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Kapitel 1: Auf eigenen Beinen stehen

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Es war ein Tag vor Lena´s 17. Geburtstag. Ihre Mutter und sie waren damit beschäftigt, Lena´s Koffer zu packen. Es war nur ein kleiner Koffer, denn viele Habseligkeiten hatte Lena nie. Ein paar Kleider, und ein paar Schuhe fanden gerade Platz in ihrem Gepäck. Als die beiden Frauen mit dem Koffer packen fertig waren, sah sich Lena nochmal in ihrem kleinen Zimmer um. Ihr Bett stand in der einen Ecke des Raumes, bedeckt mit einer weißen selbstgenähten Tagesdecke. Obwohl Lena noch eine Nacht in diesem Bett verbringen würde, wirkte es in diesem Augenblick schon etwas verwaist. Das lag wohl daran, dass Lena mit ihren Gedanken bereits in Philadelphia war, wo die Reise am nächsten Tag hin ging. Während Lena erwartungsvoll ihrem Geburtstag entgegen sah, wirkte ihre Mutter eher besorgt. Beim gemeinsamen Abendessen mit ihren Eltern und ihren beiden jüngeren Brüdern Samuel, und Isaac, sah Lena´s Vater seine Tochter mit einem strengen Blick an. So wie er es eben immer tat. Diesmal sagte er zu ihr: " Lena, morgen beginnt für dich eine neue Zeit. Wie du siehst macht sich deine Mutter große Sorgen um dich. Denke daran, dass Gott alles sieht, hört und fühlt. Wenn du unkeusche Gedanken hast, wirst du dich vor Gottes Gericht dafür verantworten müssen. Ich rate dir, dass du jeden Tag um deine Seele betest. Hast du mich verstanden?" Lena nickte nur vorsichtig. Danach aßen alle schweigend ihr Abendbrot. Anschließend räumten die Frauen den Tisch ab, und wuschen das Geschirr. Während dieser Tätigkeiten konnte Lena an nichts anderes denken, als daran, was ihr am nächsten Tag bevor stand. Sie war sehr aufgeregt, aber sie musste dieses Gefühl für sich behalten.

Der neue Tag brach an. Lena stand schon um 5 Uhr früh auf. Sie sah aus dem Fenster, und konnte ein letztes Mal die Männer der Gemeinde dabei beobachten, wie sie sich auf den Weg auf die Felder machten. Diesen Anblick würde sie nun für lange Zeit nicht mehr sehen, wenn sie in ihrer neuen Behausung in Philadelphia morgens aus dem Fenster blicken wird. Samuel und Isaac schliefen noch tief und fest, als sie auf ganz leisen Sohlen, ein letztes Mal nach ihren Brüdern sah. In einer Stunde erst würden sie aufstehen, doch dann ist ihre große Schwester bereits auf dem Weg in die große weite Welt. Lena´s Mutter packte ihr noch ein paar Pausenbrote ein, während Lena alleine am großen Esszimmertisch saß, und frühstückte. Sie musste sich beeilen. In 15 Minuten ist Jakob mit der Kutsche da, die sie zum nächsten Bahnhof etwas außerhalb von Lancaster bringen wird. Lena´s Vater war bereits auf dem Feld bei den anderen Männern, um zu arbeiten. Schade, dachte sich Lena. Sie hätte ihn gerne vor ihrer Abreise nochmal gesehen. Obwohl er immer sehr streng war, liebte sie ihn dennoch sehr. Doch für ein weiteres nachdenken war keine Zeit mehr. Jakob fuhr mit seinem Pferdegespann vor. Der Koffer stand bereits vor dem kleinen bescheidenen Häuschen. Während Jakob sich den Koffer schnappte, und auf die Kutsche lud, verabschiedete sich Lena von ihrer Mutter. Die beiden umarmten sich, und ihre Mutter sagte mit besorgter Stimme: " Bitte bleib anständig, und denk daran was wir dir beigebracht haben. Wenn du dich eingerichtet hast, dann schreib uns bitte." Lena antwortete: "Ja Mutter, das werde ich tun. Ich verspreche es. Lass Vater und meine Brüder schön von mir grüßen. Ich hab euch alle lieb. Ich werde euch nicht enttäuschen." Mit Tränen in den Augen stieg Lena in die Kutsche ein, und Jakob, der schon ungeduldig auf die Abfahrt wartete, gab den Pferden die Sporen. Äußerst rasant fuhren die beiden vom Gelände. Jakob hasste es immer derjenige sein zu müssen, der die jungen Amische zum Bahnhof führen musste. So bekam er immer die tränenreichen Abschiede mit. Das war ihm stets zu viel Gefühlsduselei. Umso mehr war er froh wenn er diese Aufgabe erledigt hatte.

