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Kapitel 1
ОглавлениеDIE AHNENFRAU
E. W. Schreiber
Sues Atem ging schwer. Wie sollte sie sich entscheiden? Seit mehr als einem Jahr lag sie mit dem Gedanken schwanger zu gehen. Weit fort. Fort von ihrem Zuhause. Fort aus Österreich, fort von Klagenfurt. Sie wollte nicht flüchten. Dazu gab es keinen Grund. Mit ihrem zehn Monate alten Sohn Lee im Arm lag sie ausgestreckt in ihrer Hängematte, ihr Blick auf den weitläufigen Europapark gerichtet, der sich in seinem üppigen Grün zum Wörthersee hin streckte, überlegte sie angestrengt wie sie sich nun endlich entscheiden wollte. Ihr Herz schrie nach der Ferne, nach Weite und dem Geschmack nach Freiheit. Aber ihre Vernunft schlug zu hohe Wellen. Noch. Sie war zu jung um jetzt schon aufzugeben, zu begierig nach dem Leben, nach der Liebe, die sie verloren hatte, kurz nachdem sie mit Lee schwanger geworden war. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass ihr eine solche Chance geboten werden würde wie die, die sie von Stean erhalten hatte. Seit über einem Jahr schon lag er ihr damit in den Ohren, ihm nach Polynesien und Mikronesien zu folgen. Es wäre ihre Chance, sagte er. Sie könnte ganz neu beginnen. Ein Leben fernab aller Normen und Richtlinien, wie sie es kannte, zu führen. „Komm schon, du hast alles was du brauchst und das Zeug dazu, eine der ersten Spitzengreaderinnen weltweit zu sein“, hatte er gesagt und dass ihr untrügerischer Blick ihm viel Geld einbringen könnte. Sue erinnerte sich an Steans souveränen Gesichtsausdruck, während er zärtlich triumphierend seinen Arm um ihre Schultern legte. „Du, Lee und ich, wir drei könnten eine Familie sein, wir könnten zusammen sein, die Welt sehen, von der du so gut wie noch gar nichts gesehen hast, könntest dich finanziell in absoluter Sicherheit wiegen, dir ein Standbein schaffen, das dich endlich auch finanziell von allen Belastungen befreit. Du weißt, Sue, du hast ein gewichtiges Wort mitzureden in meinem Konzern, seit Sizilien.“ Er zog sie sanft an sich. „Und zudem, zudem liebe ich dich! Es gibt in ganz Europa keine Frau, die so perfekt zu mir passt wie du!“ Sue hörte nur Sizilien, Palermo, Catania. Diese Orte schwappten wie wilde Wellen an ihre Seele, wenn sie nur ihre Namen hörte. Zu oft schon war sie dort gewesen. Gemeinsam mit Aaron, ihrem verstorbenen Freund und Vater ihres Sohnes. Sizilien. Sie schwelgte in Erinnerung zurück an jene Orte, an die heißen Sommernächte, die salzigen Küsse auf ihrer braungebrannten Haut. Sizilien. Ein Land des Abschieds und ein Land, der nach Aarons plötzlichem Tod einen Neubeginn ankündigte. Ein Neubeginn durch Stean, der sie, ohne es zu wissen, genau an die gleichen Strände und Hotels geführt hatte, in denen sie ihre ausgedehnten Urlaube mit Aaron verbracht hatte.
Wie erstarrt war sie, als sie plötzlich vor der Cala Rossa Küste stand, die sich vor ihr ins weite Meer erstreckte. Wie oft schon war sie mit Aaron die rote Felsenküste entlang mit dem Kajak gepaddelt. Sue wusste wie sie schmeckte, die Küste, sie hatte sie gekostet, das Salz auf ihren Lippen. Und wie sie schmeckte würde sie niemals vergessen. Sie wusste wie es sich anfühlte, die steilen Klippen nach oben zu klettern, nur um im Anschluss mit einem wagemutigen Kopfsprung ins Meer abzutauchen. Sue kannte nicht nur die rote, sondern auch die weiße Küste, ein Insidertipp Einheimischer, mit denen sie durch Aarons Verwandtschaft eng und liebevoll verbunden war. Kein Tourist hatte diesen aus reinem weißen Ton bestehenden Küstenabschnitt je zu Gesicht bekommen. Er war Tabu. Zudem gab es in all den Jahren, in denen sie mit Aaron in Sizilien ihre Urlaube verbracht hatte, kaum Tourismus. Aber auch das hatte sich schnell geändernt, nachdem, was sie mittlerweile so in hiesigen Tourismusbüros in den Auslagen an Angeboten hängen sah.
