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3. Das Versteck

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16. Mai 1943:

Ende des Widerstands im Warschauer Getto

Von dem Tag an, als ich mit Mutti in unserem Versteck lebte, erschien mir die Welt überschaubar und sicher. Ich war jeden Tag von früh bis spät mit Mutti zusammen. Ich erinnere mich, wie zärtlich und liebevoll sie mich umsorgte. Während der zwei Jahre in unserem Versteck in der Dachkammer unterrichtete sie mich in Deutsch, Französisch, Geografie und Geschichte. Die Bücher hatte Frau Klompe besorgt. Ein- oder zweimal in der Woche kam Herr Broeksma und unterwies mich in Holländisch und Mathematik. Ich wollte wirklich so viel wie möglich lernen, aber im Unterschied zu Heinz war ich nicht so intelligent, und ich musste mir den Stoff jeweils hart erarbeiten. Schritt für Schritt kämpfte ich mich allein durch, und ich vermisste meine ehemaligen Schulkameraden schmerzlich. Manchmal lag ich auf meinem Bett und sehnte mich nach den alten Zeiten in unserem Wohnblock, in denen wir Nachmittage lang wie die Wilden auf unseren Fahrrädern herumgestreift waren.

Ich warf mich verzweifelt auf meinem Bett hin und her und hätte doch am liebsten die Beine bis in den Himmel hinaufgeschleudert. Wo sollte ich hin mit meiner angestauten Energie? Ich tat mir richtig leid in meinem »Gefängnis«.

Manchmal, aber wirklich nur sehr selten, wagten wir beide es, Papi und Heinz zu besuchen. Das waren die glücklichsten Tage. Die beiden hielten sich auf dem Land, in Soesdijk, versteckt. Mutti und ich riskierten viel, wenn wir sie besuchten, weil wir jedes Mal mit dem Zug dorthin fahren mussten. So seltsam es klingen mag – aus Angst, uns könnte jemand erkennen, wagten wir zwar nicht, in ein Geschäft in unserer Nähe einkaufen zu gehen, aber wegzufahren erschien uns weit weniger problematisch, da wir vorgaben, unser Besuch bei Frau Klompe sei nun beendet.

Papis Gastwirtin, Frau de Bruin, erlaubte uns, übers Wochenende zu bleiben. Am Montagmorgen kehrten wir mit den Pendlern nach Amsterdam zurück. An diesen spärlich gesäten, wundervollen Freitagen verließen wir das Haus mit unseren Koffern und gingen zum Bahnhof. Es war ein merkwürdiges Gefühl, durch die Straßen zu laufen. Da wir zum Glück beide hellhäutig und blond waren, also aussahen wie jede andere holländische Mutter mit ihrer Tochter, konnten wir uns unerkannt in der Menge bewegen. Trotzdem war es äußerst riskant. Die ganze Zeit über hatten wir jedes Mal aufs Neue schreckliche Angst, besonders, wenn uns gelegentlich Polizisten oder Soldaten am Bahnhof kontrollierten und Mutti ihren gefälschten Ausweis vorzeigen musste. Da ich noch nicht sechzehn war, brauchte ich keinen Ausweis, aber die Geschichte zu meinem holländischen Namen musste ich auswendig wissen, falls mir jemand Fragen stellte, womit man immer rechnen musste. Zum Glück ist der Fall nie eingetreten; wahrscheinlich sah ich doch zu einheimisch aus, um Verdacht zu erregen.

Die Züge waren jedes Mal voller Soldaten, und die SS machte gelegentlich Kontrollen während der Fahrt. Wir versuchten so unbesorgt wie möglich dreinzuschauen, während wir Schulter an Schulter mit unseren ärgsten Feinden standen. Die Fahrten waren von Anfang bis Ende qualvoll. Diese Qualen durchzustehen bedeutete jedoch ein Wiedersehen mit Papi und Heinz, und das war es uns wert.