Als sie endlich am Bahnhof ankamen, drückte Lena Jakob an sich, und bedankte sich für die Fahrt. Sichtlich genervt nahm Jakob die Umarmung an, und sagte: " Ja, ja. Ist ja gut. Geh jetzt, sonst verpasst du noch den Zug." Lena lächelte, denn sie wusste, dass hinter dieser harten Schale ein ganz weicher Kern steckte. Er wollte es nur nicht zugeben. Sie stieg von der Kutsche, und sah sich um. Jakob reichte ihr den Koffer runter, und sprach: " Da, dein Koffer. Hey, pass auf dich auf, ok?" Dann fuhr er wieder weg, und ließ Lena am Bahnhof zurück. In ihrer Manteltasche hatte sie das Ticket nach Philadelphia verstaut. Sie holte es heraus, um heraus zu finden, an welchen Bahnsteig sie gehen musste. Während sie ganz vertieft in das Ticket sah, lief sie in zügigen Schritten den Bahnsteig 1 entlang. Plötzlich verspürte Lena einen heftigen Ruck, und sie stieß sich den Kopf. Sie zuckte zusammen, und hielt beide Hände an die Stirn. Als sie wieder aufsah, erkannte sie, dass sie in ein Mädchen mit feuerroten gelockten Haaren, welches ihr entgegen kam, gelaufen war. Auch das Mädchen hielt sich den Kopf. Lena war es sehr unangenehm, und sie entschuldigte sich. Sie fragte: " Oh, das tut mir sehr leid. Hab ich dir sehr weh getan?" Das andere Mädchen fing an zu lachen, und sprach: " Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Das kommt davon, wenn ich statt nach vorne, nur auf mein Ticket schaue. Ich muss unbedingt den Zug nach Phili erreichen." Lena antwortete erleichtert: " Na ja, ich bin auch nicht gerade mit offenen Augen hier entlang gelaufen. Ich fahre auch nach Philadelphia. Und ich suche auch den richtigen Zug." Daraufhin verglichen die beiden ihre Fahrkarten, und stellten fest, dass sie denselben Weg vor sich hatten. Das Mädchen lachte wieder, und sagte: "Na so ein Zufall. Dann haben wir beide das gleiche Ziel. Wollen wir nicht zusammen in ein Abteil sitzen? Ich reise ungern allein. Und so könnten wir uns unterhalten. Mein Name ist Roseanne Connor. Aber alle nennen mich Rosie. " Rosie streckte Lena die Hand entgegen. Lena dachte erst noch einen Moment nach, aber dann dachte sie, was soll´s. So wäre sie auch nicht ganz allein. Und sie würde schon jemanden kennen, bevor sie in Philadelphia ankam. Sie gab ihr also die Hand, und antwortete: " Ok, ich bin einverstanden. Mein Name ist Lena." Als die beiden endlich ihren Zug gefunden hatten, setzten sie sich in ein leer stehendes Abteil. Lena war etwas zurückhaltend, aber Rosie war genau das Gegenteil. Sofort und ohne Umschweife fing sie an zu erzählen wo sie herkam, und was sie in Philadelphia tun wollte. Sie war im selben Alter wie Lena, aber was Rosie in ihrer Vergangenheit erlebte, kannte Lena nicht. Rosie war so etwas wie eine Vagabundin. Es hielt sie nie lange an einem Ort. Sie hatte keine Familie. Um sich die Fahrkarten zu verdienen, jobbte sie mal hier und mal da als Kellnerin. Sie verdiente ihr Geld immer ehrlich. Das war so ein Motto von ihr. Sie wollte immer frei sein, aber nie kriminell. Sie schaffte es immer wieder, für eine kurze Zeit irgendwo Fuß zu fassen. Solche Menschen nennt man auch Überlebenskünstler. Und so ein Mensch war Rosie. Lena hörte ihr die ganze Zeit über nur zu, und war beeindruckt, was Rosie alles erlebt hatte. Ihr gefiel auch diese erfrischende Art dieser jungen Dame. Als Rosie plötzlich fragte, warum Lena unterwegs war nach Philadelphia, stockte Lena der Atem. Was sollte sie nun sagen? Was würde Rosie von ihr denken, wenn sie die Wahrheit sagt? Doch lügen konnte sie auch nicht, denn das ließ ihr Glaube an Gott nicht zu. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu sagen: " Ich bin Amisch, und ich gehe nach Philadelphia um mich selbst zu finden. Das nennt man bei uns rumspringa. Ich versuche mich in dieser euren Welt zurecht zu finden." Daraufhin folgte eine Minute des Schweigens. Dann sagte Rosie: " Was? Du bist Amisch? Wie cool ist das denn?" Lena war mehr als nur erstaunt über Rosie´s Reaktion. Rosie fragte weiter: " Stimmt es wirklich, dass ihr noch so lebt wie vor 100 Jahren, so ohne moderne Technik?" "Ja", antwortete Lena. Rosie war sichtlich begeistert von der Lebensweise der Amisch. Sie sagte: " Das muss Freiheit sein."