Sue erinnerte sich an die schönen Zeiten, die sie mit Aaron dort verbracht hatte, und als Aaron nicht mehr war und Stean wie aus heiterem Himmel kurz nach Aarons Tod in ihr Leben getreten war, legte sich Sizilien wie eine Göttin erneut um ihre Seele. Stean hatte ihr die Insel aus einer anderen Perspektive gezeigt. Dort, wo sie früher nächtens im sanften Mondlicht die Tavernen der hiesigen Fischer besuchte, in denen sie kulinarischen Genüssen frönte, hatte ihr Stean mit seinem Business, das ihn mit den Fischern vor Ort verband, noch einmal mehr und tiefer das sizilianische Herz dargelegt. Sie glaubte bereits alles über dieses wundervolle Land zu wissen. Doch mit Stean, der seinen Finger in ihre Wunde des Verlustes legte, schwemmte das sizilianische Salz des Meeres neue Möglichkeiten in ihr Leben. Es war erstaunlich, wie sehr sie verbunden war mit diesem Land. Sue dachte, sie würde es nie mehr wiedersehen. Und dann kam Stean, bisher immer noch ihr bester Freund und Vertrauter, der sie eines besseren belehrte. „Du kannst vor der Vergangenheit nicht davonlaufen“, hatte er zu Sue gesagt, „und wenn es die Möglichkeit für dich gibt mich nach Sizilien zu begleiten, sofern du das auch möchtest, dann nimm die Chance wahr und verabschiede dich gebührend von dieser wundervollen Insel.“ Das hatte sie getan, gemeinsam mit ihrem damals gerade mal zwei Monate alten Sohn. Dass Stean sie genau an jene Plätze führte und seine Geschäftskontakte gerade dort hatte, an denen sie in Erinnerung so sehr hing, hatte sie, aber auch Stean selbst, nicht wissen können, und sie in großes Erstaunen versetzt. Irgendwo, so dachte sie damals, muss es noch einen Gott geben, der das hier gerade regelt, für mich. Es waren zu viele Zufälle zusammengekommen, um noch an Zufälle zu glauben. Der Weg hatte sie zu Stean geführt und Stean hatte sie zurück an ihre schönsten Erinnerungsorte geleitet, um sich zu verabschieden, aber auch, um neu zu beginnen.
Sie war hineingerutscht in Steans Business, als sie mit Lee, ihrem Sohn, in einer direkt am Meer gelegenen Fischfabrik, die im Obergeschoss jenes Restaurant führte, in dem sie so oft mit Aaron gespeist hatte, Thunfische in verschiedensten Größen erblickte und den Fischern bei ihrer Arbeit zusah. Steans Aufgabe war es, die Fleischqualität der Thunfische zu bestimmen und die beste Qualität an seine Kunden in Übersee zu verschiffen. Zu jenem Zeitpunkt gab es in ganz Europa niemanden, der Thunfische auf ihren Fettgehalt und ihre genaue Klasse bestimmen konnte. Thunfisch war Thunfisch, ganz gleich, welcher Klasse der Fisch auch angehörte. Die Kunst des Greadens erlernte Stean in Polynesien. So lernte Sue das Greaden von Thunfischen, indem sie die Farbe und den Fettgehalt des Fleisches bestimmte und Stean dabei zusah und ihn in der Farbbestimmung beriet. „Männer“, erklärte Stean einmal, „hätten große Probleme mit der Unterscheidung von Rot- und Brauntönen.“ Vor allem im pazifischen Raum wären viele der Männer farbenblind. Frauen hatten in dieser Domäne nichts verloren, weder in Europa noch in anderen Kontinenten, daher wäre Sue, sofern es sie interessierte, mit einer interessanten Tätigkeit als erste Frau und enorm hohem Gehalt seine Idealbesetzung. Es war neues Terrain für sie. Spannend, aber vor allem aufregend. Stean hatte sich auf den „humanen Fischfang am Haken“ und nicht den Massen- und Netzfischfang spezialisiert. Sein riesiges Businessnetzwerk spannte sich um die ganze Welt. Seine Kunden allesamt High-Society-Restaurants und Spitzenköche, mit Anspruch auf Eins-A-Spitzenqualität. Das Gold des Meeres, das sich nur wenige leisten konnten. Thunfische aus dem Mittelmeer waren in Übersee heiß begehrt und umgekehrt.
