Читать книгу MONTE - Eveline Keller - Страница 7

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2.

Vor der steil aufragenden Felswand, durch Büsche vor neugierigen Blicken geschützt, konnte man die Häuschen kaum ausmachen. Sie waren aus aufeinandergeschichteten Steinen und Ziegeln erschaffen worden, wie es früher im Tessin üblich war. Die Gebäude waren baufällig und bei den meisten waren die Dächer eingestürzt, so auch beim größten, dem Wohnhaus. Es war mit Efeu und Moos überwachsen, über das klaffende Loch hatte man eine Plache gespannt. An der linken Hauswand suchte ein wackeliger Hühnerstall Halt, der umzäunt war von Armierungseisengittern. Daran wiederum angelehnt folgten die Kaninchenställe. Ein paar Meter entfernt hausten die Ziegen in einer kleinen Steinruine mit ebenfalls kaputtem Dach.

Neben der Hofeinfahrt befand sich ein Hundezwinger, der aus einer Holzwand und einem Blechdach bestand und mit denselben Armierungseisengittern eingehegt war. Umsäumt wurde das Anwesen von einer meterhohen Trockenmauer.

Eine Kinderstimme durchbrach die Stille: „Kleine Andie, spiel mit mir.“

Mara, die ältere der beiden, tanzte um ihre sechsjährige Schwester herum. Diese zeigte lachend ihre Zahnlücke. Sie wollte die Schritte nachahmen und rief übermütig: „Siehst du, ich kann es.“

Doch dann knickte Andreas linker Fuß ein und sie schrie auf. Vor Schmerz und Enttäuschung schossen ihr Tränen in die Augen und sie blieb am Boden liegen.

„Vorsicht! Hoppla. Hast du dir wehgetan?“

Mara war gleich bei ihr und wischte die Kiesel, die sich schmerzhaft in die kleinen Handflächen gegraben hatten, weg. Mangels eines Taschentuchs nahm sie etwas Spucke und verteilte sie wie eine Salbe auf der wunden Stelle.

„So! Gleich ist es wieder gut.“

In solchen Situationen vermisste sie ihre Mama am meisten. Keiner war da, der sie tröstete und sie in den Arm nahm. Allein, auf sich gestellt, weitab von jedem Menschen, fühlten sie sich einsam und verlassen.

Mama hatte oft mit ihnen Ringelreihen getanzt, doch das war lange her. Auf Tremontis Hof sang oder spielte keiner mit ihnen. Und Märchen erzählten sie sich, so gut es ging, selbst. Mara liebte die Geschichte vom Froschkönig. Andrea gefiel Rotkäppchen besser. Ihrer beider Favorit war Hänsel und Gretel, die Erzählung vom Geschwisterpaar, das die Hexe im Wald austrickste. Den Inhalt schmückten sie sich in allen Farben aus und ersannen Fortsetzungen.

Mara hatte sie alle schon getroffen, den Frosch, den bösen Wolf und die Hexe. Manchmal nachts, wenn Andrea sich vor einem Ungeheuer fürchtete und nicht einschlafen konnte, fragte sie: „Wo ist Mama?“

In solchen Momenten erdrückte die beiden der Schmerz über den Tod ihrer Mutter beinahe und sie fühlten sich von der ganzen Welt vergessen. Mara versuchte sie dann zu beruhigen und gab sich überzeugt, dass ihnen Mama aus dem Himmel zusehe. Der Pfarrer hatte ihnen geraten, viel zu beten und ganz brav zu sein. Dann würde Mama ihnen eines Tages helfen.

Auf Andreas Frage, warum Mama sie alleine gelassen habe, erklärte Mara, dass sie jetzt Gott gefallen müsse und deshalb keine Zeit mehr für sie habe. Tröstend kuschelte sie sich dann fest an die Jüngere und deren ängstliches Zittern klang langsam ab. Anschließend erzählte Mara ihr ihre Lieblingsgeschichte: „Es war einmal ein Mädchen mit einem roten Käppchen und ein böser Wolf.“

Es war ein guter Anfang für ein Märchen. Ihre Geschichte könnte man ebenso erzählen. Doch wenn das Leben aufhört, ist man tot. Nur, sie beide waren nicht tot. Obwohl das Leben für sie aufgehört hatte, als ihre Mutter starb.