So ganz konnte Lena die Begeisterung von Rosie nicht teilen. Lena erzählte ihr von den langen und sehr harten Arbeitstagen. Mit Romantik hatte dies in ihren Augen nicht viel zu tun. Die beiden Frauen waren nun schon fast 2 Stunden unterwegs, und sie hatten noch eine Stunde Fahrzeit vor sich. Rosie lehnte sich in ihren Sitz zurück, und schloss für einen Moment die Augen. Lena, die ihr gegenüber saß, sah sie an, und dachte sich, was für eine außergewöhnliche Frau Rosie doch ist. Irgendwie fühlte sie sich zu ihr hingezogen. Rosie bemerkte, dass sie von Lena beobachtet wird, und öffnete ihre Augen wieder, und sah sie an. Sie fragte: " Hey Lena, was hältst du davon, wenn wir in Phili uns eine Bude teilen? Ich hab bereits eine Wohnung dort angemietet. Du kannst mit einziehen, wenn du willst. Und wir könnten uns die Miete teilen. So sparen wir beide Geld. Was hältst du davon?" Lena staunte, und antwortete: " Du willst, dass ich bei dir einziehe? Du kennst mich doch noch gar nicht. Außerdem hab ich eine Unterkunft in einem Hostel bereits organisiert." Rosie rümpfte die Nase und sagte: " In einem Hostel? Da willst du wohnen? Wo du mit mehreren fremden die Toilette teilen musst. Wohne doch bei mir. Du hast dort dein eigenes Zimmer, und auch ein eigenes Bad. Außerdem bin ich nicht gern allein. So könnten wir immer nette Gespräche führen, und ich kann dir auch was von meiner Welt zeigen. Du würdest mir damit auch einen Gefallen tun. Komm schon, gib dir einen Ruck. Und vertraue mir. Ich beiße schon nicht." Lena dachte noch kurz darüber nach. Das Geld für das Hostel könnte sie sich sparen, und sie müsste sich nach einer Woche nicht nach einer neuen Bleibe umsehen. Als ihr diese positiven Aspekte des Vorschlages bewusst wurde, war sie damit einverstanden. Als Rosie die Zustimmung von Lena hatte, lehnte sie sich wieder zufrieden zurück, lächelte und sagte: " Na, also. Dann ist es abgemacht. Wir gründen eine Wohngemeinschaft." Sie atmete noch einmal tief durch, und dann schlief sie ein. Schlafen, dachte Lena, das ist eine gute Idee. Daraufhin kuschelte sich auch Lena in ihren Sitz, und schloss langsam die Augen, und schlief dann ein.

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