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2. KAPITEL

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»Ich kann nicht mehr«, japste Chefinspektor Oskar Stern und schnappte nach Luft. Die paar Kilo zu viel um Bauch und Hüfte machten sich gehörig bemerkbar. Er blieb stehen und tat, als schaute er sich die Umgebung an. Derweilen brauchte er die Pause, um mal durchzuschnaufen.

Das Mühlviertel breitete sich sanft hügelig vor ihnen aus. Die saftigen Wiesen waren mit einem sonnengelben Schimmer überzogen, da unzählige Löwenzähne ihre Köpfe gen Himmel reckten. Die Wälder waren frisch und dunkelgrün, und das Summen von Millionen Insekten umrahmte die Natur wie ein Orchester. Stimmt schon, der Ausblick war berauschend, und seit sie in Pierbach losgegangen waren, hatten sie schon mehrere davon genießen dürfen.

Aber musste Weber dermaßen rennen?

Stern fühlte sich dadurch gehetzt, gedrängt, als gäbe es kein Morgen. Wenn sie weiterhin so liefen, konnte es gut sein, dass er bei dieser Schinderei einen Herzinfarkt erlitt, und zwar mitten auf dem Weg.

»Wir sind doch erst fünf Kilometer gegangen«, warf Dominik Weber ein, und Stern fragte sich, woher der Gerichtsmediziner das überhaupt wissen wollte. Sterns Beine und Fußsohlen schmerzten nämlich, als wären sie schon das Dreifache der Strecke gewandert, ganz zu schweigen von seinen kneifenden Zehen, die sich bei jedem seiner Schritte wie ausgepresste Zitronen anfühlten.

In Webers Rucksack – und an seinem Körper – war mehr technisches Equipment angebracht, als es im ganzen LKA gab, was gleichzeitig Sterns Frage beantwortete. Irgendetwas von GPS und ähnlichem Kram hatte Weber zu Beginn ihrer Wanderung gefaselt. Da hatte Stern aber nicht zugehört, sondern tatsächlich die Landschaft genossen. Dazu brauchte er kein GPS – und ebenfalls keine Kamera wie manche Leute, die vor lauter Fotoschießen die reale Welt nur noch über das Display ihres Handys oder durch den Sucher eines Fotoapparates kannten.

»Mir kommt es vor, als wären wir seit Stunden unterwegs«, sagte er.

»Sind wir auch, aber nur, weil du so dahinschneckst«, stichelte Weber und machte gleichzeitig Fotos von der Umgebung.

»Wenn ich dir zu langsam bin, brechen wir halt ab. Ich muss den Johannesweg nicht gehen«, witterte Stern seine Chance, den verlorenen Wetteinsatz vielleicht doch nicht einlösen zu müssen. Beim letzten Mordfall hatte Dominik Weber bei einer Leiche den Alkoholgehalt im Blut über zwei Promille geschätzt, ohne technische Hilfsmittel, nur durch die Ausdünstungen des Toten, und er hatte recht behalten. Stern hatte nicht weiter darüber nachgedacht und in die Wette eingewilligt, die ihm Weber vorgeschlagen hatte. Hätte er damals gewusst, dass der Johannesweg, der quer durchs hügelige Mühlviertel führte, ganze 84 Kilometer lang war, hätte er natürlich nicht derart leichtfertig zugestimmt.

»Aber geh, das passt schon. Hab ich halt ein bisschen mehr Zeit zum Fotografieren und Erholen«, machte Weber einen Strich durch Sterns Rechnung.

»Wie weit ist es denn noch?«, fragte der Chefinspektor.

»Du meinst die heutige Etappe?«

»Bis zur ersten Pause.«

»Die machen wir doch gerade.« Weber nahm einen Schluck Wasser aus seiner Trinkflasche.

