Читать книгу MONTE - Eveline Keller - Страница 11
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Am Monte Ceneri brach ein dunkelgrauer Morgen an. Alles wurde gleichmäßig nass und es war unklar, ob die Sonne im Laufe des Tages die Wolkendecke aufbrechen würde oder nicht. Regenwetter war für Mara ein Geschenk. Die Hunde im Zwinger würden länger schlafen und später nach ihrem Futter verlangen, also würde sie ruhig einige Minuten länger liegen bleiben können. Seufzend kuschelte sie sich in ihre Decke.
Mara liebte es, in diesem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Erwachen zu verharren und zu tagträumen. Am liebsten malte sie sich aus, wie es sein würde, wenn Papa käme, um sie abzuholen. Sie würde im gleißenden Sonnenschein auf der Veranda stehen und es in jeder Faser ihres Körpers spüren, dass etwas Wunderbares geschehen würde. Sie würde zu der Stelle blicken, wo der Weg in den grünen Wogen des Waldes verschwand, denn dort würde Papa aus dem Schatten treten und rufen: „Mara, Andie! Wo seid ihr?“
Sie würden zu ihm eilen, ja beinahe fliegen, so schnell würden sie rennen. Er würde sie staunend ansehen und kaum wiedererkennen, so wie sie gewachsen waren, und ohne ihre Locken. Tremonti gab nämlich keinen Rappen für etwas so Unnötiges wie Kleider oder Friseur aus. Die Hosen der Mädchen waren mit einem Strick festgemacht, einer Art einzelnem Hosenträger, und ihre Haare schor er kurz, damit sie Läusen kein Zuhause bieten konnten.
Papa würde Andie und sie hinter seinem breiten Rücken in Sicherheit bringen. Er würde sein goldenes Schwert zücken und es Tremonti auf die Brust setzen, um ihn zur Rede zu stellen. Der würde vor Angst zu zittern beginnen und sich in die Hosen pissen. Er würde niederknien und sich stotternd bei ihnen entschuldigen müssen, während Papa ihm Backpfeifen geben würde. Pitsch – patsch – pitsch.
Dann würde er seine wohlgehütete Geldkassette aus dem Versteck holen müssen und Papa eintausend Taler zahlen, das war etwa so viel wie eine Million, als Lohn für ihre schwere Arbeit. Mit dem Geld würde Papa für sie alle ein Haus kaufen. Außerdem würde der Alte zur Strafe alle Tiere freilassen müssen, Hunde, Kaninchen, Ziegen und Hühner. Zum Schluss würde Papa mit Mara und Andie in einer weißen Kutsche mit goldenen Verzierungen davonfahren und sie würden glücklich sein, für alle Zeiten. Ach, wäre das schön.
Mara streckte versonnen ihre Glieder, rieb sich die Augen und blinzelte zum Fenster, wo der Regen von der Dachrinne tropfte. Seufzend zog sie ihre Füsse hoch, um die Wärme noch einen Moment länger auszukosten. Das vertraute Knurren ihres Magens erinnerte sie daran, dass das Abendessen gestern ausgefallen war.
Andie! Der Gedanke an die kleine Schwester fuhr ihr wie ein Blitz durch den Kopf. Mit einem Sprung war sie aus dem Bett. Aufschluchzend eilte sie in die Küche und stellte eine Pfanne mit Wasser auf den Gasherd. Mit geübtem Griff öffnete sie eine Ein-Kilo-Büchse Hundefutter. In der Eile schnitt sie sich an der scharfen Kante des Deckels. Sie steckte den Finger in den Mund, bis es nicht mehr so arg blutete. Es brannte nur noch.
Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was Andrea in den letzten Stunden hatte aushalten müssen. Nichts. Ihre Schwester war die ganze Nacht eingesperrt gewesen. Tremonti hatte sie zur Strafe in das Loch gesteckt, eine Vertiefung im Boden, etwas mehr als einen halben Meter im Durchmesser und zirka achtzig Zentimeter hoch. Ein schwerer Deckel verschloss es.
Mara hatte geplant, Andrea bei nächster Gelegenheit zu befreien. Eigentlich noch in derselben Nacht. Sie hatte wach bleiben und warten wollen, bis Tremontis Schnarchen die Wände schüttelte, um zu Andrea zu schleichen. Aber sie musste eingeschlafen sein. Und jetzt war es schon so spät. Doch zuerst musste sie die Hunde füttern, damit sie nicht zu bellen begannen und dadurch Tremonti weckten.
