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Der erste BH

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Die Umkleidekabine ist ätzend eng und die Lampe verbreitet eine Hitze wie der reinste Scheinwerfer.

Hanna kommt ins Schwitzen und kriegt einen knallroten Kopf.

Als sie den Pulli über den Kopf zieht, knistern ihre Haare und werden ganz elektrisch. Sie kämmt sie mit den Fingern durch, während sie im Spiegel ihren nackten Oberkörper betrachtet.

Ihre Schultern sind käsebleich und die Oberarme spindeldürr. Aber ihre Brüste sind seit dem Sommer am Meer gewachsen.

Höchste Zeit, dass sie einen BH kriegt.

Hanna hat drei verschiedene zum Anprobieren mit in die Kabine genommen. Der hellblaue gefällt ihr am besten. Er hat ganz feine Spitze und eine winzig kleine Rosenblüte zwischen den Körbchen.

Hanna hakt den BH vorm Bauch zu, dreht den Verschluss nach hinten und steckt erst den einen, dann den anderen Arm durch die Träger. Das hat sie mit einem von Mamas BHs schon ein paar Mal zu Hause vor dem Spiegel geübt.

Die Körbchen passen wie angegossen.

Aber irgendwie sieht es völlig bescheuert aus, denkt sie. Mir steht einfach kein BH.

Nachdem sie sich aber eine Weile vorm Spiegel hin und her gedreht und aus unterschiedlichen Winkeln begutachtet hat, gewöhnt sie sich langsam an den Anblick.

Hanna zieht den Pulli über den BH, um zu gucken, wie das aussieht.

Gar nicht so schlimm.

Papa räuspert sich ungeduldig auf der anderen Seite des Vorhangs. »Dauert das noch lange?«

»Du kannst jetzt gucken«, sagt Hanna.

Papa zieht den Vorhang ein Stück beiseite und pfeift. »Wow.«

Hanna wird verlegen. Warum ist Papa bloß immer so superpeinlich?

Hanna behält den BH gleich an. Nachdem Papa bezahlt hat, lädt er sie zur Feier des Tages ins Café im Haus der Kultur ein.

Sie setzen sich an einen Tisch an der Fensterfront. Hanna beobachtet die Leute unten auf dem großen Platz bei der U-Bahn-Station, die wie hektische Mäuse hin und her flitzen.

Wo die wohl alle hinwollen? Und warum die es wohl so eilig haben?

Gegenüber vom Haus der Kultur stehen drei Hochhäuser in einer Reihe hintereinander. Das große Åhléns-Kaufhaus ein Stück links die Klarabergsgatan runter sieht aus wie ein riesiges Weihnachtspaket.

Hanna liebt Stockholm im Winter. Wenn es früh dunkel wird und schneit und kalt ist und die Lichter glitzern wie tausend Sterne. Das ist so gemütlich.

»Zieh doch deine Jacke aus«, sagt Papa.

Hanna zögert. Sie befürchtet, dass alle sie anstarren werden, weil sie mit den Beulen unterm Pulli albern aussieht.

»Du gewöhnst dich am besten so schnell wie möglich daran«, sagt Papa.

Am Ende hängt Hanna die Jacke dann doch über die Stuhllehne.

Und natürlich passiert nichts. Niemand glotzt. Und Hanna stellt fest, dass sie sich eigentlich ganz wohl fühlt mit ihrem BH.

»Willst du noch eine Tasse?«, fragt sie, als Papa den letzten Schluck Kaffee ausgetrunken hat.

Hanna geht zum Tresen, um Papa noch einen Kaffee zu holen. Dabei streckt sie den Rücken ein bisschen mehr als sonst.

Jetzt habe ich also einen BH, denkt sie. Nichts, wofür man sich schämen muss.

Danach machen sich Hanna und Papa auf den Nachhauseweg.

Sie schlendern über den Platz zur U-Bahn-Station. Papa hat eine Monatskarte, aber Hanna muss an der Sperre ihre Streifenkarte vorzeigen.

»Liljeholmen«, sagt sie.

Der Kontrolleur stempelt drei Abschnitte ab. Danach fährt sie mit Papa die Rolltreppe nach unten, wo gerade die Bahn Richtung Fruängen einfährt. Sie rennen los, damit die Türen nicht direkt vor ihrer Nase zugehen. Das ist Hanna schon ein paar Mal passiert.

Manche Leute stemmen die Türen mit beiden Händen auf und drängen sich im letzten Moment hinein. Ältere Jungs zum Beispiel. Aber das würde Hanna sich niemals trauen. Was wäre, wenn sie stecken bleiben und der Zug einfach losrollen würde?

»Na, da haben wir ja noch mal Glück gehabt«, sagt Papa. Hanna und Papa lachen.

Sie setzen sich auf zwei freie Plätze gegenüber. Papa schnappt sich die Zeitschrift Metro, die über der Haltestange unter dem Fenster hängt, und fängt an darin herumzublättern.

Hanna guckt währenddessen aus dem Fenster.

»Darf ich auch mal ohne dich oder Mama in die Stadt fahren?«, fragt sie plötzlich.

Papa sieht sie erstaunt an. »Und was will meine Tochter mutterseelenallein in der großen Stadt?«

»Natürlich würde ich nicht ganz allein fahren, sondern mit einer Freundin«, erklärt Hanna und sieht Papa fragend an.

»Darüber hab ich, ehrlich gesagt, noch nie nachgedacht.« Papa runzelt die Stirn. Das macht er immer, wenn Hanna unangenehme Fragen stellt. »Da werden wir wohl Mama um Rat fragen müssen«, sagt er schließlich.

»Ich kann ihr ja eine Mail in ihr Büro in Berlin schicken«, schlägt Hanna vor.

»Gute Idee«, sagt Papa und wendet sich wieder seiner Zeitung zu.

Hanna beobachtet ihn heimlich. Ihr fällt auf, dass er älter geworden ist. Er hat ziemlich viele graue Haare bekommen. Sie hat gar nicht gemerkt, wann das passiert ist.

Es dämmert bereits, als Hanna und Papa den kurzen Spaziergang von der U-Bahn-Station nach Gröndal machen.

Winzige Schneeflocken wirbeln durch die Luft. Hanna legt den Kopf in den Nacken und lässt den Schnee auf der Zunge zerschmelzen.

»Wie lange dauert es noch bis Heiligabend?«, fragt sie.

»Fünf Wochen und vier Tage«, antwortet Papa und legt einen Arm um ihre Schulter.

Als Hanna ihren Kopf gegen seinen Brustkorb lehnt, spürt sie die Sehnsucht plötzlich wie ein Ziehen im ganzen Körper. »Und wann genau kommt Mama wieder nach Hause?«

»Am fünfzehnten Dezember«, sagt Papa und streicht ihr mit dem Handschuh über den Oberarm. »In einem Monat.«

Hanna seufzt. Warum hat ausgerechnet sie eine Computerexpertin als Mutter, die ständig in der ganzen Welt herumreist?

Hanna und Papa kommen am See vorbei. Er ist noch nicht zugefroren. Die Lichter der Häuser zeichnen lange gelbe Linien auf das schwarz glänzende Wasser.

Ganz nah am Ufer, da, wo es am dunkelsten ist, schläft ein Schwan. Einen Augenblick lang bildet Hanna sich ein, dass er nicht lebt, sondern dass da jemand eine Schneeskulptur ins Wasser gesetzt hat.

In dem Moment streckt der Schwan den Hals.

Das ist so schön wie ein Gemälde.

Kiss me!

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