»Und wie viele Kilometer müssen wir heute noch zurücklegen?«

»Ich würde sagen: neun. Mit deiner Kondition schaffen wir eh nicht mehr. Und dann sind wir in Schönau im Mühlkreis und suchen uns eine nette Bleibe.«

»Und etwas zum Essen wäre gut«, ergänzte Stern, denn das Frühstück lag bereits eine Weile zurück. Weber hatte ihn heute Morgen schon früh von zu Hause abgeholt. Der Gerichtsmediziner war voller Tatendrang gewesen und hatte nicht bis nach dem Mittagessen warten wollen. Außerdem hatte der Wetterbericht für die kommenden Tage durchgehend Sonnenschein und angenehme 22 Grad angekündigt – das perfekte Wanderwetter!

Anfang Mai blühten die Frühlingsblumen mit den Obstbäumen um die Wette, überall summte es, Bienen sammelten eifrig Nektar von den Blüten, die einen süßlichen Duft verströmten. Eine wunderbare Kulisse, um die Seele baumeln zu lassen und Abstand zu gewinnen zu einem Alltag, der manchmal ziemlich nervtötend und belastend war, das musste Stern zugeben. Er setzte sich auf eine Bank, die am Wegrand für Wanderer aufgestellt war und zum Rasten einlud, und streckte die Beine aus.

Mitten in diese Idylle hinein läutete sein Handy.

»Bitte nicht«, seufzte Weber, der Böses ahnte. »Warum hast du es nicht ausgeschaltet?«

»Weil ich erreichbar sein will, wenn etwas ist.« Stern kramte in dem Rucksack nach dem Smartphone.

»Wenn etwas ist? Es ist immer etwas, Oskar«, maulte Weber.

»Ich meine, mit Barbara oder den Kindern«, antwortete Stern, immer noch nach dem Handy suchend. Mittlerweile lag schon der halbe Rucksackinhalt auf der Bank. Unvermittelt verstummte das nervige Klingelgeräusch.

»Ah, es hat aufgehört.« Weber zeigte sich erleichtert. »Wird schon nicht so wichtig gewesen sein, und wenn doch, versucht der Anrufer es bestimmt später wieder. Komm, räum das Zeug ein und lass uns weitergehen.« Weber klopfte sich energiegeladen auf die Oberschenkel. Das Wandern bereitete ihm Freude. Er war schlank und drahtig und seine Waden waren stramm und muskulös. Seine ganze Erscheinung deutete darauf hin, dass er öfter zu Fuß unterwegs war.

Sterns Handy klingelte erneut.

»Dann ist es wohl wirklich wichtig«, brummte der Chefinspektor und holte das lärmende Gerät von weit unten aus dem Rucksack heraus. Ein Blick auf das Display verriet ihm, dass ihn der Dienststellenleiter erreichen wollte. Da musste er rangehen, ob es Weber passte oder nicht.

»Stern«, meldete er sich.

»Stern, Sie haben einen neuen Fall!«, teilte Bormann ihm ohne Umschweife mit.

»Einen neuen Fall?«, wiederholte Stern laut, damit Weber es mitbekam. Der ließ auch gleich enttäuscht die Schultern hängen.

»In Reichenstein, und zwar auf der Burgruine. Die örtlichen Kollegen haben uns verständigt, dass sie nicht sicher sind, ob es sich um einen Unfall oder einen Mord handelt, deshalb fahren Sie dorthin. Und bringen Sie Weber mit, Stern. Der ist doch bei Ihnen, oder? Ich hab gehört, dass Sie beide zusammen im Mühlviertel wandern sind.«

»Ich richte es ihm aus«, antwortete Stern diensteifrig. Etwas Besseres als ein neuer Fall konnte ihm im Augenblick nicht passieren. Denn jetzt durfte er die drückenden Wanderschuhe gegen seine weichen Kalbslederschuhe eintauschen. Seine Füße würden es ihm danken, und sein geschundener Körper erst recht.

»Ach, eine Sache noch«, sagte Bormann. »Die Kollegen von der örtlichen Polizei haben etwas von einem Kreuz, das wie ein Engel aussieht, gesagt …«

»Bitte was?« Stern war sich nicht sicher, ob er den Dienstellenleiter richtig verstanden hatte. Die Verbindung war nicht die beste und in der Leitung knackte und rauschte es.