Endlich, das Wasser kochte. Sie kippte einen halben Beutel Makkaroni hinein und ließ sie garen. In der Zwischenzeit holte sie den Zehn-Liter-Eimer, in dem sie das Futter bereiten würde. Sie steckte sich zwei, drei Happen davon in den Mund, der Rest wurde mit den Teigwaren vermischt und kam in den Kübel.
Während sie verbissen arbeitete, machte sie sich Vorwürfe. Andrea würde sicher durchgefroren sein. Hoffentlich wurde sie nicht krank.
Endlich, die Makkaroni waren gar. Sie stellte den Topf in den Ausguss und schüttete das Kochwasser ab. Den dampfenden Inhalt kippte sie in den Eimer zum Fleisch. Von dem, was ins Spülbecken übergelaufen war, schob sie eine Handvoll in ihre Tasche, für Andie. Mit einer alten Holzkelle rührte sie das Futter energisch um und schob sich einen Löffel davon in den Mund – sie sog die Luft ein. Heiß!
Dann griff sie den Eimer am Henkel und schleppte ihn zu den Hunden hinüber. Zwischendurch musste sie ihre Last absetzen und verschnaufen. Vor dem Zwinger stellte sie den Kübel ab und öffnete das Gittertor. Zur Begrüßung sprangen die Hunde am Gitter hoch und liefen ungeduldig hin und her.
„Schsch! Still! Basta!“
Ihr Kopf war nicht viel höher als jener der beiden Rüden, doch sie wusste, die innere Einstellung war entscheidend, ob sie als ihr Chef respektiert wurde. Da sie kupierte Stummelschwänze hatten, wedelten sie mit ihren Hinterteilen. Die Mischlinge waren Kreuzungen aus Rottweiler, Bulldogge und Terrier. Sie hatten mächtige Zähne. Einmal zugebissen, würden sie mit Knochen wie denen von Mara kurzen Prozess machen. Doch solange sie ihnen das Futter brachte, war sie der Chef. Resolut bahnte sie sich einen Weg an ihnen vorbei und füllte damit die Näpfe. Sobald der eine etwas hatte und der andere nicht, gab es ein Knurren und Fletschen. Kurz darauf schmatzten sie um die Wette.
Nun noch die Wassergeschirre am Brunnen gefüllt – fertig. Lobo, der Jüngere, lief ihr nach. An jeder Ecke schnüffelnd hob er sein Bein. Er sprang um sie herum und wollte spielen. Doch dafür war jetzt keine Zeit. Sie befahl ihm, in den Zwinger zurückzukehren, und er tat, wie geheißen, nur um kurz vor dem Tor zur Seite wegzusetzen. Kläffend rannte er im Kreis und tollte herum. Mara hob beschwörend den Finger:
„Still!“, befahl sie, „Fertig!“, und „Hierher!“. Doch Lobo stand nicht der Sinn danach. Immer wieder trottete er heran, um im letzten Augenblick auszubüxen, dabei japste er vergnügt.
Wütend, mit Tränen in den Augen ließ sie ihn stehen. Sie musste unbedingt nach Andrea schauen, das war wichtiger, und so rannte sie zum Schuppen.
Ein wenig fürchtete sie sich davor, wie sie ihre Schwester vorfinden würde. Und all das nur, weil sie sich im Wald verlaufen hatten. Das war so gekommen. Tremonti hatte ihnen befohlen, im Geräteschuppen aufzuräumen, aber nach einiger Zeit hatten sie bemerkt, dass er mit dem Auto weggefahren war. Alle paar Tage fuhr er ins Dorf, um, wie er sagte, Besorgungen zu machen und seinen Honig und den selbstgebrannten Schnaps zum Verkauf anzubieten. Mara und Andrea blieben dann immer allein zurück. Sie hatten den Hof, seit sie bei ihm waren, noch nie verlassen dürfen.
Während seiner Abwesenheit genossen sie die kurze, sorgenfreie Zeit. Sie sangen Lieder, wuschen sich ausgiebig am Brunnen, erzählten sich erfundene Geschichten oder spielten „Häschen in der Grube“. Manchmal wünschten sie, er würde für immer wegbleiben. Doch er kam jedes Mal zurück, meist schlecht gelaunt und betrunken.