Nach der Beerdigung, an der der Pfarrer so lange geredet hatte, dass Andrea die Augen zugefallen waren, war ihr Vater mit ihnen weggezogen. Weil er kein Haus besaß, reisten sie von einem Ort zum anderen, bis er ihnen schließlich erklärte, dass sie nicht länger bei ihm bleiben könnten, denn er habe nicht genug Geld, um ein Zuhause für sie alle zu bezahlen. Es reiche gerade nur für ihn.

Daraufhin brachte er sie auf den Hof zu Tremonti. Der Eigenbrötler begrüßte sie freundlich und neckte sie. Er war etwas kleiner und dicker als Papa und hatte ein rötliches Gesicht, dessen untere Hälfte von einem Stoppelbart bedeckt war. Von den wenigen verbliebenen Haaren fielen ihm ein paar blonde Strähnen in die Augen, die er geübt wegstrich. Mit nachlässig eingestecktem Trägerleibchen, das sich über seinem Bauch spannte, servierte er Schokoladenkuchen mit Kakao. Dabei alberte er mit ihnen herum.

Papa war wohl beeindruckt, wie sehr Tremonti seine Mädchen verwöhnte, und ließ sie unbesorgt bei ihm zurück mit dem Versprechen, sie in ein paar Tagen holen zu kommen, wenn sie schön brav seien.

Das war inzwischen lange her. Sehr lange. Seither warteten sie. Mara zählte die Tage. Sie konnte nur bis hundert zählen, und nachdem sie das dritte Mal so weit gekommen war, hatte sie es aufgegeben. Sie verstand nicht, was Papa aufhielt. Und auch Andrea fragte ständig: „Wie lange sind ‚ein paar Tage‘?“

„Für uns nicht lange, über-, vielleicht überübermorgen. Die Sonne geht unter, es wird Nacht, dann morgen und übermorgen“, führte Mara mit ernstem Gesicht aus.

„Und für die Erwachsenen?“

„Für die ist das länger. Für sie sind es viele Tage, weil sie groß sind.“

„Und für Papa? Wie lange sind ‚ein paar Tage‘ für ihn?“

Mara dachte: Ewig! Doch das konnte sie ihr nicht sagen. Sie wusste keine passende Erwiderung und wandte sich bei dieser Frage immer ab, sie blieb der kleinen Schwester die Antwort schuldig.

Ob es vielleicht daran lag, dass sie zu wenig brav waren oder zu wenig beteten?

Nach ihrem ersten Tag auf dem Hof hatten sie schnell die zwei Gesichter von Tremonti kennengelernt. Das böse, zynische trug er, wenn er hier alleine mit ihnen war. Mit dem freundlichen und gewinnenden hatte er sie nur begrüßt, seitdem hob er es sich für Fremde und besondere Anlässe auf. Am ersten Tag hatten sie ihn noch drollig gefunden, am nächsten Tag war damit Schluss gewesen.

Sie mussten lernen, dass ihre volle Aufmerksamkeit seinem Wohlbefinden zu gelten hatte. Ihn zufriedenzustellen, war von nun an ihre Aufgabe. Sie sollten putzen, waschen, kochen und die Tiere versorgen. Da waren die wenigen, ungestörten Momente wie jetzt sehr kostbar.

Ihre Einführungszeit war hart und tränenreich gewesen. Tremonti zeigte niemals Geduld und seine Pädagogik beschränkte sich aufs Schlägeausteilen. Eine Methode, die die Mädchen zwang, sehr schnell zu kapieren. Fiel das Resultat für ihn ungenügend aus, bestrafte er sie, indem er sie ins Loch sperrte, einen in den Boden eingelassenen ehemaligen Futterbehälter. Darin war es so eng, dass kein Platz mehr war, um Angst zu haben.

Seine Hunde liebte Tremonti mehr als die Menschen und ganz bestimmt mehr als Andrea und Mara. Bei der kleinsten Verfehlung wurde er grob. Egal wie sehr sie sich bemühten, sie konnten es ihm oft nicht recht machen. Dann brüllte er herum, sie würden ihm die letzten Haare vom Kopf essen, schüttelte sie oder teilte Kopfnüsse aus. Manchmal war es so schlimm, dass nicht mal mehr Weinen half. Ihre Sehnsucht, dass sich alles wie ein böser Traum auflösen möge, wuchs von Tag zu Tag.

Des Nachts beteten sie, dass Papa sie abholen käme. Doch er kam nicht.

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