Stean war ein begnadeter Networker und Geschäftsmann, der den Handel untereinander möglich machte. Die enorme Ähnlichkeit zu Aarons Tätigkeit, der ebenso wie Stean begnadeter Networker und Geschäftsmann war, verblüffte Sue. Aaron hatte im Gegensatz zu Stean im oberen Management in der Erdölbranche zu tun gehabt und diese Tatsache erschreckte sie doch einigermaßen. Denn für beide Männer spielte Geld keine Rolle mehr. Sue war irgendwie mit beiden Männern, die sich, wie sich später herausstellte, in ihrer Kindheit gut gekannt hatten, schicksalhaft verbunden, und sich gegen das Schicksal aufzulehnen, so erkannte Sue sehr schnell, konnte nur in die Hose gehen.
So lag sie in ihrer Hängematte auf ihrem kleinen Balkon in ihrer winzigen Wohnung, in der sie mit ihrem kleinen Sohn lebte und grübelte darüber wie sie sich zum Wohle ihres Kindes, aber auch zu ihrem Wohle, entscheiden sollte. Stean hatte ihr vor wenigen Wochen, nachdem er aus Mikronesien zurückgekehrt war, ein Ultimatum gestellt. Er wollte Lee adoptieren und nach einem längeren Aufenthalt in Mikronesien Sue auf Fidschi heiraten. Danach könnten sie in New York in seiner soeben neu erworbenen Immobilie dauerhaft sesshaft werden. Sue wusste wie viele Frauen sich ein solches Märchen für sich wünschen würden, für sie aber war Stean bereits der zweite Millionär und nichts, was er ihr mit Geld anbieten konnte, vermochte sie mehr zu beeindrucken. Geld und Macht, was für eine Farce. Aaron hatte durch diese Komponente sein Leben gelassen und sie selbst beinahe mit in den Tod gerissen. Alles, was Sue beeindrucken konnte, war das Leben, die Liebe, die sich allerdings stets für Geld und Macht zu verflüchtigen schien und den Wunsch nach wahrer Hingabe an das Leben selbst. So erzählte Stean Sue von Mikronesien, einem matriarchal geführten Inselstaat, in den er zurückzukehren gedachte. Auch erklärte er Sue, dass er in Mikronesien als Mann nicht als geschäftstüchtig angesehen werden würde, und Sue ihm bei seinen Geschäften vor Ort eine wichtige Partnerin wäre. Nicht zuletzt erzählte er von Pedro, seinem Freund, und von den Frauen dort, die diesen zum Gouverneur des Inselstaates bestellt hatten, um mit den Amerikanern auf patriarchaler Weise verhandeln zu können. Sue grinste in sich hinein, als sie daran dachte, dass Makaken-Äffchen es nicht anders hielten mit ihrem männlichen Oberhaupt. Die Weibchen hatten die Macht und suchten sich das sozialste Männchen aus, um die Führung zu übernehmen. Im Hintergrund aber musste das Männchen den Weibchen gehorchen. Das Männchen war nur der Oberste aller Männchen und jedes Weibchen lag in ihrem Rang ober ihm. Sollte das Männchen versagen, indem es gewalttätig wurde, wurde es von den Weibchen zu Tode gebissen. Was für eine Vorstellung. Sue drückte Lee fester an sich. Sie hatte nur ihn. Nach Aarons Tod war ihr niemand mehr geblieben. Ihre Eltern starben, als sie noch ein Kind war und dem Kinderheim, in dem sie aufgewachsen war, weinte sie keine Träne nach. Sie war allein mit Lee und wünschte sich nichts sehnlicher als ein neues Leben. Eine Wiedergeburt sollte es sein und mit Mikronesien im Hintergrund, auch wenn ihr noch gar nicht bewusst war, was gelebtes Matriarchat für sie bedeuten könnte, könnte sie ein Abenteuer erleben. Abends, nachdem sie ihr Kind liebevoll gebadet, gefüttert und schlafen gelegt hatte, legte sie sich müde in ihr Einzelbett. Aarons Bild hing noch immer an der Wand. Sie hatte es geschossen kurz bevor er sich entschieden hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Müde sah er aus, abgekämpft und der Welt völlig entrückt. Thema eines ihrer letzten Gespräche, die sie miteinander geführt hatten, war die Unmöglichkeit für ihn sich noch länger in den Spiegel blicken zu können. Er, Aaron, der seit er denken konnte an nichts anderem interessiert gewesen war als an Zoologie, musste sich nach dem Willen seiner patriarchalen Familienstruktur richten und Jura studieren. Es brach ihm das Herz. Und nun könnte er sich nicht mehr im Spiegel betrachten, weil er für all das Geld, all die Macht, die er firmenintern bereits als Generaldirektor-Stellvertreter in Österreich und zukünftiger Generaldirektor Italiens hatte, seine Seele verkauft hatte. Wofür? Er war immer ein Naturliebhaber gewesen. Und jetzt? Jetzt musste er die größte Scheiße verkaufen, die ihm je untergekommen wäre. Alles was er liebte verkauft, verhökert an den Meistbietenden. Das war schwer zu ertragen. Die ganze Sache war ihm um die Ohren geflogen, hatte ihn letzten Endes erschlagen.