Auch gestern war es so gewesen. Erst hatten sie gespielt, danach Blumen gepflückt, bis Andrea einem Eichhörnchen nachrannte. Sie sahen ihm entzückt zu, wie es von Ast zu Ast sprang und schließlich in der Baumkrone verschwand. Mit dem Kopf im Genick drehten sie sich im Kreis, bis sie lachend zu Boden sanken. Singend und hüpfend zogen sie umher und entdeckten viel Neues im Wald. Sie liefen einen breiten schwarzen Weg entlang, ohne zu überlegen, woher sie gekommen waren und in welcher Richtung ihr Hof lag. In der Ferne konnten sie sogar ein anderes Haus sehen und ein Auto fuhr an ihnen vorüber, dessen Fahrer sie seltsam anstarrte.
Das hatte sie überrascht innehalten lassen. Erst da hatten sie sich umgeschaut, ratlos. Sie hatten sich verirrt.
Da hielt plötzlich Tremontis Auto vor ihnen. Er stieß sie in seinen Wagen und brachte sie zurück zum Hof.
Er hatte ein explosives Gemüt. Kaum angekommen, setzte es eine Strafe, die sich gewaschen hatte. Erst packte er Andrea und schlug zu, bevor sie reagieren konnte. Sie flog gegen die Scheunenwand und rührte sich nicht mehr. Als er erneut auf sie losgehen wollte, stellte sich Mara ihm in den Weg, um ihn abzulenken. Sie hielt es nicht aus, wenn er auf ihre Schwester losging. Da steckte sie lieber die Schläge ein. Leider gelang das nicht immer. Auch gestern nicht.
Er schlug sie beide grün und blau. Dann sperrte er sie zur Strafe in das Loch, dort war es kalt und eng. Sie konnten sich weder aufrichten noch hinlegen. So hockten sie da, hielten sich in den Armen und trösteten sich.
Lange war nichts geschehen. Als sie endlich Schritte näher kommen hörten, hofften und bangten sie zugleich vor dem, was da auf sie zukam. Tremonti öffnete den Deckel und reichte ihnen ein Stück hartes Brot und eine Tasse Wasser. Da er seinen Rausch ausgeschlafen zu haben schien, flehte Mara ihn an, er möge sie wieder herauslassen.
„Das hättet ihr wohl gerne, ihr Haufen armseliger Knochen. Habe ich euch nicht unter mein Dach genommen, als wäret ihr mein eigen Fleisch und Blut? Und so lohnt ihr es mir, nutzt meine Gutmütigkeit schamlos aus, streunt herum und wollt davonlaufen. Porca miseria! Unfolgsames Gesindel. Drin sollt ihr bleiben, bis ihr verfault. Ich werde euch was lehren!“
Schluchzend hatte Mara versucht zu erklären, dass sie nie vorgehabt hätten, fortzulaufen, und sich verirrt hätten. Doch ihr Betteln war umsonst. Er warf den Deckel wieder über ihren Köpfen zu und ließ sie in der Dunkelheit schmoren.
Eng umschlungen hockten sie weiter da, von Schmerzen durch die verkrümmte Haltung geplagt. Wenn es zu wehtat, versuchten sie, die Position ihrer Glieder zu ändern.
Es verging eine halbe Ewigkeit, bis Tremonti sich erneut am Deckel zu schaffen machte.
„Du da, komm raus! Ich habe Hunger! Essen kochen, und die Hunde brauchen ihr Futter. Nein, der Zwerg nicht! Sie bleibt drin.“
Mara starrte ihn entsetzt an. „Nein. Bitte, Maestro. Andrea ist ganz brav. Bitte! Sie muss mir beim Füttern helfen. Nicht wahr, Andrea? Bitte, bitte, lasst sie raus.“
Doch Tremonti packte Mara am Genick, hob sie hoch und schüttelte sie, dass ihre Knochen klapperten.
„Nein, Maestro“, äffte er sie mit Piepsstimme nach. „Ist das alles, was du kannst? Rede ich Chinesisch? Der Zwerg bleibt drin. Basta! Und wenn du nicht Ruhe gibst, sperr ich dich gleich wieder dazu. Willst du das? Ja? Dann soll es so sein.“
„Nein, bitte, Herr. Seht her, ich komme!“, hatte sie ihn zu beschwichtigen versucht und war zum Haus hinübergelaufen. Nur kurz war sie zusammengezuckt, als der Deckel über Andreas Kopf zugeknallte.
Das war gestern gewesen. Aufgeregt eilte sie in den Schuppen, um sie zu befreien. Sie wusste, dass sie damit Tremontis Zorn erneut auf sich ziehen würde, aber die Sorge um Andrea war grösser als die Angst vor seinen Schlägen.