Nachdem wir uns in der Dachkammer von Frau de Bruin umarmt und begrüßt hatten, schlossen sich Papi und Mutti in einem kleinen Zimmer ein, um eine Weile allein zu sein. Heinz und ich tauschten inzwischen Neuigkeiten aus. Über Nacht schlief Mutti mit in Papis Zimmer, und ich lag auf einer Matratze auf dem Boden im Zimmer von Heinz. Im Dunklen schlich ich mich zu seinem Bett und kroch unter die Decke, um mit ihm zu kuscheln. Wir küssten einander und umarmten uns vor Freude, wieder zusammen zu sein. Unsere angestaute Energie und unsere erwachende Sexualität führten dazu, dass die Kuschelei und die Küsse uns immer mehr erregten. Wir begannen, einander zu streicheln und zu liebkosen. Wogen aufregender Liebe durchströmten mich. Verbotenes taten wir nicht. Ich erinnere mich, wie besorgt wir dennoch waren, dass unsere Eltern etwas davon erfahren könnten. Nichtsdestotrotz gaben wir aber unsere zärtlichen Tändeleien nicht auf, wir hatten nur einander. Wenn ich in meiner Dachkammer allein im Bett lag, weinte ich oft vor Sehnsucht nach Heinz. Ich vermisste ihn mehr als alles andere auf der Welt.

Dauernd in einem Versteck leben zu müssen, das war für Papi eine besonders große Belastung. Er war zeit seines Lebens ein aktiver, dynamischer Geschäftsmann gewesen. Auch er musste einen Weg finden, seine Energie zu kanalisieren. Er fing an, Ölbilder zu malen – Landschaften und Orte, die er kannte. Jedes Mal, wenn Mutti ihn besuchte, musste sie ihm Modell sitzen. Dann begann er, zu unser aller Überraschung, Gedichte zu schreiben, und wir entdeckten Seiten an ihm, die wir bislang nicht gekannt hatten. Er war so kreativ und feinfühlig. Immer wenn er uns sein neuestes Werk vorlas, lächelte er scheu und ein bisschen verlegen. Schließlich waren wir sein einziges Publikum. Am meisten war Mutti über diese neue Seite seiner Persönlichkeit erstaunt.

Heinz hatte eine Menge von Papis Veranlagung. Er war so begabt. Sein untrügliches Gefühl für Farben kam in seinen Bildern deutlich zum Tragen. Eines seiner Bilder zeigte ein kleines Kind, das auf dem Fußboden mit einer Spielzeugeisenbahn spielte; ein anderes ließ eine einsame Dachkammer erkennen, durch deren Fenster Sonnenstrahlen auf Spielsachen in einer Ecke fielen. Das eindrucksvollste Bild jedoch war ein Selbstbildnis, das ihn in seiner ganzen Verzweiflung zeigte: Im Vordergrund sitzt Heinz an einem Tisch, der Kopf auf die Arme niedergesunken, und im Hintergrund liegt ein Sterbender.

Heinz war auch ein begabter Musiker, der selbst klassische Stücke komponierte. Und er schrieb beeindruckende Gedichte. Darüber hinaus war er ein brillanter Schüler. In der Zeit, die er mit Papi in dem Versteck auf dem Land lebte, brachte er sich selbst Italienisch bei. Bei einem unserer Besuche fragte er Mutti nach italienischen Romanen, die er lesen wollte. Er war so wissensdurstig und wollte die Zeit seiner »Gefangenschaft« nicht nutzlos verstreichen lassen.

23. Oktober 1942:

Schlacht von El Alamein; Rommel in Nordafrika geschlagen

Jeden Abend um neun Uhr hörte Papi die Nachrichten der BBC. Deutlich habe ich noch die Erkennungsmelodie im Ohr, das Schicksalsmotiv aus Beethovens Fünfter – im Englischen »victory theme«, da die Tonfolge dem »V« im Morsealphabet entspricht; »V« stand für »victory«, das immer zu Beginn der Sendung gespielt wurde. Bei einem unserer ersten Besuche bei Papi hörten wir in den Nachrichten von Rommels Niederlage und fielen uns begeistert in die Arme. Der Krieg würde bald zu Ende sein.