Sue betrachtete den gebrochenen Aaron und Vater ihres Kindes, das er nicht haben wollte. Sein immenser Drogenkonsum und die dazukommende bipolare Störung hatten ihm den Rest gegeben. Sie hatte eine Therapie gemacht, nach Aarons Tod, und sich schleunigst auf die Geburt ihres Kindes vorbereiten müssen. Es blieb ihr nicht all zu viel Zeit, seinen Tod und den Wahnsinn, der in ihrer Beziehung gelegen war, ausgiebig zu betrauern. Sie hatte Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ein Kind, das ihrem Leben nach all dem Tod und der Verwüstung, die Aaron in ihr verursacht hatte, in ihr Leben getreten war. Das Leben bahnte sich einen neuen Weg. Und der Tod musste eben warten. So auch die Trauer. Noch in derselben Nacht traten ihr Tränen in die Augen. Wie sollte es weitergehen? Sie war durcheinander. Zerstört. Und doch fühlte sie tief in sich ein Gefühl von Klarheit. Intuitiv erfasste sie die Bedeutung ihrer momentanen Lebenssituation, dass es eine Chance war und dass es ein inneres Rufen gab, das sie fortzog. Doch welchem Weg sollte sie folgen, welcher sollte ihre Bestimmung sein? Diese Antworten vermochte sie sich nicht zu geben. Kurz bevor Sue einschlief, bat sie den Himmel um Führung, um einen Traum, um irgendetwas, das sie dabei unterstützte die richtige Entscheidung zu treffen. Und noch mitten in der Nacht wachte sie schweißgebadet auf. Ihr Blick richtete sich verschlafen auf die mit einem Schmiedeeisengitter verzierte Balkontür, in deren Mitte eine Frau zu stehen schien. Ihr Blick war der aus einer anderen Welt. Sue rieb sich die Augen, irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht schlief, sondern dass diese Frau inmitten des Gitters real war, eine Erscheinung. Sue starrte verloren auf die Frau und ihre eigentümliche Frisur, die zu einem lockeren Dutt hochgesteckt war. Dann änderte sich das Alter der Frau. Von jung bis ganz alt. Ihr Zeigefinger lockte und gab Sue zu erkennen, dass sie ihr folgen sollte. Alsdann wie im Zeitraffer löste sie sich aus ihrer Form und verschwand. Sue wusste nichts anzufangen mit dieser Erscheinung, oder war es doch nur ein Traum gewesen? Am Morgen erwachte sie mit einem untrüglichen Gefühl mit Stean gehen zu müssen. Irgendetwas war heute Nacht geschehen, denn Sue fühlte sich, als wäre ihre Intuition, die sie so lange Zeit im Kinderheim und auch später am Leben erhalten und die sie als verloren geglaubt hatte, zurückgekehrt. Nun spürte sie eine klare unmissverständliche Botschaft in ihrem Innersten, die sie dazu veranlasste diesem Ruf ins Matriarchat zu folgen. Sie würde dann ja sehen, ob sie mit Stean wirklich zusammen bleiben und heiraten wollte, oder aber, ob sie wieder zurückkehren würde. Ihre Entscheidung war getroffen.