»Die Leiche soll wie ein Kreuz im Engelsgewand aussehen, Stern. Es verbreitet sich schon in den sozialen Netzwerken. Irgend so ein Scherzkeks hat die Tote fotografiert und das Foto ins Internet gestellt.«

»Und wie bitte kommt man von einer Leiche auf ein Kreuz, das wie ein Engel aussieht? Was soll das überhaupt sein?«, fragte Stern konsterniert.

»Am besten, Sie schauen sich das an. Sie brauchen nur ›Mühlviertler Kreuz‹ oder ›Kreuz und Engel in Reichen­stein‹ bei Facebook eingeben und das Foto wird Ihnen angezeigt.«

»Äh …«

»Noch viel besser allerdings ist, Sie und Weber fahren sofort hin. Dann können Sie es sich vor Ort ansehen. Die Kollegen warten bereits auf Sie!« Damit verabschiedete sich Bormann.

Stern starrte sein Handy fassungslos an.

»Was ist?«, fragte Weber.

»Wir haben einen neuen Fall, und du sollst auch gleich mitkommen. Gar nicht weit von hier, auf der Burgruine Reichenstein«, sagte Stern und deutete in jene Richtung, in der er besagte Burg vermutete.

»Die liegt gute 20 Kilometer entfernt«, wusste Weber, der deutlich mehr Ortskenntnisse hatte. Er wies in die entgegengesetzte Richtung und grinste. »Und wenn wir gemeinsam hinfahren, ist keiner von uns vor dem jeweils anderen am Tatort. Ich würde sagen, damit ist es diesmal unentschieden.« Weber spielte damit auf das unausgesprochene Ritual bei jedem neuen Mordfall an, dass sowohl Stern als auch er als Erster am Tatort sein wollten, und jeder seinen Sieg dem anderen wochenlang unter die Nase rieb.

»Bormann hat gesagt, dass bereits Fotos von der Leiche in den sozialen Medien herumschwirren«, teilte Stern dem Gerichtsmediziner auch diese Information mit und ignorierte dessen Andeutung auf den lächerlichen Wettstreit zwischen zwei erwachsenen Männern.

»Wie konnte das denn passieren? Haben die Kollegen nicht aufgepasst, dass niemand Fotos macht?« Webers Grinsen wich einem empörten Ausdruck.

»Wir können es uns anschauen, hat er gemeint, auf Facebook …«

»Na, dann lass mal sehen«, forderte Weber den Chefinspektor auf und stellte sich neben ihn.

»Äh … ich hab keine Ahnung, wie das geht.« Stern wedelte mit dem Handy herum, um zu verdeutlichen, was er meinte.

Weber zog sein eigenes Smartphone aus der Tasche, wischte darauf herum und tippte etwas ein. »Es gibt für ältere Leute Kurse, in denen man den Umgang mit sozialen Netzwerken lernen kann«, sagte er wie nebenbei.

»Ältere Leute«, äffte Stern ihn nach. Er fühlte sich noch lange nicht so alt, dass er einen Kurs belegen müsste, um ein paar Tasten zu betätigen. Das würde er schon irgendwann lernen. Notfalls konnte er seinen Enkel Tobias bitten, ihm das zu zeigen. Der Zehnjährige wischte und tippte auf diesen Gerätschaften herum, was das Zeug hielt. Aber auch Erwachsene hatte dieses Virus mitunter ereilt. Manche schrieben sich lieber Nachrichten, anstatt miteinander zu reden. Die soziale Kompetenz schien jedoch mit Zunehmen der sozialen Netzwerke und dem Gebrauch von WhatsApp und Co drastisch abzunehmen. Dennoch musste Stern zugeben, dass ihm hin und wieder ein bisschen mehr Kenntnis die moderne Technik betreffend nicht schaden würde.

»Ich finde nichts«, sagte Weber.

»Gib ›Mühlviertler Kreuz‹ oder ›Kreuz und Engel in Reichenstein‹ ein«, erwiderte Stern stolz, dass er in dieser Sache doch nicht unnütz war. Dass er diese Information von Bormann hatte, verschwieg er.

»Wow!«, stieß Weber aus, als er sah, was die neue Suchabfrage für ein Ergebnis lieferte.

Mühlviertler Kreuz

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