antwortete: »Jetzt nicht mehr. Der Ehemann unserer Toten wohnt nämlich noch zu Hause bei den Eltern.«
»Okay, in diesem Fall übernehmen wir das natürlich«, erwiderte Stern, der nicht wusste, was er davon halten sollte. Er hatte als Jugendlicher so schnell wie möglich von zu Hause ausziehen wollen, kaum dass er die Polizeischule abgeschlossen gehabt hatte. »Jetzt bin ich aber gespannt, was uns erwartet.«