Kein Verstand, der sie noch Lügen strafte oder sonst irgendwie negativ beeinflussen konnte, störte in den nächsten Wochen die Vorbereitungen, die sie und Stean für ihren ausgedehnten Trip trafen. „Du wirst nicht all zu viel an Klamotten benötigen, Sue“, lächelte Stean, der ihr dabei zusah wie sie fein säuberlich ihre Koffer und Kisten zusammenpackte. Der kleine Hausstand, den sich Sue nach Aarons Tod wieder zusammentragen konnte, verschwand schön langsam in den New-York-Kisten, den Rest, den sie nicht verschiffen konnte, übergab sie einer Hilfsorganisation. Viel war es nicht, was sie ihr eigen nennen konnte, aber wie Stean schon sagte, sie brauchte nicht so viel. Stean gefiel Sues Selbstbestimmtheit, ihre Genügsamkeit. Zumal er ja wusste, dass Sue, als sie mit Aaron zusammen war, stets ihr eigenes Geld verdient hatte. Abhängigkeit war Sue ein Graus, selbst wenn sie sich das Arbeiten hätte sparen können, aufgrund finanzieller Absicherung und Reichtum seitens des Mannes. Nach Aarons Tod hatte Sue alles verloren. Er lebte auf großem Fuß, keinen Groschen hatte er sich zur Seite gelegt und als es um den Nachlass ging war nichts mehr vorhanden gewesen. Langjährige Lebensgemeinschaften wurden im Erbrecht nicht berücksichtigt und so nahm sich Aarons Familie den letzten Rest, der noch übrig geblieben war, und setzte Sue förmlich auf die Straße. Nichts Neues für Sue. Wie oft schon war sie allein und verlassen dagestanden, niemand, der sich um sie kümmerte, keiner mehr da, dem es wichtig gewesen wäre, ob sie im Leben erfolgreich wurde oder strauchelte. Ihre Kindheit war hart und grausam gewesen. Als Mädchen in einem patriarchal geführten, christlichen Land hatte sie es schwer gegen den katholischen Fanatismus, der im Heim praktiziert wurde, anzugehen. Mit vierzehn Jahren war sie dann ausgezogen und mit siebzehn Jahren ließ sie sich von den staatlichen Behörden für volljährig erklären, packte ihre sieben Sachen und verschwand mit Aaron nach Wien. Eigentlich war es eine Flucht gewesen, damals. Eine Flucht vor ihr, Lea und vor sich selbst. Lea. Sie war gerade dabei ihre wenigen Fotos, die sie besaß, in einer Mappe zu ordnen, als sie auf Leas Bildnis stieß. Wie sehr hatte sie sich in diese Frau verliebt. Aber was nicht sein durfte, wurde vehement verdrängt. Sie fühlte sich als Sünderin, als eine von Gott verstoßene, eine, die ihm nicht gefällig war, und zur Strafe, so wie sie meinte, hatte er ihr Lea geschickt. „Lea“, zärtlich nahm sie ihr Bild an sich und drückte es an ihr Herz. Sieben Jahre waren es nun her, seit sie Lea das letzte Mal gesehen hatte. Dazwischen lagen eine sehr anstrengende, sehr verletzende, heterosexuelle Beziehung und die Geburt ihres Kindes. Und nun, nun ging sie fort. Wahrscheinlich für immer. Gemeinsam mit Stean.
„Irgendwie wiederholt sich alles in meinem Leben“, überlegte Sue, während sie sich noch einmal umschaute und ihr kleines Zimmer mit den Augen auf Überbleibsel hin durchsuchte, die sie noch nicht verpackt hatte. Lee hatte sie für ein paar Stunden zu Steans liebevollen Eltern in Obhut gegeben. Wie sehr wünschten sie, Sue würde ihren Stean ehelichen und ihnen Lee als Enkelkind schenken. Aber Sue ging das alles ein wenig zu schnell. Sie mochte Stean, ja sie liebte ihn sogar, aber sie liebte ihn wie einen Bruder, nicht wie einen Geliebten. Und Stean, ja er war ein fürsorglicher liebevoller Mann, der sie noch nie zu irgendeiner Handlung gezwungen hatte, die sie nicht ausführen wollte. Ihr Freiheitsdrang war ihm wichtig. Würde sie ihn verlieren, so wäre sie nicht mehr die Sue, in die er sich verliebt hatte. Unkompliziert, natürlich.