Unsere Eltern brachten uns Bridge bei. Wir spielten sehr oft, wenn wir abends gemütlich beieinandersaßen. Das Reizen machte mir anfangs noch Schwierigkeiten, aber ich hatte viel Glück mit meinen Karten. Ich war immer stolz, wenn ich mit Papi zusammenspielte, aber Heinz und ich waren doch das beste Team, besonders dann, wenn wir Papi und Mutti besiegten! Wir durften beim Spielen nur flüstern, da wir immer befürchten mussten, dass man uns entdeckte. Alles musste heimlich und so leise wie irgend möglich geschehen. Heinz hatte versucht, sein jüdisches Aussehen zu verändern, indem er sich die Haare mit Wasserstoffperoxid bleichte – sie waren leider mehr rot als blond geworden.

Für Papi verschlimmerte sich die Situation, weil Nachbarn von Frau de Bruin holländische Nazis waren. Sie warnte Papi vor diesen Leuten und versicherte ihm, dass sie nur Umgang mit ihnen pflegte, um keinerlei Verdacht zu erregen. Die Lage spitzte sich zu, als die Nazis Frau de Bruin baten, in ihrem Haus übernachten zu dürfen, bis die Maler mit ihrem eigenen Schlafzimmer fertig waren. Wie sollte sie den beiden diese Bitte abschlagen?

Vollkommen außer sich kam sie daher eines Tages hinauf und bestand darauf, dass Papi und Heinz die ganze Zeit, in der dieser Besuch sich im Hause aufhielt, auf ihren Betten blieben. Sie brachte ausreichend Brot und Milch, stellte einen Nachttopf unters Bett und bat sie, keinen Laut von sich zu geben. Der Besuch blieb zum Glück nur zwei Tage, aber die ganze Situation setzte Papi mehr und mehr zu. Der Gedanke, vollkommen vom Wohlwollen und vom Mut Frau de Bruins abzuhängen, war ihm schier unerträglich.

2. Februar 1943:

Stalingrad: Die 6. Armee der Deutschen unter General Oberst Paulus kapituliert

Sehr lange hatte es so ausgesehen, als ob die Deutschen in Russland siegen würden, aber der Wendepunkt kam mit dem russischen Winter. Mit Papi hörten wir in den Nachrichten der BBC, dass einundneunzigtausend Deutsche gefangen genommen worden waren. Papi meinte, das Ende sei jetzt zumindest in Sicht.

Dennoch führten die Niederlagen der Deutschen in Afrika und Russland zunächst dazu, dass diese die Juden umso entschlossener verfolgten. Es wurden Belohnungen für den Verrat von Juden an die Gestapo ausgesetzt, und Papi war klar, dass Heinz und er in großer Gefahr schwebten, da es immer gefährlicher wurde, Juden versteckt zu halten.

Seine Angst wuchs, als Frau de Bruin zunehmend feindseliger wurde, ihnen immer weniger zu essen gab und hin und wieder beleidigende Bemerkungen machte. Zudem verlangte sie immer mehr Geld dafür, dass sie Papi und Heinz versteckt hielt, und unsere Reserven gingen langsam, aber sicher zur Neige. Diese belastende Situation dauerte ungefähr achtzehn Monate. Papi hielt es kaum noch aus. Er bat Mutti immer wieder, ein neues Versteck für ihn und Heinz zu suchen.

Mutti und ich befanden uns auch in einer heiklen Lage. Als wir nach einem unserer Wochenenden zurück nach Amsterdam kamen, trafen wir auf eine völlig verängstigte Frau Klompe. Die Gestapo hatte während unserer Abwesenheit noch mal ihr Haus durchsucht und ihr gedroht, sie festzunehmen, falls sie jüdischem Geschmeiß Unterschlupf gewährte.

»Euch beide zu verstecken wird mir zu gefährlich«, sagte sie und sah uns entschuldigend an. Aber ihr Entschluss stand fest: Wir mussten gehen.

Natürlich verstanden wir sie, aber wir mussten auf Hilfe der Untergrundbewegung warten, ehe wir »umziehen« konnten. Das Verhältnis zwischen uns und Frau Klompe hatte sich gründlich verändert, es war unterkühlt und gespannt.

Endlich brachte man uns zu Leuten, die wir schon von früher kannten.

Herr Reitsma, ein weiterer tapferer Friese, verheiratet mit einer sehr begabten jüdischen Künstlerin, gewährte uns Unterschlupf. Die beiden waren um die fünfzig, und ihr Sohn, Floris, wohnte bei ihnen. Sie waren alle überaus freundlich, und wir fühlten uns willkommen. Frau Reitsma war geschäftlich den ganzen Tag unterwegs und sehr froh, dass Mutti ihr das Kochen abnahm.

Lebensmittel waren mittlerweile äußerst knapp in Holland. Mutti beschloss daher, ein paar Sachen aus unserem geheimen Lager zu holen. Das war sehr riskant. Sie erklärte mir, dass es unnötig sei, uns beide in Gefahr zu bringen, und ging allein. Zitternd vor Aufregung wartete ich auf ihre Rückkehr. Schließlich kam sie mit ein paar Büchsen, Mehl, Reis, Zucker und Kakao zurück, und wir freuten uns schon auf das Freudenmahl. Aber obwohl die Lebensmittel nicht verdorben waren, schmeckte alles nach Mottenkugeln. Trotzdem waren wir alle froh, ausreichend zu essen zu haben. Mutti sparte für Papi und Heinz etwas auf, das wir ihnen bei unserem nächsten Besuch mitbrachten.

Ich erkannte Papi kaum wieder. Er war vollkommen mutlos und bat Mutti wiederholt, doch ein neues Versteck für ihn und Heinz zu finden.

Mutti sah ein, dass das Leben für ihn in diesem Haus unerträglich geworden war. Kaum hatten wir das Haus betreten, zog Frau de Bruin Mutti beiseite und bemerkte spitz: »Ihr Pelzmantel ist sehr hübsch. Eigentlich brauchen Sie ihn doch gar nicht, da Sie nur ein- oder zweimal im Monat auf die Straße gehen. Ich dagegen muss jeden Tag für Ihren Mann und Ihren Sohn einkaufen. Also schlage ich vor, Sie überlassen ihn mir.«

Das war mehr ein Befehl als eine Frage und Mutti gab ihr den Mantel. Schließlich waren wir in ihrer Hand. Wir wussten, dass es nicht einfach werden würde, für Papi und Heinz ein neues Versteck ausfindig zu machen. Als wir nach Amsterdam zurückgekehrt waren, erzählten wir Herrn Broeksma von der Misere. Er schien nicht sonderlich überrascht.

»Da kann ich leider nicht viel tun«, bedauerte er. »Im Übrigen ist es durchaus keine Seltenheit. Sehr viele Juden werden heutzutage auf diese Weise erpresst, und es kommt oft vor, dass sie gegen Geld an die Gestapo ausgeliefert werden.«

Mutti wurde kreidebleich, als sie das hörte, aber sie war entschlossen, Papis Leid zu lindern. Ohne jemandem etwas davon zu sagen, ging Mutti zu einer Freundin von früher, einer Holländerin namens Doortje, um sie um Rat zu fragen. Zufällig wohnte in der Wohnung ein Stockwerk tiefer eine Krankenschwester, von der Doortje wusste, dass sie Mitglied einer Untergrundorganisation war. Doortje versprach, mit dieser Organisation Kontakt aufzunehmen, und es dauerte nicht lange, bis wir Nachricht erhielten. Sie hatten in Amsterdam ein Versteck für die beiden gefunden, das zudem nicht weit von unserem entfernt lag.

Uns war klar, dass Frau de Bruin auf die Quelle ihres Einkommens nicht so einfach würde verzichten wollen. Papi und Heinz nahmen sich also vor, das Haus bei Nacht zu verlassen. Sie schlichen sich in der Dunkelheit davon, nahmen den ersten Frühzug in die Stadt, wo sie am Bahnhof von der Krankenschwester erwartet wurden, die sie eilig zu der neuen Zufluchtsstätte brachte.

Alles war planmäßig verlaufen. Als wir Papi und Heinz tags darauf besuchten, atmeten wir auf. Die beiden waren in einem geräumigen alten Haus mit riesigen Zimmern untergebracht. Das Ehepaar, dem dieses Anwesen gehörte, begegnete uns besonders freundlich und liebenswürdig. Uns fiel ein Stein vom Herzen. Beruhigt kehrten Mutti und ich an diesem Abend zu den Reitsmas zurück.

Evas Geschichte

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